Die Lawine

„Eine Detonation!", war sein erster Gedanke.

Das Krachen war ohrenbetäubend. Schonungslos zerriss es die winterliche Ruhe, die eben noch über dem verschneiten Hang gelegen hatte und durchfuhr sie mit egoistischer Rücksichtslosigkeit.

Er fuhr auf seinen Skiern eine eilige Kurve und kam in spritzendem Tiefschnee zum Stehen. Nichts Gutes ahnend wandte er seinen Blick dem Gipfel zu. Was er sah, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Eine Lawine türmte sich ein gutes Stück weiter oben am Berg auf, mit grollenden, wirbelnden Schneemassen! Sie kam ihm entgegen, unaufhaltsam donnernd und gnadenlos. Ein Keuchen entfuhr ihm. Der Berg kam auf ihn zu!

Im nächsten Moment raste er schon in halsbrecherischer Schussfahrt den steilen Hang hinab. Es kam auf Sekunden an, er wusste es, hätte die Zeit gerne angehalten und das Unmögliche möglich gemacht. Was für ein Irrsinn!

Im kümmerlichen Versuch, den überwältigenden Schneemassen zu entkommen, hielt er sich rechts. Doch es war hoffnungslos. Ihm war klar, dass er es nicht schaffen konnte, dass es nur ein armseliger Versuch war, dem Unentrinnbaren zu entkommen. Trotzdem fuhr er, getrieben von dem einzigen ihn beherrschenden Gedanken: Nur weg von hier!

Kurz vor dem Wald stürzte die Lawine über ihm zusammen, packte ihn, wälzte ihn mit sich, die Skier wurden unter ihm weggerissen. Da waren diese wirbelnden Schneemassen um ihn, er wurde umgerissen. Wo war oben, wo unten, der Schnee, es war zu viel Schnee! Er nahm ihm die Luft zum Atmen!

Als er wieder zu sich kam, war es dunkel. Sein Bein schmerzte. Das Stöhnen, es kam aus seiner Kehle. Wo war er, warum war es so dunkel? Er wusste es. Er wusste es mit schmerzhafter Klarheit. Die Lawine hatte ihn begraben! Wie ein Schmerz durchfuhr es ihn: „Katia! Die Kinder!" Waren sie in Sicherheit? Doch seine Frau war mit den Kindern einige Zeit vor ihm losgefahren, sie mussten schon längst unten im Tal sein. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn, nur kurz. Dann kam das eiskalte Grausen, die unbarmherzige Gewissheit: der Schnee war auf ihm, bedeckte ihn. Ein weißer Mantel, den zu tragen er sich nicht ausgesucht hatte.

Vorsichtig versuchte er seine Finger und Zehen zu bewegen. Es funktionierte, sein Körper reagierte, schien intakt. Nur von seinem rechten Bein ging ein stechender Schmerz aus. Vielleicht hatte er es gebrochen. Er musste hier raus! Der eine Arm lag angewinkelt vor seinem Gesicht. Es hatte sich ein kleiner Hohlraum gebildet, der ihm das Atmen erleichterte. Doch wo war oben, wo war der Himmel? Die Luft zum Atmen! Ruhig musste er bleiben, er durfte nicht die Nerven verlieren. Das war das Wichtigste. Der Schnee hatte ihn zugedeckt. Sicher würde Hilfe kommen. Vielleicht war die Oberfläche gar nicht weit weg, er musste fest daran glauben. Mit seinem ganzen Körper drückte er gegen den Schnee. Er schrie. Es klang schrecklich gedämpft, als sei die Erdoberfläche und alles Leben weit weg. Hier unten in der Finsternis, wo das ganze Gewicht der Schneelawine auf ihm lastete, würde er erdrückt werden. Er würde ersticken. Nein! Er musste einen klaren Gedanken fassen. Katia!

Katia mit ihrem ruhigen Lächeln, dem klaren Blick. Er liebte ihre Augen, ihre Stimme, die kleinen Fältchen um ihre Augen. Er würde sie wiedersehen, sie hatte es nicht verdient, ihn zu verlieren. Er spürte eine Träne an seinen Augenwinkeln. Sie rann seitlich an seiner Wange hinunter. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Wurde die Luft schon weniger? Wie lange würde sie ausreichen? Luft, er brauchte Luft! Die Tränen liefen an seiner Nase entlang, schmeckten salzig, warum hatte er sie im Mund?

Da durchzuckte ihn die Einsicht, klar wie das Tageslicht, das er so sehnlichst vermisste: die Träne suchte den Weg nach unten, der Schwerkraft gehorchend.

Fieberhaft stieß seine rechte Hand gegen die Schneedecke und er begann zu graben. Zum Glück trug er noch immer seine Handschuhe, er hatte sie bei dem Sturz nicht verloren. Machte es überhaupt einen Sinn zu graben? Wie weit war es bis oben? Nur nicht nachdenken, immer weiter, vielleicht spürte er die Kälte dann nicht mehr ganz so sehr. Er kratzte, scharrte, schaufelte, Schnee fiel ihm ins Gesicht. Trotz der Anstrengung waren seine Füße eiskalt, er musste länger bewusstlos gewesen sein. Katia!

Ihr Gesicht vor Augen arbeitete er verbissen, bald konnte er den zweiten Arm bewegen. Seine Beine hingegen lagen kalt und teilnahmslos unter ihm. Er stellte es mit Schrecken fest, grub mechanisch weiter, immer weiter. Der Schnee rieselte weniger stark. Er spürte seine Kraft zunehmend erlahmen. Das Zeitgefühl war ihm längst abhandengekommen und seine Gedanken verloren an Präzision und Schärfe. War es der Mangel an Sauerstoff? Die Müdigkeit wurde sein Gegner, er versuchte, sie mit allen Mitteln zu bekämpfen. Seine Hand bewegte sich langsamer. Nur nicht einschlafen! Die Kälte durfte seiner nicht Herr werden!

Er klammerte sich an Katias Blick fest. Sie lächelte ihn an, sie war bei ihm, ganz nah. Er erinnerte sich an einen Moment von früher. Damals hatte er sie noch nicht lange gekannt. Sie war wie ein frischer Wind in sein Leben getreten. An einem Nachmittag im Sommer waren sie unter ein blauweiß geblümtes Laken geschlüpft. Es wölbte sich über ihre nackten Körper. Sie hatten sich umarmt, liebkost, geliebt, waren geborgen wie in einer Luftblase, in ihrer eigenen kleinen, wunderbaren Welt. Die blauen Blumen des weißen Tuches, wie schön sie waren!

Plötzlich vermeinte er Stimmen zu hören. Was bildete er sich schon ein! Rufe, Hundegebell, Männerstimmen! Und über allem immer Katias Augen. Ihr Blick, der nach ihm rief. Suchten sie ihn? Er war müde. Was hatte er ihre Stimme geliebt, ihre abends im Bett geflüsterten Koseworte, ihr leises Lachen, wenn sie ihn anblickte. Die Müdigkeit überwältigte ihn. Es war kalt. Die Hand, die ihn erreichte, sah er nicht mehr. Er schlief. Geborgen.

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