Der Tunnel

Sanft rollten die schweren Räder des Zuges über die eisernen, nur für ihn angefertigten, Gleisen. Die kühle Morgenluft teilte sich an der Nasenspitze des Zugs und preschte am restlichen Gerüst vorbei.

Eine gedrückte Stimmung lag über den Passagieren des Zugs. Eine kleine, dickliche Frau saß an einem Fenster gelehnt und schlief. Sie besetzte allein einen der vielen Viersitzer im Waggon.

Mit ihr waren nach 12 weitere Passagiere im Abteil. Sie alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Ein Mann im mittleren Alter starrte müde auf seinen aufgeklappten Laptop. 4 andere waren mit ihrem Handy beschäftigt und der Rest hörte entweder Musik, schaute aus dem Fenster oder schlief, wie es auch die Frau beim Vierer tat.

Neben ihnen rauschte die bewaldete Landschaft vorbei. Ein dicker Nebelschleier lag über dem Wald neben den Schienen.

Es war 4 Uhr früh und wo der Zug hinfuhr, blieb fürs erste ein Geheimnis. Nicht einmal die schlafende Frau am Fenster wusste, wohin sie fahren würde. Sie hatte den erst besten Zug genommen und war eingeschlafen.

Ihr Name war Samantha, doch ihre Freunde hatten sie vor langer Zeit mit Sam angesprochen. Jetzt hatte sie keine Freunde mehr. Sie war allein und das schon seit einer Ewigkeit.

Der Zugführer ließ ein lautes, dröhnendes Hupen los, welches Sam sofort aus ihrem friedlichen Schlaf rieß. Müde rieb sie sich die Augen und schaute blinzelnd aus dem Fenster. Ein kurzer Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk verriet ihr, dass sie keine halbe Stunde geschlafen hatte.

Der Zug erreichte einen Tunnel. Außerhalb des Zuges wurde es stockdunkel. Eine plötzliche Unruhe legte sich über die restlichen 12 Fahrgäste. Sam schaute sich irritiert im Waggon um.

Ein kleines Mädchen saß nicht weit von ihr entfernt ganz allein. Ihre Augen waren vor Schreck aufgerissen. Samantha konnte sich nicht erklären, woher die plötzliche Unruhe herrührte. Sie fragte sich, warum ein so kleines Kind, so früh am Morgen und ganz allein in einem Zug saß.

„Hey Süße, wo sind deine Eltern?", rief Sam über die Sitze hinweg zum Kind hinüber. Keine Reaktion. Das Mädchen starrte mit seltsam leeren Augen den Gang zwischen den Sitzen entlang. Kein einziges Mal, hatte Samantha sie bis jetzt blinzeln sehen.

Ein Schauder lief Sam über den Rücken. Der starre Blick des Kindes machte ihr Angst. Irritiert sah sie sich im Waggon nach weiteren Passagieren in ihrer Sichtweite um.

Der Zug hatte immer noch nicht den Tunnel verlassen. Es war schwarz außerhalb des Abteils und nur die Innenbeleuchtung des Zuges war für das Licht verantwortlich.

Samantha erhob sich ein wenig, um Sicht auf einen anderen Fahrgast zu erhaschen. Ein paar Sitze hinter dem kleinen Mädchen saß eine große magere Frau. Sie musste Mitte 20 sein. Sie war dünn, viel zu dünn. Die junge Frau hatte den gleichen starren Blick.

Je mehr Fahrgäste Sam entdeckte, desto mehr beunruhigte sie der versteinerte Gesichtsausdruck, den sie alle miteinander teilten. Es wirkte fast so, als wären alle außer ihr in einen tranceartigen Zustand verfallen und das, seit der Zug durch den Tunnel rauschte.

Ein paar Sitze weiter erblickte die Frau einen Mann. Er hatte seinen Laptop vor sich aufgeklappt. Seine Augen frassen sich in den grellen Bildschirm ohne für eine Sekunde zu zucken.

Panik übermannte die Frau. Sams Atmung verschnellerte sich. Ihr Herz pochte mit kräftigen Schlägen gegen ihren Brustkorb, sodass es schmerzte. Ihre Handflächen wurden feucht vor Schweiß, die Samantha aus Nervosität aneinander rieb.

Einige Minuten vergingen, Samantha hatte nicht auf die Uhr geschaut, doch der Tunnel nahm immer noch kein Ende. Es musste bereits eine halbe Stunde vergangen sein.

Samantha hielt es nicht mehr aus. Sie sprang von ihrem Sitz hoch und begann durch die Reihen zu laufen. Niemand schenkte ihr Beachtung. Alle sahen mit diesem eisigen starren Blick stur gerade aus.

Sam rüttelte am Mann mit dem Laptop. Keine Reaktion. Seine Haut war blass und leichenweiß. Unabsichtlich berührten ihre Finger den nackten Unterarm des Mannes, da er ein T-Shirt trug. Erschrocken wich sie zurück. Der Mann war eiskalt.

Mit großen Augen stolperte sie ein paar Schritte zurück. Ihr Atem ist flach und unruhig. Eine Panikattacke bahnte sich an. Verzweifelt schnappte sie nach der lebensnotwendigen Luft.

„Hallo? Was ist hier los?", schrie sie panisch. „Shhh", drang es vom anderen Ende des Waggons zu ihr hervor. Hoffnungsvoll drehte Sam sich in die Richtung von der sie das Geräusch vernommen hatte.

„Kommen Sie", hörte sie die gleiche Stimme flüstern. Leise ging die Frau der männlichen Stimme nach. Dann stand sie vor einem Mann im mittleren Alter, der allein auf einem Zweier saß.

Er rutschte einen Platz weiter, sodass sich die Frau neben ihn setzen konnte. Sam beäugte den fremden Mann aufmerksam. Seine Augen suchten den Waggon ab. Der Mann strahlte eine gewisse Unruhe aus, aber er war bei Verstand. Er trug einen schwarzen langen Mantel und ein dunkler Hut lag auf seinem Aktenkoffer zwischen seinen Beinen. Er hatte schütteres graues Haare und einen Drei-Tage-Bart.

„Was ist hier los? Warum endet der Tunnel nicht?", fragte Samantha nervös nach. „Shhh", wies sie der Mann darauf hin, ihre Stimme zu senken. Sam nickte verstehend.

„Wie ist Ihr Name?", wollte der Mann wissen. „Samantha", erwiderte die dickliche Frau leise. Der dunkel gekleidete Mann nickte.

„Sam, hören Sie mir zu. Der Tunnel wird nicht mehr enden. Er ist unendlich. Die anderen Menschen haben nichts, was sie zurückhält. Sie haben nichts zu verlieren. Deshalb konnten sie sich dem Nichts hingeben. Sie laufen aber vor etwas davon. Je schneller Sie das verarbeiten, desto schneller können Sie den Zug verlassen", erklärte der Mann.

Samantha konnte sich nicht erklären, warum der Mann sie mit „Sam" ansprach. Sie hatte es ihm nicht angeboten. Das hatte sie nur ihren engsten Freunden. Wie konnte der Fremde davon wissen?

„Ich verstehe nicht", kam es leise aus Sam. „Das müssen Sie auch nicht. Sie müssen nur loslassen. Was auch immer Sie in ihrer Vergangenheit beschäftigt und nicht vergessen lässt, Sie müssen es loslassen, wenn Sie hier je wieder heraus wollen."

Das Öffnen einer schweren Metalltür erklang.

„Sie müssen sich zurück an Ihren Platz setzen. Schnell! Der Schaffner kommt. Er kommt um seine Fahrgäste zu kontrollieren. Nicht den Ausweis, sondern die Augen. Versuchen Sie ihren Blick so starr und unbewegt wie möglich zu halten!", Angst spiegelte sich in den Augen des Mannes wider.

Ohne zu zögern tat Sam, was der Fremde ihr befohlen hatte. Sie hatte kein andere Wahl, sie musste ihm vertrauen. Zügig sprang sie auf und lief zurück zu ihrem Vierersitzplatz.

Sie lockerte ihre Schultern und versuchte den starren Blick des kleinen Mädchens ein paar Sitze weiter nachzuahmen.

Im nächsten Moment war der Schaffner durch die schwere Tür in den Waggon getreten. Mit langsamen schweren Schritten durchquerte er den schmalen Gang. Vor jedem Fahrgast blieb er prüfend stehen. Sam hörte hinter sich jedes Mal das Verstummen seiner Schritte. Einige Sekunden verweilte er dort, eher er seinen Weg fortsetzte.

Der Schaffner kam dem Vierer, auf dem Sam saß, immer näher. Sams Atem stockte, als er neben ihr zum Stehen kam. Auch bei ihr verweilte er einige Sekunden. Samantha spürte den bohrenden Blick des Schaffners. Doch sie blieb standhaft.

Schließlich schritt er weiter zum kleinen Mädchen. Vor ihr blieb er lange stehen. Sehr lange. Dann passierte es. Mit einem Ton, schärfer als jedes Messer, forderte er das Mädchen zum Aufstehen auf.

Sie tat wie ihm befohlen. Das Kind stand auf. Die Augen schwärzer als die dunkelste Höhle. Sie befand sich in einem Zustand ähnlich dem eines Zombies.

Wortlos führte sie der Schaffner aus dem Waggon. Die schwere Eisentür ging quietschend auf und wieder zu. Dann waren beide verschwunden. Aus 13 Fahrgästen waren 12 geworden.

~ 1254 Wörter

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