Sternenfest - Der Tag der Heilung

Im Jahre 1432 existierte im alten Königreich Salomon jenseits des großen Gebirges mitten im tiefsten Wald Jeoden ein völlig unbeachtetes Dorf namens Astrum. Jedes Jahr an Mittsommernachtswende verschönerten die Bewohner ihr kleines Dorf aufs Neue und bereiteten ein ansehnliches Mahl, um einem besonderen Ereignis der Vergangenheit die Ehre zu erweisen.

Im Juni kehrte der bedeutsame Jahrestag wieder und alle Bewohner im Dorf befanden sich in heller Aufregung. Früh am Morgen, beinahe mit den ersten Sonnenstrahlen, befreite sich jedermann von dem angewärmten Laken und wie jedes Jahr widmete man sich mit unermüdlicher Konzentration den Vorbereitungen der Festlichkeiten. Auch im Hause Cremerius erfasste der Überschwang dieses besonderen Tages die vierköpfige Familie:

„Ari! Wach auf, Ari." Ein beharrliches Rütteln, das von meiner rechten Schulter ausgehend sich über meinen gesamten Körper ausbreitete, und die unentwegt wiederholten geflüsterten Worte rissen mich unsanft aus meinem ruhigen Schlaf. Murrend und ohne meine Augen auch nur spaltbreit zu öffnen murmelte ich schläfrig: „Was ist?"

„Jetzt steh doch auf, Ari!" Ein Keuchen entfuhr mir, als plötzlich ein schweres Gewicht, vergleichbar mit einem prallen Sack Getreidekörner, auf meinem Körper landete und das alte Rost meines Bettes zum Knarren brachte. Entgeistert schlug ich meine Augen auf und sah direkt in die hellblauen Augen meiner jüngeren Schwester Lia.

Missmutig schob ich sie unsanft von meinem Oberkörper herunter und brummte: „Was soll das denn?" Ihre allseits bekannte Schmolllippe kurzzeitig nach vorne schiebend und sich das voluminöse strohblonde Haar aus dem Gesicht streichend verkündete sie fast schon beleidigt: „Weißt du denn nicht was heute für ein Tag ist?" Ihre Knie jeweils links und rechts neben meiner Hüfte aufgesetzt blickte sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Plötzlich begriff ich und saß mit einer schnelle Bewegung auf meiner dünnen Schlafunterlage aufrecht, sodass Lia hinten über auf ihren Rücken purzelte. „Heute ist das Sternenfest!", rief ich aufgeregt und strampelte das Bettlacken von meinen Beinen. Eilig erhob ich mich und sah mich geschwind im Zimmer um, welches ich mir mit meiner kleinen Schwester teilte.

„Wie spät ist es?", gestresst wandte ich mich Lia zu, indes ich meine Anziehsachen zusammensuchte. Frech grinsend, nun im Schneidersitz, erwiderte sie: „Kurz nach sechs." Ich hielt inne und stöhnte auf: „Wieso weckst du mich dann auf diese hektische Art und Weise, als ob ich zur Eile verpflichtet wäre?" Ihre Schultern zuckend stand sie auf und griff nach ihrer Kleidung: „Ich wollte nur nicht, dass du später in Stress gerätst. Außerdem konnte ich nicht mehr schlafen." Ihr daraufhin breites Grinsen konnte ich nur erwidern. Jeder in unserem kleinen Dorf liebte den Tag des Sternenfestes. Früher, als ich noch jünger war, fieberte ich monatelang auf diesen Tag hin und zählte die Sonnenaufgänge.

Zum Waschen goss ich gerade erst das Wasser in die große porzellanene Schüssel, als Lia schon ihre Hände hineintauchte und sich das Wasser freudig lachend ins Gesicht spritzte. Amüsiert grinste ich, dann tat ich es ihr gleich. Eilig streiften wir unsere Arbeitskleidung über. Unsere festlichen Sachen durften wir erst nach den Vorbereitungen anziehen, da sie ansonsten sicherlich beschmutzt werden würden. Enthusiastisch blickte ich zu meiner jüngeren Schwester, die nur wenige Zentimeter kleiner als ich war, und äußerte voller Tatendrang: „Dann wollen wir mal!" Ihre Erwiderung folgte mit einem breiten Lächeln, doch ihre Augen zeigten mir Trauer: „Was du mit guter Laune tust, fällt dir nicht schwer." Auch mich stimmten die Worte schwermütig, doch ebenfalls voller Mut. Früher hatte uns unsere Mutter jedes Jahr aufs Neue mit diesem einem Satz motiviert, da die zu erledigten Arbeiten uns zuweilen hart belasteten und die Stunden bis Mittag jedes Mal voll mit Stress beladen waren. Mit einem leichten Lächeln auf meinen Lippen legte ich meinen rechten Arm um Lia und meinte leise: „Machen wir sie stolz, so wie wir es immerzu tun."

Die darauffolgenden Stunden waren, wie zu erwarten, kräftezerrend, denn es musste allerlei in wenigen Stunden erledigt werden. Doch egal welchen Bewohner ich in dieser herrschenden Hektik anblickte, in allen Gesichtern erkannte ich die alljährliche Freude und das Funkeln in den Augen war unverkennbar.

Die Männer, zuständig für die schweren Aufgaben, bauten in der Mitte des Dorfes, auf dem sogenannten Salus-Platz, den großen hölzernen Tisch auf, während die jüngeren Kinder mit einem deutlichen Strahlen in ihren Augen allerhand Stühle aus den verschiedenen Hütten brachten. Nachher musste schließlich jeder Bewohner an der Tafel Platz nehmen können.

Der weibliche Anteil war für das Zubereiten der Speisen zuständig. Leider war dies auch meine Aufgabe, indes Lia der Gruppe des Schmückens zugeteilt war.

Ich mochte es nicht, dass meine Hände in dem Wasser beim Salat-Putzen ganz schrumpelig wurden. Ebenso war ich beim Schneiden des Gemüses nicht sonderlich talentiert und den zum speziellen Anlass geschossenen Tieren das Fell abzuziehen ekelte mich zutiefst an.

Meine Fähigkeit entsprach nun einmal eher dem Besteigen von Bäumen. Umso höher, desto besser. In meinem Dorf war ich eine der geschicktesten Kletterinnen, weshalb ich mich in einem passenden Moment erfolgreich wegschlich und mich der Gruppe, stehend an einer Baumgruppe, näherte.

Meine Person wurde freudig empfangen, denn auf die dünnen Äste traute sich nicht jedermann. Aus diesem Grund half ich nur zu gern die verschiedenfarbigen Bänder möglichst an die äußersten Äste der zum Salus-Platz gerichteten Bäume zu knoten.

Ausschließlich helle Farben, wie das strahlende Blau eines wolkenlosen Himmels, das milde Grün von Knospen im Frühling, die weichen Rosa, Orange- und Rottöne eines Sonnenaufganges sowie das leuchtende Gelb der Sonne.
In der leichten Brise des sonnenreichen Tages flatterten die Bänder und ein Lächeln lag auf meinen Lippen, als ich mit meinen Augen dieses bezaubernde Bild erfasste.
„Aurora!", rief eine weibliche Stimme laut und deutlich. Nur wenige Dorfansässige nannten mich beim vollen Namen, meine Tante Elisabeth gehörte bedauerlicherweise zu diesen Personen. Meine Abwesenheit wurde allem Anschein nach bemerkt. Seufzend gab ich dem Ruf nach und folgte schweren Herzens der Aufforderung bei den Speisen weiterzuhelfen.

Gegen Mittag waren auch die letzten Pflichten erledigt und allmählich füllten sich die hinausgebrachten Stühle an dem aufgestellten langen Holztisch. Das frohe Treiben beobachtete ich von der Tür meines Elternhauses aus, als mich eine Hand flink ins Innere zog. Überrascht japste ich auf und sah kurz darauf in das Gesicht meines vierzehnjährigen Bruders.

„Du musst dich umziehen, Ari. Sonst regt sich Vater doch wieder auf." „Danke, Timi." In meiner frohen Stimmung drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand schnellen Schrittes in Richtung meines und Lias Zimmers. Als ich mich an der angelehnten Tür noch einmal umdrehte, sah ich, dass mein kleiner Bruder sich mit angewiderten Gesicht über die geküsste Wange rubbelte.
Amüsiert in mich hineinlachend öffnete ich die Tür und fragte erstaunt: „Was machst du denn noch hier Lia?" „Das müsste ich dich wohl auch fragen.", entgegnete sie und streckte mir kurz ihre Zunge heraus. Dann drehte sie mir ihren Rücken zu und bat mich: „Kannst du das binden? Timi verdrückte sich beeindruckend schnell, als ich vorhin fragen wollte." „So ist er. Ganz nach unserem Vater gekommen." Ich grinste, indes ich nach den zwei Schnüren griff und diese mit geschickten Fingern durch die gegebenen metallenen Halterungen fädelte.

Timi, eigentlich Timethy, besaß die sanftmütige Ader sowie den Drang zur sofortigen Verlegenheit unseres Vaters. Allerdings sah er mit seinem rabenschwarzen Haar und ebenso dunklen Augen äußerlich unserer Mutter ähnlich. Anders als Lia und ich, wir hatten das strohblonde Haar unseres Vaters geerbt. Während Lia auch die hellen Augen besaß, hatte ich dieselbe Augenfarbe wie Timi und so die meiner Mutter.

Sanft zog ich an den beiden Bändern, als ich oben angelangt war. Danach band ich eine ordentliche Schleife und äußerte kurz darauf: „Fertig." „Und, wie sehe ich aus?" Meine Schwester drehte sich einmal um ihre Achse, dann blickte sie mich erwartungsvoll an. Ehrlich erwiderte ich keck lächelnd: „Wärst du nicht meine Blutsverwandte und ich keine Frau, dann..." „Ari!" Mit einer gespielt empörten Miene schlug sie mich leicht auf den Oberarm, während ich kurz auflachte. Geschwind zog auch ich mich um und Lia half nun mir den Rückenteil des Kleides angemessen zu binden.

Das daraufhin sehr zaghaft erklingende Klopfen an der Tür beantworteten wir gleichzeitig mit einem deutlichen „Herein". Timi steckte seinen Kopf mit zögerlich zugekniffenen Augen durch den Spalt und erkundigte sich: „Seid ihr soweit? Es wird zu Tisch gerufen und ihr wisst ja, dass Zuspätkommer nicht gerne gesehen werden." Bei seinem Anblick entfuhr mir ein belustigtes Lachen, meine Schwester stimmte mit ein.

Noch immer schmunzelnd antwortete ich: „Eine Verspätung zu riskieren wäre dahingehend nicht ratenswert." Lia hakte sich bei mir ein, somit verließen wir gemeinsam das Familienhaus, Timi lief nah bei uns.

Geschwind setzten wir uns auf die besagten Plätze, jedem Haus waren die eigenen Stühle zugewiesen. Unser Vater, bereits am Tisch, blickte auf, als wir kamen, und äußerte lächelnd: „Meine zwei kleinen Mädchen, ihr seht hinreißend aus!" „Und ich nicht?", beschwerte sich Timi gespielt empört. Nun war es an unserem Vater heiter aufzulachen.

Ein mehrmaliges helles Geräusch ließ uns verstummen, auch das vorhandene Stimmgewirr brach abrupt ab. Alle Köpfe drehten sich, von meiner Richtung aus nach links, und die reizende Frau des Dorfoberhauptes gewann an Aufmerksamkeit. Gemeinsam stand das Paar als einzige des Dorfes. Stramm seine Haltung bewahrend sprach unser Dorfoberhaupt Allmar voller Anmut: „Heute, an diesem Tage, feiern wir ein Ereignis, welches unsere Gemeinschaft hart auf die Probe stellte und unsere Ahnen prägte. Erheben wir unsere Gläser und zeigen wir Dankbarkeit für unser Glück in den vergangenen Jahren in Frieden gelebt zu haben."

Meine Hand umschloss das vor mir stehende Glas, indes ich durchweg auf Allmar blickte.

„Lasst eure Lebensfreude nicht durch grauenvolle Geschehnisse trüben, sondern seid zuversichtlich für die Zukunft und bewahrt eure Hoffnung. Auf die Heilung unseres Dorfes von der arglistigen Krankheit, dass diese unsere Herzen nie wieder befalle. Sternenstaub!", verkündete Allmar seine alljährliche Rede und hob sein Glas in Richtung Himmel. Mehrstimmig wiederholten wir den Ausruf „Sternenstaub", und jedes Glas fand sich in die Höhe gestreckt. Gleichzeitig mit meiner Schwester setzte ich das Glas an meine Lippen und trank einen kurzen Schluck. „Lasst die Feierlichkeiten beginnen!", gab nun Allmars Frau kund.

Die auf dem langen Tisch bereitstehenden Speisen wurden abgedeckt und nacheinander verteilte sich das zubereitete Essen auf die verschiedenen Teller. Mein grummelnder Magen wurde zufrieden gestellt, indes ich die mir Gegenübersitzenden ansah.

Prächtige Gespräche wurden geführt, selbst als alle Platten sich geleert hatten. Die Jüngeren konnten nach Belieben aufstehen und mit den anderen Kindern herumtollen. Ich blieb sitzen, ebenso verweilte Lia am Tisch. Ich wollte meinem Vater Gesellschaft leisten, denn eine unheilbare Krankheit nahm uns Mutter vor noch nicht einmal einem vollen Jahr. Ich wollte nicht, dass Vater an diesem Tage traurig wurde.

Zu meiner Freude scherzte Vater mit uns, doch zeigten seine Gesichtszüge in kurzen Momenten der Unachtsamkeit einen bekannten Schmerz des Verlustes. Als in der Nachmittagszeit selbstgebaute Instrumente ergriffen wurden, welche sich gleich darauf zu einer mitreißenden Tanzmusik vereinten, erhob er sich und sprach: „Tanzt mit mir, meine bezaubernden Töchter."

Erwartungsvoll streckte er mir seine linke Hand hin, Lia seine Rechte. Ich entgegnete ein zustimmendes Lächeln und ergriff nur zu gerne seine warme Hand, ebenso zögerte meine jüngere Schwester nicht. Schwungvoll drehte Vater mich, zeitgleich vollführte auch Lia eine volle Umdrehung.

Mit einem Mal umschlang eine weitere Hand meine noch freie Linke, indes eine mir bekannte Stimme äußerte: „Ich darf mich doch miteinbringen, richtig?"

„Natürlich, Timethy! Wir sind an diesem Tage verbunden, als Familie. Vertrauen, Zuneigung und Geborgenheit, in unserem Hause gesichert. Blicken wir auf die vor uns liegenden Tage und verweilen nicht mehr im Schmerz der Vergangenheit", entgegnete Vater. Kaum hörbar fügte er hinauf in die Wolken blickend hinzu: „Margeth, ich habe meinen Frieden gefunden."

Eine einzelne Träne der Erleichterung fand ihren Weg meine Wange hinab, indes Lia und Timethy den kleinen Kreis schlossen und wir somit symbolisch wie wortgetreu miteinander verbunden waren. Mit einem mir neuen Glanz in seiner Ausstrahlung sah mich unser Vater an, dann blickte er ebenso auf Lia und Timi. „Und jetzt: Lasst uns tanzen, wie eure Mutter es euch gelehrt hat.", rief Vater und setzte mit seinen Worten unseren kleinen Familienkreis in Bewegung, der sich bald zu einer großen Runde erweiterte.

Die verbliebenen Stunden bis zur Abenddämmerung verflogen rasch. Beinahe alle aus dem Dorf konnten der erklingenden Musik nicht widerstehen und jedermann schnappte sich einen oder gleich mehrere Tanzpartner. Nur einige Alte, deren Körper eine derartige Bewegung überlastet hätte, saßen am großen Holztisch und doch war in ihren Gesichtern die gleiche Freude zu sehen, die die Tanzenden ebenso ausstrahlten. Als das Licht der Sonne zu schwinden begann, beendeten die Instrumentalisten ihr letztes Lied an diesem Tage und wir vollendeten nacheinander den langwierigen Tanz, der aus unzähligen Umdrehungen und ebenso vielfältigen Tanzgefährten bestand.
Die nächste Etappe des heutigen Festtages sollte nun beginnen. Doch hierzu musste der bedeutsame hölzerne Tisch abgeräumt und das Geschirr in die verschiedenen Häuser zum morgigen Säubern verteilt werden. Sämtliche Bewohner halfen bei dieser Aufgabe, weshalb bereits nach kurzer Zeit sich nur noch der leergeräumte leicht beschmutze Tisch auf dem Salus-Platz befand.

Schon bei den Vorbereitungen hatten einige Dorfbewohner, meist die jungen Männer, verschiedenartige Stöcke aufgeschichtet, welche nun bei einsetzendem Abend angezündet werden konnten.

In freudiger Erwartung auf meinen liebsten Moment des Sternenfestes setzte ich mich zu Lia, die bei unseren Nachbarn und zugleich gleichaltrigen Freunden, Seth und Katherin, Platz genommen hatte. Die zum Teil abgeschliffenen Baumstämme ordneten sich, im größerem Maßstab betrachtet, kreisförmig um das entzündete Feuer an. Die züngelnden Flammen erleuchteten die Gesichter der Dorfbewohner, die nach und nach hinzukamen, in einem warmen rötlichen Schein.

Als es schließlich Zeit für den Beginn der alljährlichen Erzählung wurde, erhob unsere zeitliche Dorfälteste, Greth, ihre linke Hand. Die Gespräche verklungen allmählich, bis nur noch das leise Knistern des brechenden Holzes zu hören war.

Meine Augen richtete ich von tiefer Freude erfüllt auf Greth, die mit ruhiger und fester Stimme die Runde eröffnete: „Wir sind hier am Feuer zusammengekommen, um dem heutigen tiefsinnigen Tagen einen ehrenwürdigen Ausklang zu verleihen. Ich, als Älteste unseres Dorfes Astrum, habe die Ehre euch die uns überlieferten Worte des Anlasses der heutigen Feier zu verkünden, sodass die Geschehnisse der Geschichte von Astrum nie in Vergessenheit geraten."

Meine Mundwinkel glückselig nach oben gezogen und mit aufmerksamen Augen betrachtete ich Greth. Ausnahmslos jeder unseres Dorfes hörte von klein auf die Erzählung, daher kannte ich jeden einzelnen Satz und konnte, wie manch anderer, wortgetreu die Legende von mir geben, doch war es nur unserer Dorfältesten oder Dorfältestem gestattet an diesem Tage vor versammelten Dorfe die Erzählung kundzugeben.

Behutsam lehnte ich mich leicht gegen Lia, die ihr Gewicht zeitnah ebenso in meine Richtung verlagerte.

In der gespannte Stille ergriff Greth das Wort und begann voller Achtung zu erzählen: „Vor vielen Jahrhunderten kamen die verschiedensten Menschen hier auf diesem Fleck unserer großen Welt zusammen. Krieg, Hungersnot und Leid trieb sie aus ihrer früheren Heimat und schickte sie auf eine weite Reise. Als sie sich gegenseitig erblickten, brauchte es nicht viele Worte oder gar Taten, da beschlossen sie auf diesem unberührten Grund der weitläufigen Lichtung, im Schutze des dichten Waldes eine Siedlung zu gründen. Die ersten Tage waren beschwerlich und die Menschen mussten einige Prüfungen meistern, die sie nur durch starken Zusammenhalt und gegenseitiges blindes Vertrauen schaffen konnten. Jeder Einzelne von ihnen bewies einen unbezwingbaren Willen und zeigte eine erhebliche Portion an Mut. Die Belohnung für ihre harte Arbeit waren zahlreiche Jahre in Ruhe und Zufriedenheit. Der Regen üppig, der Boden fruchtbar. Das Leben konnte nicht angenehmer sein. Doch eines Tages befiel die Menschen eine boshafte Krankheit, die die Seelen jedes einzelnen Bewohners vergiftete."

In diesem Augenblick schwand das Licht der letzten Sonnenstrahlen und verlieh dem gesprochenem Satz eine düstere Nachwirkung. Nur das Flackern des Feuers erleuchtete Greth, deren Stimme einen gedämpften Klang annahm.

„Neid, auf die Eigentümer anderer. Hochmut, gegenüber Nachbarn. Geiz, in Bezug auf den eigenen Besitz. Als der unverkennbar aufgekeimte Zorn seine Wurzeln im Herzen des Dorfes geschlagen hatte, begannen sich ehrenwerte Menschen, einstmalige Freunde, gegenseitig zu bestehlen, betrügen und Hasstiraden zu schwingen. Die tückische Krankheit ergriff jeden Einzelnen und sollte in einem grausamen Kampf um Leben und Tod enden."

Greth schwieg einen Augenblick, dann erhob sie ihre linke Hand mit einem Fingerzeig und sprach mit einem angedeuteten Schmunzeln: „Aber das Bevorstehende blieb nicht ungesehen und den Menschen sollte eine zweite Chance geschenkt werden. Die Aufmerksamkeit dreier Sternenfeen, die weit oben verweilten, richtete sich auf das neu errichtete Dorf und entschlossen sich einzugreifen. Glück, Hoffnung und Freude verließen ihren Platz am Himmel und kamen herab, um mit ihrem reinen Sternenstaub die ausgebreitete Fäulnis zu bekämpfen. Die verdorbenen Herzen fanden Heilung und das Schlechte wurde mithilfe der drei Sternenfeen aus dem Dorf verbannt. Bei Tagesanbruch fand sich keine Spur der zu Hilfe Geeilten, doch fühlte jeder einzelne Bewohner ein Stück Glück in sich, empfand einen schnell heranwachsenden Funken Hoffnung und die verspürende aufkeimende Freude drängte sie dazu, ihren zu Feinden gewordenen Freunden in die Arme zu fallen. Tiefe Reue trieb die vereinten Menschen dazu, jeglichen schlechten Empfindungen ein gleichwertiges positives Gefühl gegenüberzustellen, sodass sich das Böse nie wieder dem Dorf bemächtigen konnte."

Mein Blick galt achtsam Greth, die ihre Hände nun eine zur ihrer Rechten und eine zu ihrer Linken ausstreckte. Ich ergriff Lias rechte Hand und umfasste ebenso die Linke meines rechten Sitznachbars, Henrich Thoralfson.

Greth schaute von ihrer linken Hand ausgehend über die Anwesenden, bis sie bei ihrer rechten Hand ankam, danach übermittelte sie uns die Abschlussworte: „Durch die Mühe unserer Ahnen, die Gründer dieses Dorfes, herrschte all die Jahre Frieden in Astrum. Seien wir dankbar und lassen auch weiterhin das Böse nicht die Schranken unseres Dorfes überwinden. Hoffnung, Glück und Freude wachen über uns, niemals sind wir alleine. Heute in der Mittsommernacht findet der Tag der Heilung seinen Jahrestag. Lasst uns uns erheben und gemeinsam rufen."

Ohne das Band der vereinten Hände zu brechen erhob ich mich, ein großer Kreis bildete sich. Allmar unser Dorfoberhaupt verkündete mit lauter Stimme: „Sternenstaub, unserer Rettung sei Dank!" Ein breites Lächeln zierte meine Lippen, als meine Stimme den wiederholenden Ruf verstärkte. Die Hände wurden gelöst, doch blieb der Körperkontakt. Als allererstes schloss ich meine Schwester fest in meine Arme und murmelte: „Danke, dass es dich gibt." Sie erwiderte die Worte und drückte mir einen sanften Kuss auf die Wange, dann lösten wir uns voneinander und ich wendete mich Henrich zu meiner Rechten zu. Zu ihm sprach ich dieselben Worte und wurde leicht in die Luft gehoben, als er mich an sich drückte und dasselbe erwiderte. Ein heiteres Lachen drang aus meinem Munde und ich strahlte ihn an, als er mich wieder auf dem Boden absetzte.

Dieser eine Satz, welcher jeder Bewohner zu einem anderen sprach, ebenso die darauffolgende von leichter bis stürmischen Umarmung, einfachem Handschlag oder zärtlichem Kuss ist weit mehr als eine Tradition, die das Dorf Astrum seit jeher pflegte.

Geliebten Menschen die eigene Zuneigung zu zeigen, sollte auch heutzutage in der alltäglichen Hektik nicht vergessen werden.

Worte können viel Gutes bewirken: Einem Trauenden Trost spenden, einem Einsamen Nähe vermitteln oder einem Verlorenen den Weg zurück zur Hoffnung weisen.

Taten, die die gesprochenen Worte begleiten, verstärken die positive Wirkung und können Großes in einem Menschen auslösen.

Jedoch sollten gesprochene Worte und folgende Taten immer von Herzen kommen. Nicht dahingebrabbelte, zusammenhangslose Sätze oder unwillige und vollkommen lustlose Handlungen.

Kein Drängen, kein Zwingen und keinesfalls ein Muss. Nur der gute Wille und die anständige Ausführung bringen den richtigen Stein ins Rollen. Anderenfalls wird versehentlich eine unaufhaltsame Lawine ausgelöst, die alles niederreißt, was ihr in den Weg kommt.

Aus diesem Grund:

Sei freundlich zu Fremden, vielleicht könntet ihr zu guten Freunden werden.

Sei hilfsbereit zu Schwachen, vielleicht benötigst auch du bald Hilfe.

Zeige Menschen, die du gern hast, wie du empfindest und du wirst sehen, dass Missverständnisse umgangen, Probleme vermieden und das Leben so viel angenehmer wird.

Die Bewohner von Astrum lernten aus ihrem früheren Fehler den schlechten Gefühlen die Oberhand zu überlassen und bemühten sich einher genau dies zu vermeiden, indem sie sich jedes Jahr aufs Neue an das Geschehene erinnern und ihre Dankbarkeit für ihre Rettung sowie das Existieren des Guten aussprechen.

Menschen sind bestimmt dazu Fehler zu begehen, doch sind wir ebenso dafür gemacht aus diesen zu lernen und in nächstliegender Zukunft anders zu handeln.

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