Eichendorffs Geist
Eichendorffs Geist schwebte über den Wassern. Er ruhte in dem Nebel über dem See, im aufsteigenden Dunst und in sich.
Am Abend war das Pärchen zum See spaziert. Eng umschlungen waren sie an der alten Weide am Ufer stehen geblieben und hatten sich geküsst. Ihre Liebe umhüllte sie wie die flaumigen Federn eines Jungvogels, ihre geflüsterten Zärtlichkeiten wehten zu ihm hinüber über den See. Die Weide spannte ihre Äste weit über das Wasser.
Der junge Mann zog das Mädchen näher zu sich heran, flüsterte ihr verschwiegene Worte ins Ohr, und sie lächelte und schmiegte sich an.
Ihre Verbundenheit zog ihn an wie das Licht den Nachtfalter, und neugierig näherte er sich ihnen in den Nebelschwaden, die vom Wind über den See getrieben wurden.
Mittlerweile hatten sie sich am sandigen Ufer niedergelassen. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und zog nun ein schmales Buch aus der Tasche. Als er es aufschlug und darin blätterte, drang das Rascheln der Seiten durch die Nacht und erfüllte ihn mit ahnungsvollem Sehnen. Es war ein Geräusch, das er nie vergessen hatte. Es war zum Wesen seiner selbst geworden, genauso wie die traumverlorene Erinnerung an seine vor langer Zeit aufgeschriebenen Gedichte.
Als der junge Mann begann, aus dem Buch vorzulesen, ergriff ihn ein seliger Taumel.
„Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst."
„Wie schön", flüsterte das Mädchen und blickte verträumt über das Wasser. Die Worte verklangen in der Stille des Sees.
Nie hätte er gedacht, dass seine Gedichte die Zeit überdauern würden, dass zweihundert Jahre ihnen nichts hatten anhaben können. Liebe und Poesie waren noch in der Welt, er erkannte es an den liebkosenden Gesten, den strahlenden Augen und geflüsterten Worten.
Als das Mädchen das Buch an sich nahm und leise weiter daraus vorlas, war es ihm, als vernähme er im Rauschen der Wälder auf einmal das Funkeln der Sterne.
Die beiden küssten sich erneut, und er wusste, dass die Poesie seiner Worte nichts von ihrer Wirkung eingebüßt hatte. Ihre Schönheit erreichte noch immer die Herzen der Menschen.
Als der Ruf des Rohrsängers im Schilf ertönte, stieg seine Freude zwischen den langen Halmen des Schilfs hindurch in den sternenübersäten Nachthimmel hinauf, wo sie sich weit oben im Abendrot verlor.
Juli 2020
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