Vom Glück geküsst
„Pass doch auf du Trottel!" Mit einem Kopfschütteln musterte der groß gewachsene Mann den schmächtigeren Teenager. Dieser murmelte mit dem Augen auf dem Boden gerichtet: „Tut mir leid. War keine Absicht." Mit diesen Worten offensichtlich zufrieden gestellt setzte der Erwachsene seinen Weg durch die Fußgängerzone fort, welchen der Junge zuvor unterbrochen hatte, indem er den größeren Mann ausversehen in der eigenen Eile anrempelte. Während der fremde Mann wieder im Getümmel verschwand, sammelte der schwarzhaarige Junge mit einem tiefen Seufzer und von einigen Fußgängern unbedacht geschubst seine herausgefallenen Sachen vom Boden wieder auf.
Der Gurt seiner Umhängetasche war gerissen und all die Dinge, die sich in der großen Tasche befanden, waren heraus gekullert. Endlich hatte er alles beisammen und drückte die nun wieder prall gefüllte Tasche an seine Brust. Mit einem Stöhnen schaute er auf seine Armbanduhr und senkte niedergeschlagen den Kopf. Wieder einmal hatte er seinen Anschlusszug um wenige Minuten zur Schule verpasst und wird zum erneuten Male nicht rechtzeitig zum Unterricht erscheinen können. Nun ohne jegliche Eile trottete der blasse Junge durch das kleine Stück Fußgängerzone in Richtung des Gleises an dem der nächst passende Zug abfahren wird.
Noch nie im Leben hatte der nun schon fast junge Mann sonderlich viel Glück. Manche sagten, er sei vom Pech verfolgt und würde jede Kante, die sich ihm in den Weg stellen würde, mitnehmen wollen. Dieses oftmals doch fast Lästern wurde nur hinter dem Rücken des Betroffenen so richtig ausgebreitet und minutenlang getätigt. Selten sagten es einige ehrliche Personen dem Sechszehnjährigen ins Gesicht. Allerdings wusste der schwarzhaarige Junge von seinem Schicksal schon längst Bescheid. Wie sollte er es auch nicht merken?
Jedoch hatte er sich damit abgefunden und versuchte einfach so gut wie es möglich war normal weiter zu leben. Das Zuspätkommen, die Tollpatschigkeit und sein einfach manchmal doch sehr verwirrter Ausdruck im Gesicht, wurden die Merkmale für seine Jahrgangsstufe, welche sich doch recht häufig über diesen etwas chaotischen Jungen lustig machte. Auch, wenn es niemand von ihnen ernsthaft böse mit dem Mitschüler meinte, nahm es genau diesen sehr mit und er fühlte sich an manchen Tagen schon fast ausgegrenzt.
Der heutige Tag hatte eigentlich gar nicht mal so schlecht begonnen. Zwar verschlief der Teenager zum wiederholten Male und bei seiner hektischen Schnellpflege, sowie dem darauffolgendem Anziehen, war er an jede mögliche Ecke gestoßen, die es in seinem Elternhaus gab. Dennoch hatte er ohne jegliche weitere Probleme sein Frühstück im Lauf zur Zugstation herunter geschlungen und gerade noch so den ersten Zug erwischt. Erst beim Umsteigen hatte ihn seine Pechsträhne wieder eingeholt und ließ ihn offenbar auch nicht mehr los, da er im selben Moment als er das richtige Gleis erreichte über eine plötzliche auftauchende Erhebung des Bodens stolperte und sich an dem nächstmöglichen, was in Reichweite war, festhielt.
Zu seinem Unglück war es eine menschliche Stütze, die mit einem hellen Schrei der plötzlichen Last des Körpers vom Jungen nachgab. Somit machten beide Personen Bekanntschaft mit dem harten gepflasterten Stein. Der Schwarzhaarige landete halb auf dem schlanken Körper des in Mitleidenschaft gezogenen Menschen. Gewohnheitsmäßig murmelte der Sechszehnjährige eine Entschuldigung, raffte seine Sachen zusammen und zog die andere zu Boden gerissene Person wieder auf die Beine. Ohne Nachzusehen wen er diesmal wieder umgerannt hatte oder zumindest auf eine Antwort zu warten, setzte der Teenager seinen Weg fort.
„Hey! ..." Die weibliche Stimme schallte ungewollt laut durch die Station, doch der Angesprochene fühlte sich einfach nicht gemeint und unterbrach seine Schritte zu seinem Stammplatz, eine Säule am Rand des Bahnsteiges, keineswegs. „Thomes! ... Hey, bleib doch stehen!" Schnelle, hastige Schritte ertönten und kurze Zeit später legte sich eine Hand auf die Schulter des Jungen, welcher schreckhaft zusammenzuckte und herumfuhr. Mit großen Augen starrte er die Personen einen Moment nur an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und er äußerte: „Sarafina! Was machst du hier?"
Das schlanke Mädchen erwiderte das Grinsen und fasste sich kurz an ihre naturroten gelockten Haare, die sie in einem Dutt gebändigt hatte. Ihre strahlend blauen Augen sahen geradewegs in die nussbrauen des blassen Jungen, als sie schließlich meinte: „Weißt du, ich wollte dich einfach mal etwas nachahmen und den Zug ebenfalls verpassen." Als Reaktion verzog Thomes verständnislos sein Gesicht und schlang seine Arme weiterhin um die Umhängetasche an seiner Brust. Das einzige woran er denken konnte war, dass Sarafina hoffentlich nicht seinen verschnellerten Herzschlag hörte.
Da der Junge nichts antwortete, setzte das Mädchen eine Erklärung nach: „Du weißt doch, dass Herr Dorch mich nicht leiden und ich ihn ebenfalls nicht ausstehen kann. Außerdem ist Geschichte sterbenslangweilig!" Verstehend nickte Thomes und lächelte das hübsche Mädchen ehrlich an. Sie war diese eine Person, die niemals schlecht über ihn redete und ihn selbst ohne, dass er anwesend war, jedes Mal verteidigte. Sie stoppte die nervigen Lästereien und stand Thomes in der Schule immer zur Seite. So wurden die beiden in den Jahren, seit der Sechzehnjährige an die Schule gewechselt war, beste Freunde. Traurigerweise war Sarafina auch seine einzige Freundin und somit nach den eigenen Eltern die nächste Person, welcher er vollkommen vertraute und normalweise auch alles erzählte. Nur seine entstandenen Gefühle für sie behielt er lieber für sich, da er das feste Band der Freundschaft zwischen ihnen nicht zerstören wollte.
Stumm sah der blasse schwarzhaarige Junge seine Freundin von der Seite an und konnte es noch immer nicht recht fassen, dass er dieses bildhübsche Mädchen seine, wenn auch nur beste, Freundin nennen konnte. Zu gern wüsste er jedoch wie sich ihre rosaroten, sehr weich aussehenden Lippen auf seinen schmalen anfühlen würden. Er fragte sich oft, ob dann wie in Büchern beschrieben ein Feuerwerk in seinem Bauch in die Luft gehen würde oder tausende von Schmetterlingen durch seinen Körper flattern würden. Zu gern hätte er darüber Gewissheit.
„Worüber denkst du nach?" Neugierig musterte Sarafina den Jungen neben sich. Ahnungslos was in dessen Kopf vorging. Der Angesprochene zuckte aus seinen Gedankensümpfen heraus und erwiderte mit einem verlegenen Grinsen: „Ach. Nichts Wichtiges." Freundschaftlich stieß das Mädchen Thomes mit der Faust gegen die Schulter und forderte: „Na los, sag schon. Was geht in deinem verworren Schädel vor?"
Ausweichend entgegnete der Teenager: „Bestimmt bekomme ich schon wieder einen Eintrag." Kurz auflachend grinste das Mädchen ihn frech an und äußerte: „Ist doch egal! Zumindest stehen unsere Namen dann nebeneinander." Thomes setzte zu einer Erwiderung an, doch in diesem Augenblick kam der Zug vor ihnen zum Stehen und die zwei Freunde wurden von der Menschenmasse mitgetrieben. Sarafina packte schnell Thomes Hand, sodass sie ihn in dem Gewühle nicht verlor. Diesem stieg beinah direkt das Blut ins Gesicht und er hoffte, dass das Mädchen seine Verlegenheit nicht mitbekam. Und er hatte mal ein wenig Glück, denn Sarafina war viel zu sehr damit beschäftigt in den Zug zu kommen und sich etwas zum Festhalten zu suchen als ihren besten Freund aufmerksam zu mustern.
Bei der Suche nach einem freien Griff oder zumindest einem kleinen Stück stabile Haltestange blieb sie leider erfolglos, weswegen sie sich nichts dabei denkend einfach an dem Jungen festhielt. Thomes konnte in diesem Moment nicht glücklicher sein. Denn so nah wie in dem vollgestopften Zug war er dem Mädchen selten. Ihr Körper war eng an seinen gepresst und ihre Wärme ging direkt auf ihn über. Ein Kribbeln breitet sich in dem Jungen aus. Noch dazu machte ihn der wohlriechende Geruch des Mädchens, welcher in seine Nase stieg, ganz wuschig im Kopf und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Nun wieder Zeit dazu habend, sah das rothaarige Mädchen den schwarzhaarigen Jungen an und legte, diesen überlegend musternd, ihren Kopf leicht schräg. Zu gern wüsste sie was in dessen Kopf so oft vorging, denn überwiegend reagierte er in ihrer Gesellschaft doch recht merkwürdig auf sie. Thomes sprach manchmal fast gar nicht mit ihr, wenn sie geistesabwesend in einer eigentlichen gemeinsamen Unterhaltung mit seinen Fingern spielte oder durch sein Haar fuhr. Auch seine Wangen färbten sich ab und an leicht rötlich. Das Mädchen konnte sich dieses Verhalten noch nicht ganz erklären. Doch sie wusste, dass sie bald darauf kommen würde und der Lösung ganz nah war.
In ihren jeweiligen Gedanken und Überlegungen vertieft schwiegen die zwei Freunde die gesamte Zugfahrt, erst als sie an der richtigen Station zusammen ausstiegen fragte das Mädchen: „Zur ersten Stunde kommen wir ja jetzt sowieso nicht mehr pünktlich. Wollen wir die restliche Zeit bis zum nächsten Unterricht im anliegenden Park verbringen?" Sein wild pochendes Herz veranlasste den Jungen ohne groß nachzudenken zu antworten: „Gerne. Hoffentlich sieht uns aber kein Lehrer!" Grinsend winkte Sarafina ab und zog Thomes lachend hinter sich her.
Angekommen in dem kleinen Park ließen sich die Zwei auf einer Bank nieder und unterhielten sich ausgiebig über irgendwelche unsinnigen Dinge. Später konnte sich keiner der Zwei mehr erklären wie es dazu kam, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren und jeder den jeweiligen anderen warmen Atem auf seiner Haut verspürte. Während ihres Gespräches waren sie sich unabhängig voneinander einfach immer näher gekommen und keiner brachte nun die Anstrengung auf wieder einen gewissen Abstand dazwischen zu bringen.
So geschah im nächsten Augenblick genau das, was sich Thomes nur in seinen kühnsten und schönsten Träumen auszumalen vermochte. Nicht er brach die angespannte Atmosphäre zwischen ihnen, stattdessen überwand Sarafina den letzten Abstand und legte sanft ihre Lippen auf die von Thomes. Nun konnte der Junge sagen, dass alle Bücher und Filme vollkommen falsch lagen. Denn dieser Kuss fühlte sich tausendmal besser an, als jemals einfache Worte beschreiben könnten.
Als sich die beiden schließlich leicht voneinander lösten, war in jedem Gesicht ein vor Freude strahlender Ausdruck zu erkennen und Thomes brachte nun zum ersten Mal in seinem Leben genug Mut auf, um seine Gefühle gegenüber diesem Mädchen auszusprechen. Es war nur ein leises Hauchen, als Thomes flüsterte: „Du bist für mich das wunderschönste Mädchen auf der ganzen Welt, dem Universum. Ich liebe deine roten Haare, deine unglaublichen blauen Augen und am allermeisten liebe ich DICH. Deine Person, dein Dasein für mich, egal in welcher Situation. ... Ich liebe dich Sarafina!"
Tränen der Rührung zeigten sich in den Augen des Mädchens. Noch nie hatte ein Junge ihr so etwas unglaublich Schönes ins Gesicht gesagt. Mit einem Mal verunsichert blickte Thomes in die Augen seiner geliebten Person und biss nervös auf seine Unterlippe. Sarafina bemerkte die aufgekommene Unruhe und legte ihre beiden Hände an die feuerroten Wangen des Jungen. Ihn lächelnd anblickend äußerte sie: „Ich liebe dich auch Thomes." Zuvor waren ihr die starken Gefühle für den Jungen noch nicht klar gewesen, sie dachte immer, dass sich das einfach so anfühlte, wenn man einen besten Freund hatte. Doch in diesem Moment war sie sich sicher. Sie liebte den blassen schwarzhaarigen Jungen, der vom Pech verfolgt war, über alles andere!
Thomes erwiderte das Lächeln und drückte ihr einen zweiten Kuss auf die Lippen. Beide grinsten wie zwei Honigkuchenpferde, als sich in den Armen liegend gegenseitig in die Augen schauten. Ein durchdringendes, ihnen sehr bekanntes, Klingeln zerstörte die Zweisamkeit und ließ das Pärchen hochschrecken. Entweder war nun Pause oder die zweite Stunde begann in diesem Augenblick. Lachend sprangen die nun nicht mehr nur besten Freunde auf ihre Füße und rannten das Stück zur ihrer Schule.
Zwar hatte Thomes in den darauffolgenden Tagen nicht viel mehr Glück als sonst in seinem Alltag, doch das Mädchen an seiner Seite machte den Jungen überglücklich. Man könnte meinen er sei vom Glück geküsst worden. Nicht etwa von dem allumfassenden Glück auf Erden, welches nur gute und positive Ereignisse der betroffenen Person bringt. Eher war Thomes von seinem eigenen, ganz persönlichen Glück geküsst worden. Seiner großen Liebe, Sarafina.
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