Dreh dich niemals um!

Es passierte vor 20 Jahren. Aber ich kann mich immer noch ganz genau daran erinnern.
Ich war vor einer Woche 7 geworden. Ich war bei Oma zu Besuch. Sie lebte in einem Dorf. In der Stadt sagte man, dieses Dorf sei verflucht.
Meine Oma war kurz einkaufen gegangen. Es war früher Abend. Mir war langweilig geworden und ich stieg die Treppe zum Dachboden hoch. Ich wollte mir Omas und Opas alte Sachen ansehen. Auf dem Dachboden war es staubig und dunkel. Ich bemerkte etwas, was mir gegenüberstand. Schon von Weitem wusste ich, dass das ein zugedeckter Spiegel war. Ich trat näher. Zog die alte Decke runter. Es war wirklich ein Spiegel. Ein sehr alter. Dann hörte ich meine Oma.
"Anabell! Wo bist du?"
"Hier, auf dem Dachboden!"
Ich drehte mich zur offenen Tür um und sah meine Oma kommen.
"Ach da bist du."
Plötzlich blieb sie stehen. Sie starrte an mir erschrocken vorbei und wurde blass. Bevor ich mich umdrehen konnte, flüsterte sie:
"Dreh dich nicht um. Renn weg."
"Warum? Was siehst du?"
Meine Oma fasste mich an den Schultern. So konnte ich nicht sehen, was hinter mir geschah. Sie blickte ständig auf mich und auf den Spiegel.
"Anabell, bitte. Renn zu unseren Nachbarn. Übernachte da. Aber dreh dich jetzt nicht um. Wenn du hier bist, dreh dich niemals um."
Sie sah mich so eindringlich an, dass ich Angst bekam. Sie ließ mich los und ich lief die Treppe hinunter und dann raus, zu dem Haus über die Straße. Die Nachbarin Alina, die die Tür öffnete, ging einen Schritt zurück, als sie mich so spät weinend vor ihrer Tür sah. Dann zog sie mich aber schnell in das Haus und kniete vor mir, um auf gleicher Augenhöhe zu sein. Ihr Mann Denis kam auch zu uns.
"Was ist passiert?", fragte Alina.
Ich schüttelte heftig den Kopf.
"Ich weiß es nicht."
"Nein, du musst es wissen.", drängte Denis freundlich.
Ich erzählte, was war, und fragte dann:
"Warum hat sie es gesagt? Alina, ich habe Angst."
Die Frau, schon über 40, umarmte mich. Ihr Mann hatte inzwischen die Polizei angerufen.
"Anabell, bleib bitte hier und warte auf die Polizei. Wir gehen jetzt zu deiner Oma.", meinte er.
Sie gingen und ich blieb. Doch nicht lange. Ich schlich mich aus diesem Haus in das Haus meiner Oma. Als ich reinging, hörte ich jemanden weinen. Ich stieg die Treppe zum Dachboden hoch. Und das, was ich da sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich wollte nicht glauben, was ich sah. Benommen ging ich zu dem verdeckten Spiegel, drehte mich um und blickte auf. Auf der Wand stand in großen, roten Buchstaben: Dreh dich niemals um. Und auf dem Boden lag meine Oma. Sie war tot . Es gab viele Schnittwunden auf ihrem Körper. Aus allen lief Blut heraus. Vor ihr kniete die Nachbarin und weinte. Ich hätte auch geweint, aber ich war wie betäubt.
Bis jetzt kann ich immer noch nicht verstehen, was damals geschah.

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende!

Warum ich das erzähle? Weil ich Angst hab. Vor einer Woche hatte mich meine Mutter angerufen und meinte, ich soll in das Dorf fahren, das Haus in Ordnung bringen und es verkaufen. 20 Jahre lang träume ich von dem Abend. Jedes Mal sehe ich im Spiegel eine junge Frau mit blasser Haut, hellen schulterlangen Haaren und in einem schwarzen Kleid. Sie sagt: ,,Dreh dich niemals um.'' Und ich folge ihrem Hinweis. In einer Stunde werde ich losfahren, mir zuwider.
Ich habe kurz Alina und Denis besucht. Sie haben sich gefreut, mich zu sehen. Dann stand ich fünf Minuten lang vor der Haustür meiner Oma und sammelte Mut. Ich holte die Schlüssel aus meiner Tasche, schloss die Tür auf und trat ein. Sofort musste ich husten. Aber ich gewöhnte mich schnell an die stickige Luft.
Das Haus interessierte mich nicht. Ich stieg die Treppe zum Dachboden hoch. Nun war der verdeckte Spiegel mehrere Meter vor mir. Ich drehte mich um. Auf der Wand stand immer noch: Dreh dich niemals um. Ich drehte mich zurück. Scheiße! Das hatte ich laut gesagt. Die alte Decke lag auf dem Boden. Im Spiegel sah ich die nun braune Schrift. Schauder lief meinen Rücken entlang. Ich trat näher an den Spiegel ran und wusste nicht, wieso. Hinter meinem Rücken erschien die Frau aus meinen Träumen. Ob sie wirklich hinter mir stand? Große Angst stieg in mir hoch, aber ich stand nur regungslos da und starrte die Frau an.
"Dreh dich nicht um.", flüsterte sie heiser. "Dreh dich niemals um. Hast du mich verstanden?"
Ich antwortete nicht. Die Frau kam näher, noch näher, ganz nah. Ich wusste, dass sie mich nicht anfassen konnte. Und doch! Ihre knöchelige, kalte Hand legte sich auf meine Schulter. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich drehte mich um. Und bereute es gleich. Ich spürte starken Schmerz im Bauch und sah die blutige Hand der Frau. Das Letzte, was ich sah.

Zu meiner Verwunderung wachte ich auf, mit schmerzendem Bauch. Ich lebte! Und war im Krankenhaus. Auf meinem Bett saß meine Mutter und strich mir übers Haar. Auf den Stühlen rechts von mir saßen Alina und Denis. Und dann fing Alina an zu sprechen:
"Deine Oma hatte uns erzählt, dass der Spiegel verflucht ist. Dass ein Monster drin steckt. Ein Dämon. Dass es noch schläft, solange die Decke da ist. Doch wenn sie heruntergezogen wird, ist es wach. Und wird auch nie wieder schlafen. Solange man das Monster nichts sieht, soll man sich umdrehen und sich nie mehr zurückdrehen. Niemals. Der Spiegel selbst kann nicht zerstört werden."
Die Frau im Spiegel wird ewig leben. Und viele Menschen umbringen. Auch mich. Stück für Stück. Sie taucht immer wieder in meinen Träumen auf. ,,Dreh dich niemals um'', sagt sie. ,,Niemals.'' Und ich folge ihrem Hinweis.

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