Irgendwo im Nirgendwo

Ich ging die nächtliche Seitenstraße entlang. In meinem dunkelroten, figurbetonenden Kleid, der schwarzen Lederjacke und den Boots hatte ich Sorgen beim Rausgehen gehabt. Nun kümmerte es mich nicht mehr. Der leichte Wind blies mir ab und zu störend die Haare ins Gesicht. Die altmodischen Laternen leuchteten orange. Die rund geschnittenen Kronen der Bäume warfen dunkle Schatten über den Boden, die sich alle zu Monstern verwandelten, wenn man nur lange genug hinsah. Und genau vor mir befand sich das große, türlose Tor. Das dumpfe Licht reichte nur bis zu seinem Fuße, der scheinbar unendliche Gang war vollständig in Dunkelheit gehüllt. Bedauerlicherweise war dieses Tor mein Ziel. Denn heute Nacht würde es in die unerreichbare Vergangenheit führen. Was daran bedauerlich war? Wenn ich den richtigen Moment verpasste, würde ich an einem sehr unschönen Ort landen. Warum ich da dann durchgehen wollte? Ich musste etwas verhindern.
An der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit blieb ich stehen. Noch einmal wog ich die Folgen meines Vorhabens ab. Ich stieß angespannt die eingesaugte Luft aus und trat einen entschiedenen Schritt vor, der dichten Dunkelheit entgegen, die mir nun flüssig vorkam. Dann noch einen und noch ei...

Als ich zu mir kam, lag ich auf dem kühlen, rauen Straßenboden. Die sommerlich warme Sonne schien mir grell in die Augen und ich kniff sie automatisch zu. Nachdem ich die Augen mühsam wieder öffnete, sah ich etwas an mir vorbeilaufen.
Es waren keine Menschen, sondern leicht unscharfe, schwarze Silhouetten, die den Boden mächtig zum Vibrieren brachten.
Ich versuchte aufzustehen und merkte, dass ich es nicht konnte. Ich spürte weder meine Beine, noch meine Arme. Ein sehr seltsames und quälendes Gefühl breitete sich in meinem Kopf aus und störte mich dabei, Ruhe zu finden. Ich biss mir auf die Unterlippe und nahm den metallischen Geschmack des Blutes wahr.
Ein unangenehmes Kribbeln erfasste meinen ganzen Körper und trotzdem freute es mich. Denn es bedeutete, dass ich meine Gliedmaßen bald wieder spüren würde. Ich drehte den Kopf zur Seite und bewegte die Finger. Dann tat ich das Gleiche mit der anderen Hand. Ich überprüfte die Arbeitsfähigkeit meiner Beine und setzte mich mithilfe meiner noch schwachen Arme auf.
Mir rann etwas Dickflüssiges zuerst über die Nase, dann über die rechte Wange und dann hinunter zum Kinn. Ich fasste noch benommen in meine Stirn und verschmutzte die ohnehin nicht sauberen Finger mit Blut. Was war passiert? Wo befand ich mich? Was waren das für Gestalten, die unaufhörlich an mir vorbeirasten?
Mit verkrampftem Leibe kämpfte ich mich langsam auf die Beine hoch. Die schwarzen Kreaturen schenkten mir keine Beachtung und eilten einfach um mich herum, als würde ich nicht existieren.
Langsam ging ich in die entgegengesetzte Richtung los, meine kraftlosen Beine wollten nicht auf mich hören. Ich erforschte die Köpfe der Wesen, um zumindest irgendwelche Anzeichen eines Gesichts zu erkennen, doch es gelang mir nicht. Dann, ganz plötzlich, wuchs eine Frage in meinem Kopf heran und ich konnte an nichts anderes denken. Was würde passieren, wenn ich das schwarze Etwas berührte?
Noch einige Sekunden grübelte ich darüber nach, dann streckte ich zögerlich den rechten Arm vor. Das Wesen, das von meiner Hand berührt wurde, blieb abrupt stehen, kreischte laut auf, wobei ich zusammenzuckte, und fing an, sich aufzulösen. Millimeterkleine Stückchen seines Körpers lösten sich von ihm ab und flogen nach oben. Die Kreatur brauchte keine Minute, um vollständig zu verschwinden.
Ich fing mich darauf, dass ich lächelte. Es gefiel mir. Ich streckte die Arme zu beiden Seiten aus und beschleunigte immer mehr meinen Schritt. Es gefiel mir, die schwarzen Wesen auszulöchen und ihr letztes, qualvolles Kreischen zu hören. Es tat mir gut. Ich weiß nicht, warum, aber es tat mir einfach gut.
Doch letztendlich reichte es mir. Ich ließ die Arme sinken und ging wieder langsam weiter. Die Kreaturen wichen wie zuvor nach rechts und links und beachteten mich nicht. Es schien mir so, als würde ihre Anzahl nie weniger werden. Und dann wuchs in mir plötzlich das Interesse zu wissen, wo sie eigentlich hineilten. Sie müssten doch irgendein Ziel haben, oder?
Gespannt auf die Antwort drehte ich mich um und lief ihnen hinterher. Und weiter und... weiter und wei...

Ich spürte eine Berührung, blieb stehen und kreischte auf. Doch dann erkannte ich einen Jungen, der sich mit zugekniffenen Augen ängstlich die Ohren zuhielt. Ich verstummte und musterte ihn positiv geschockt. Ein Mensch. Vor mir stand ein weiterer Mensch! Ich war nicht mehr allein.
Der Junge öffnete zögerlich seine Augen und ließ die Hände langsam sinken, während sich sein Blick mit Freude füllte. Dann warf er sich nach vorne und umarmte mich fest.
- So ein Glück, dass ich dich gefunden hab! - sagte er erleichtert.
Ich starrte ihn nur ungläubig an.
- Du warst schon so grau. Ich dachte schon, du bist wie sie alle.
Und dann wurde sein Griff stärker und seine Stimme verzerrte sich mit jedem neuen Wort immer mehr. Mein Herz hämmerte warnend jede Sekunde schneller gegen meine Brust.
- Ich dachte schon, ich werde hier gar nichts zu essen finden.
Entsetzt stieß ich einen spitzen Schrei aus, als der Junge zu wachsen anfing und seine Haut immer dunkler wurde, der Mund größer, die Augen schwärzer. Er öffnete kurz seine Klauen, um mich mit größerer Kraft noch einmal zu schnappen und mir wahrscheinlich somit ein paar Knochen zu brechen. In diesem Moment stieß ich mich panisch von ihm ab und taumelte einige Schritte zurück. Dann drehte ich mich sofort um und sprintete aus aller Kraft los. Was war er für ein Wesen?! Woher kam er überhaupt? Ich konnte mich an die letzten... An die letzten was? Minuten? Stunden? Wie viel Zeit war vergangen?
Ich blickte zurück und sah niemanden, also verlangsamte ich mich. Wo war das Wesen? Und wo war ich? Was war das für ein Ort, an dem ich mich gerade befand? Grelle sommerliche Sonne schien mir in die Augen, doch mir war in dem herbstwarmen, engen Kleid nicht heiß. Ich stand auf einem gewöhnlichen, dunklen Straßenboden. Von überall starrten mich verlassene Hochhäuser mit ihren zerschlagenen Fernstern an. Und menschenähnliche, schwarze, unscharfe Kreaturen liefen um mich herum, ohne mich zu beachten. Hatte der “Junge“ diese Wesen gemeint, als er sagte, ich wäre schon so wie sie?
Der “Junge“ besaß zumindest ein Gesicht. Diese Kreaturen aber... Ich verengte die Augen und versuchte, zumindest irgendwelche Anzeichen eines Gesichts zu erkennen, doch es gelang mir nicht.
Dann, ganz plötzlich, wuchs eine Frage in meinem Kopf heran und ich konnte an nichts anderes denken. Was würde passieren, wenn ich das schwarze Etwas berührte?
Noch einige Sekunden grübelte ich darüber nach, dann streckte ich zögerlich den rechten Arm vor...

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