Herbst
Dieser Text wurde von mir für den Philosophy Contest von Mara_East geschrieben.
Herbst
An diesem Morgen war sie aufgewacht und hatte sich gefragt, was anders war.
War es das Gefühl der behaglichen, kuscheligen Wärme im Bett, das sie erst gestern mit der hellgelben Bettwäsche frisch bezogen hatte? War es, weil sie Gustav neben sich schlafen sah und sein Gesicht, faltig und vertraut, im Schlaf so wunderbar entspannt und friedvoll aussah? War es, weil der Samstag für sie gleichbedeutend mit Genießen, Spaziergang und Grießknödelsuppe war?
Die Sonne schien zum Fenster herein, draußen schlugen die Zweige des Haselstrauchs klopfend ans Fenster. Sie mochte es gern, wenn der Wind wehte. Er war für sie ein Inbegriff von Leben, von Bewegung und Wandel. Wenn der Wind blies, wenn er an den Hausdächern rüttelte, durch schmale Gassen fauchte und Staub und Blätter aufwirbelte, fühlte sie sich lebendig.
Heute Nachmittag würde sie mit Gustav im Wald spazieren gehen. Woher kam nur dieses prickelnde Glücksgefühl in ihr, das sie so lange Zeit nicht mehr gespürt hatte?
Sie stand auf, verwundert und immer noch etwas verschlafen und stieg bedächtig die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
Gustav würde später aufstehen. Er war der geborene Langschläfer. Anfangs hatte sie ihn noch dazu gedrängt, früher auf die Beine zu kommen. Sie hatte seine morgendliche Anlaufschwierigkeit als Unvermögen gesehen, den Tag aktiv und tatkräftig zu beginnen. Jahre hatte sie gebraucht, um zu verstehen, dass er aus dieser samstäglichen Zeit zwischen Dämmerschlaf und Traum Energie schöpfte für die ganze vor ihm liegende Woche. Unwillkürlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Das gemeinsame Altwerden war ein Prozess, sich gegenseitig akzeptieren zu lernen.
Die Treppe war steil und schmal und sie hielt sich am Holz des Treppengeländers fest, das mit den Jahren durch ihre und Gustavs Hände immer glatter geworden war. Irgendwann würden sie umziehen müssen. Ihr Gang war nicht mehr sicher und die vielen Treppenstufen für sie in absehbarer Zeit nicht mehr leistbar.
In der Küche zog sie den Schrank auf und nahm behutsam Gustavs schwere Henkeltasse und ihre geblümte Lieblingsschale heraus. Ihr morgendliches Ritual, Grüntee zu trinken, fanden sie beide schön, es war der perfekte Start in den Tag. Auch wenn es jeder für sich tat, zeitversetzt. Bedächtig stellte sie Tasse und Schale auf den Tisch und machte sich dann daran, das Wasser aufzusetzen.
Das Leben, das hinter ihnen lag, war ein langes, sinnvoll gelebtes und glückliches gewesen. Sie hatte sich lange jung gefühlt. Wie ein angenehm plätschernder Fluss war das Leben an Gustav und ihr vorbeigezogen. Meist war das Wasser geruhsam, manchmal hatte es Strudel gegeben, selten Stromschnellen. Doch sie wussten: es ging immer weiter.
Hatten sie früher regelmäßig an fremden Ufern ihre Zelte aufgeschlagen, um die Gegend zu erkunden, war es ihnen mittlerweile immer mehr ein Bedürfnis, im eigenen Fahrwasser zu bleiben.
Der Wasserkocher pfiff. Sie trug ihn hinüber zum Tisch und goss vorsichtig Wasser in die Tasse. Der heiße Dampf zog hoch und verlor sich in der Luft.
Wann war sie alt geworden? Sie erinnerte sich noch daran, als jemand ihr im Bus zum ersten Mal seinen Sitzplatz angeboten hatte. In diesem Moment war ihr klargeworden, dass die Jugendlichkeit, die sie nach wie vor in sich spürte, von außen nicht mehr sichtbar war.
Wer war schon stolz auf sein Alter? Jeder will alt werden, aber keiner will es sein, - so hatte sie es erst neulich im Supermarkt an der Ecke gehört.
Sie setzte sich und umfasste mit den Händen vorsichtig die heiße Schale. Die Wärme tat gut.
Seltsame Gedanken gehen mir heute schon durch den Kopf, dachte sie lächelnd. Aber vielleicht war es ja besser, sich mit schwerwiegenden Fragen an einem heiteren Morgen wie diesem auseinanderzusetzen.
Gustav hatte weniger Mühe, von seinem eigenen Tod zu sprechen als sie selbst. Warum das so war, wusste sie nicht. Gab es bei ihr womöglich eine diffuse Angst, dass der Tod früher eintrat, wenn man über ihn sprach? Sah sie es so? Der personifizierte Tod, der auf die richtige Gelegenheit lauerte, sie hinunterzuziehen in ein schwarzes Loch? War es überhaupt ein schwarzes Loch? Oder war es ein Nichts? Was kam nach dem Tod?
Versonnen hängte sie den Teebeutel in ihre Teetasse und sah zu, wie das Wasser sich allmählich verfärbte, bis man den Tassenboden kaum noch erkennen konnte. Sie glaubte an die heilende Wirkung von Grüntee, nicht aber an den Teufel. Dann schon eher an einen liebenden Gott, der sie mit offenen Armen erwartete.
Die Sonne schickte ihre morgendlichen Strahlen durch das Küchenfenster. In der Luft tanzten Staubkörner, der Tee dampfte. Alles war von einer unglaublichen Leichtigkeit durchdrungen an diesem Morgen.
Endete das Leben mit dem Tod? Oder anders formuliert, etwas persönlicher: endete ihr Leben mit dem Tod? Einige ihrer Freunde waren schon gestorben. Jedes Mal war es schmerzhaft gewesen. Wer uns wirklich wichtig ist, merken wir erst, wenn derjenige nicht mehr da ist.
Vorsichtig nippte sie an dem heißen Tee. Ihre Brillengläser beschlugen vom Dampf, wurden in Sekundenschnelle wieder trocken. Der Tod kam selten sekundenschnell. Oft war er verbunden mit vorausgehenden Schmerzen und Leid. Waren es nur die Schmerzen, die Angst machten, nicht aber der Tod selbst?
„Ich werde sterben", sprach sie selbstvergessen vor sich hin, als müsse sie die Wörter üben, ihnen durch das Aussprechen ihren Schrecken nehmen.
Wo würde sie sein, wenn sie gestorben war? Oder wäre sie gar nicht mehr? Gäbe es nur noch die Ascheflocken ihres Körpers im Wind? Oder ihren verwesenden Körper unter der Erde?
Ein Leben nach dem Tod, - glaubte sie daran? War es überhaupt wichtig, es zu wissen?
Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster, wo der Wind die Bäume bog. Die ersten Blätter flogen davon. Der Herbst stand vor der Tür. Waren sie nicht alle fallende Blätter im Wind? Wo würden sie landen?
Die Ungewissheit des Todes machte Angst. Und auch der Gedanke, für die Verbleibenden nur noch eine Erinnerung zu sein. Der Tod, der jeden einzelnen zu einem Gedanken im Universum komprimierte, zu einem Gefühl im Wind?
Es war eine schöne Vorstellung, fand sie. Sie wollte unbedingt heute mit Gustav darüber reden. Vielleicht war es das, was den heutigen Tag so besonders machte. Das Aussprechen ihrer Fragen und ihrer Ängste angesichts des Todes.
Melancholie überfiel sie. Schnell schaute sie aus dem Fenster, wo Sonne und Wind hin- und her huschende Sonnentupfen auf das schmale Rasenstück unter die wippenden Zweige des Kirschbaums malten. Der Tag war zu schön, um in Schwermut zu versinken.
Behutsam nahm sie die Schale mit beiden Händen, trank einen kleinen Schluck, genoss den herben Geschmack der heißen Flüssigkeit im Mund. Der Tee war gut. Ihr Leben auch. Auch wenn es sich dem Ende zuneigte.
„Ob mein Tod mein Ende ist, werden schlussendlich die anderen entscheiden", sagte sie mit einer plötzlichen Klarheit, die sie beglückte. „Werden sie sich erinnern, bleibt etwas von mir zurück."
Oben hörte sie es rumoren, dann die dumpfen Schritte von Gustavs weichen Schlappen auf der Treppe. Kurz darauf steckte er den Kopf durch die Tür, sah sie am Tisch sitzen und brummte ein „Guten Morgen, Liebes. Was hast du gesagt?" Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab.
Lächelnd schaute sie ihn an.
„Gehen wir nachher spazieren?", sagte sie. „Es windet."
Juli 2020
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