Mirrors (Fantasy)
Prolog
Dieser verdammte Ort hatte nichts besseres verdient. Wer nicht leben wollte, der war selbst schuld. Diese Menschen in dem Gasthaus, dass sie gerade verlassen hatte, hatte nichts besseres verdient. Sie sollten spüren, was sie spürte. Wut. Unbändige, wachsende und brodelnde Wut. Niemand hatte das Recht, ihr zu wiedersprechen. Wem das nicht bewusst war, der wurde bestraft.
Wütend trat sie einen Schritt nach dem nächsten voran. Die Gegend um sie betrachtete sie nicht. Sie schenkte den Gebäuden, den heruntergekommenen, alten Holzhütten keine Beachtung. Schenkte den Menschen keine Beachtung, die um den Brunnen standen und sich teuer Wasser erkauften. Achtete auch nicht auf den Dreck auf den sie trat. Ignorierte die Blicke, die auf ihr lagen. Sie fürchteten und hassten.
Sie war kein Mensch, der sich um ihre Mitmenschen kümmerte. Das war sie noch nie. Es gab auch keinen Grund dafür. Ihr eigenes Leben vor das der anderen. Überlebensregel Nummer 1. Wer in den heutigen Zeiten leben wollte, musste sich durchkämpfen. Oder aber das einzige Leben, dass vor einem lag, war kläglich. Kläglich, jämmerlich, ärmlich, tödlich. Ihr wurde von klein auf gesagt, dass sie so leben würde, wie die Menschen am Brunnen.
So war das Leben nicht gekommen. Sie nahm sich die Dinge, die sie wollte, ohne Rücksicht. Anfangs war es das Gefühl der Genugtuung, dass sie vorantrieb, sich nicht um andere zu scheren, irgendwann wurde es Gewohnheit.
Beim Gedanken an die Menschen im Gasthaus huschte ein leises Lächeln über ihr Gesicht, als sie an die Schreie dachte, an das Schlagen von Fäusten an die Türen und Fenster. Sie hatte alles abgeriegelt. Sie hatten nichts besseres verdient. Sie hatte ihnen eine Chance gegeben und sie hatten sie nicht genutzt. Und wer ihr nicht nützlich war, war bestenfalls nutzlos. Und das lief in den meisten Fällen trotzdem auf den Tod hinaus. Zudem war sie verhältnismäßig gnädig gewesen. Sie hätte jeden einzelnen hängen oder verbrennen lassen können. Sie hätte die Menschen im Gasthaus zwingen können, sich gegenseitig anzuzünden, am Strick zu ziehen, der den Menschen den Boden unter den Füßen verlieren ließ. Bei dem Gedanken verzog sich ihr Gesicht zu einem unbefriedigten, bösen Lächeln und sie lauschte den Menschen auf den Straßen, die Wasser an das Gasthaus heranbrachten. Lauschte der Panik und Hysterie, die sich auf den Straßen ausbreitete.
Als sie auf ihr Pferd stieg und aus dem Dorf ritt, blickte sie nicht ein einziges Mal zurück zu dem hell leuchtenden Fleck inmitten der restlichen Holzbaracken des Dorfes, von dem Rauchschwaden aufstiegen.
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Maia schreckte hoch. Schon wieder dieser Traum. Das Wort Albtraum traf es wohl besser. Ein ziemlich realer Albtraum. Einer, der sich langsam, aber sicher in ihrem Kopf festsetzte. Sie griff nach dem Wasserglas auf ihrem Nachtkästchen und nahm einen Schluck. Dieser Traum verwirrte sie nun seit über einem viertel Jahr. Und langsam, begannen sich Sorgen in ihrem Inneren zu streuen. Darüber, ob sie noch ganz dicht war. Und was dieser Traum zu bedeuten hatte. Denn irgendwer oder irgendwas wollte ihr etwas mitteilen, sie vor etwas warnen vielleicht. Es klang irre, wenn Maia es laut aussprach, aber sie glaubte mit ihren knappen achtzehn Jahren irgendwie immer noch an die Möglichkeit, dass Götter existierten, dass es das Schicksal gab, dass sie von etwas geleitet wurde. Dass jemand über sie wachte, der ihr in jeder Situation einen Regenschirm über den Kopf hielt, je nach Situation auch noch einen Regenmantel überstülpte, wenn sich der leichte oder stärkere Regen in einen Sturm verwandelte. Ihr eine Rettungsweste reichte, wenn sie untergehen zu drohte und ihr eine wärmende Hand reichte, wenn sie die Orientierung verloren hatte und zitternd in einem Labyrinth stecken bleiben zu drohte.
Auch konnte Maia nicht das Böse in jedem und allem entdecken, wie die Person, der sie so oft in ihren Träumen begegnete. Der Person, die ihr immer vertrauter und doch so fremd zugleich erschien.
Jeder Mensch mit einigen kleinen oder manchmal größeren Ausnahmen versuchte sein Bestes zu geben, um die Welt ein Stückchen besser zu machen. Um dem Licht näherzukommen, auf das jeder unweigerlich zusegelte. Kaum jemand wollte einem anderem von Natur aus Schlechtes. Sie selber würde niemals jemandem anderen willentlich Schmerzen zufügen. Ihre Familie und ihre Freunde nannten sie sogar immer ihr Engelchen und zogen sie so auf, wenn sie einem kleinen Jungen, dem das Eis aus der Hand gefallen war, ihr eigenes Eis schenkte. Auch wenn sie ihr Spitzname nervte, sagte sie nichts dazu. Sollten sie sie einen Engel nennen, sie selbst sah sich nicht so. Immer wieder eine kleine gute Tat zu vollbringen, machte sie nicht gleich zu einem Engel. Abgesehen davon hatte sie schon ein, zwei Dinge getan, auf die sie nicht stolz war.
Dennoch verstand sie nicht, wieso dieser dumme Traum ihr immer wieder erschien. Wenn er eine Mahnung sein sollte, dann verstand sie nicht was die Mahnung darin sein sollte. Dieser Traum verwirrte sie vollends. Diese Person, von der sie träumte, verwirrte sie.
Mit leichter Verzweiflung schlug sie sich seitlich leicht auf den Kopf, in der unernsten Hoffnung, sie könnte diese verwirrendend Minuten einfach aus ihrem Kopf klopfen, bevor sie seufzend ihr Wasserglas austrank, es auf ihr Kästchen zurückschob und ihren Kopf wieder unter ihrer Kopfdecke begrub.
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1
MAIA
Sie wurde durch den Lärm im Garten geweckt. Ihre Geschwister waren ziemlich offensichtlich unten im Garten und genossen das gute Wetter, solange es noch anhielt. Das Wetter hier in Deutschland war diesen Sommer nicht das, was man sommerlich nennen konnte. Den einen Tag hatte man das Gefühl, dass der Weltuntergang bevorstand, wenn man aus dem Fenster blickte, den anderen strahlte die Sonne vom Himmel und ließ das Gras im Garten braun werden.
Wieder hörte sie ihre Geschwister von unten auflachen und sie beschloss nach einem Blick auf die Uhr, dass es wohl oder übel an der Zeit war, aufzustehen, anstatt sich umzudrehen und einfach im Bett zu bleiben. Schließlich war das Wetter schön und um eins würde es Mittagessen geben. Soweit sie informiert war, gab es Steak und Bratwürstchen mit einer Menge an Gemüse und Reis und Ketchup und Mayonnaise. Würde sie nicht zu Mittag am Tisch sitzen, würde sie bis zum Abend warten müssen bis es zu essen gab. Zudem wollte sie sich auch noch in die Sonne legen und sich bräunen, wenn das Wetter einmal mehr mitspielte.
Mit einem weiteren Blick auf die Uhr schlurfte sie ins Bad, dass sie sich mit ihren Geschwistern teilen musste. Was hieß musste. Viele hatten nicht einmal das Privileg, das Bad nicht mit ihren Eltern teilen zu müssen. Und solange Lena und Mark ihr nicht das Bad streitig machten oder es im völligem Chaos verließen, machte ihr das Teilen nichts aus. Es war sogar ziemlich schön, wenn sie unter der Woche ihrer Schwester die Haare flocht und ihren Bruder zwang, sich die Haare zu bürsten, damit er nicht aussah, als würde er bei den Vögeln wohnen.
Die Dusche tat gut. Sie war von dem schlechten Traum in der Nacht immer noch ein wenig verspannt und angespannt, so schien es ihr. Das kühle Wasser, dass ihr über den Körper lief, ließ sie sich besser fühlen und ihre Ruhe finden. Mit dem Duschen fertig, drückte sie zuerst das Wasser aus den Haaren, bevor sie sich einen Turban auf den Kopf band, soweit das mit ihren nicht allzulangen Haaren möglich war und wickelte sich ein weiteres Tuch um ihren Körper. Vor dem Spiegel blickte sie in ihre braunen Augen, die ihr warm entgegen strahlten. Bei weiterem Betrachten ihres Gesichts bemerkte sie die leichten dunklen Schatten unter ihren Augen, die verrieten, dass sie nicht die ganze Nacht gut geschlafen oder überhaupt geschlafen hatte. Nach ihrem Traum war sie bis zum Morgengrauen immer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt. Erst dann war sie wieder tiefer eingeschlafen und hatte ihre Augen erst wieder Mittags geöffnet, als ihr die Stimmen ihrer Geschwister ans Ohr drangen. Wenigstens waren die Schatten unter ihren Augen nicht stark. Man musste das ganze positiv sehen. Zwei Tage vorher, Freitags, waren ihre Augenringe um einiges dunkler und sie war sogar versucht gewesen Concealer zu verwenden, um sie zu kaschieren. Alles in allem sah sie also fitter und ausgeschlafener als zuvor aus. Maia löste den Turban von ihrem Kopf und presste ihre Haare nochmals mit dem Handtuch bestmöglich aus, bevor sie ihren Kopf vorüberhängte, sie bürstete, und dann schwungvoll mit dem Kopf in ihre Ausgangslage zurückkehrte und dabei den Spiegel hinter ihr mit ihren immer noch stark feuchten Haaren bespritzte. Ein breites Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus, als sie schnell über den nassen Spiegel wischte und dann in ihr Zimmer zurückging, um sich anzuziehen.
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„Guten Morgen!", wurde sie von ihrer Mutter begrüßt, als sie die Küche betrat, in der ihre Mutter am Herd stand und den Reis zubereitete. Mit einem Blick aus dem Fenster in den Garten erblickte sie auch den Rest ihrer Familie. Ihre Geschwister, die im Gras lagen und sich gerade mit abgerupftem Gras beschmissen, ihr Vater, der am Grill herumfuhrwerkte. „Dir auch einen schönen Morgen!", lächelte Maia fröhlich und gesellte sich an den Tresen neben ihre Mutter, um sich etwas von dem Salat zu nehmen, der dort fertig angemacht stand. „Finger weg vom Salat!", schimpfte ihre Mutter und schlug ihre Finger weg, die schon nach dem nächsten Salatblatt greifen wollten. „Wenn du Salat willst, dann nimmst du dir eine Schale und Besteck, oder aber du wartest wie wir alle darauf, dass wir in keinen zehn Minuten anfangen zu essen!" „Ist gut!", antwortete Maia und stibitzte sich das letzte Salatblatt für die nächsten zehn Minuten aus der Schüssel, was ihre Mutter mit einem bösen Blick quittiert wurde. „Ich glaube, du möchtest den Tisch draußen decken!", grinste ihre Mutter Maia an. „Das war mit das Salatblatt wert!", entgegnete Maia ebenfalls grinsend, wusch sich das Salatdressing von den Fingern und nahm Teller, Besteck und Servietten aus einem der Küchenschränke, um sie in den Garten zu bringen. Maia verstand sich gut mit ihrer Mutter. Sie hatten ein ziemlich gutes Verhältnis, nur hatten sie unterschiedliche Vorstellungen von Tischmanieren. Nicht das sich Maia nicht zu benehmen wusste, dass wusste sie, -inklusive richtiger Serviettennutzung-, weshalb sie sich auch in einem Sternerestaurant zu benehmen wüsste. Nur sah sie den Sinn dahinter nicht, sich daheim zu benehmen als wäre man in einem Edellokal und mit seinem Vorgesetzten essen. Was war denn so schlimm daran, wenn man Pommes mit den Fingern aß und sich mit dem Ellebogen auf dem Tisch abstützte, wenn es eh niemand mitbekam? Darüber hatte sie mit ihrer Mutter schon mehrmals eine kleine Diskussion geführt, die jedes Mal damit geendet hatte, dass Sabine, ihre Mutter, argumentiert hatte, dass sie ein gutes Beispiel für ihre kleinen Geschwister sein sollte. Und damit hatte sie wohl recht. Es war ihre Aufgabe als große Schwester den kleineren als gutes Beispiel voranzugehen, weshalb sie jedes Mal bei diesem Punkt eingeknickt war und mit der Zeit aufgegeben hatte darüber zu diskutieren.
Als Maia mit dem Tisch decken fertig war, legte sie sich zu Lena und Markus, ihrer sechs Jahre alten Schwester und ihrem acht Jahre alten Bruder dazu, welche sich auf sie stürzten, sobald sie im Gras lag und sie von einer Wasserbombenschlacht nach dem Essen überredeten. Was sie nicht für die kleinen Bälger tun würde. Die zwei waren zwar nur zu fünfzig Prozent mit ihr genetisch verwandt, aber sie sich sofort vor die beiden werfen, wenn jemand auf sie schießen würden oder ihnen sonstiges Schlechtes antun würden. Lena und Markus hatten einen anderen Vater als Maia. Lena und Markus' Vater war Jürgen, mit welchem ihre Mutter seit über zehn Jahren verheiratet war. Auch für sie war Jürgen wie ein Vater. Sie kannte Jürgen bereits solange, wie sie sich erinnern konnte. Für Maia war Jürgen ihr Vater. Egal, ob das gleiche Blut durch ihre Adern floss oder nicht. Deshalb war es für sie auch nicht schlimm gewesen, als ihr ihre Mutter und Jürgen erzählt hatten, dass er nicht ihr Blutsverwandter war.
„Morgen ist wieder Schule!", erinnerte ihre Mutter Maia, als sie alle proppevoll am Tisch saßen und das Wetter genossen. „Ich weiß, ich habe gestern gelernt, also muss ich mir heute keinen Stress mehr machen", erwiderte sie und ihre Mutter nickte zufrieden mit dem Kopf. Noten waren für sie zwar nicht das Allerwichtigste auf der Welt, aber sie legte schon einen bestimmten Wert darauf, dass die Noten passten. Die Sorge, dass Maia schlechte Noten schreiben könnte, war unbegründet. Maia war schon immer vorsichtig gewesen und dass ließ sie lernen. „Ich hoffe, du ziehst dir dann etwas anderes an", meinte Jürgen und blickte sie an. Auf diesen Kommentar hin schlug ihre Mutter ihm auf den Arm und sah ihn kopfschüttelnd an. Das leichte Schmunzeln in ihren Gesichtszügen allerdings war nicht zu übersehen. Maias Outfit war dem Wetter angepasst. Ein hübsches Sommerkleid, nur vielleicht ein kleines bisschen benutzter als ein nigelnagelneues. Auch ein Fleck ging aus dem Kleid nicht mehr heraus. Natürlich würde sie genau dieses Kleid nicht in die Schule anziehen. Ihr selbst war es gleich, ob das Kleid nun mal getragener aussah und den kleinen unauswaschbaren Schokoladeneisfleck an der Schulter hatte, der entstanden war, als ihr Markus einen Löffel von seinem Schokoeis abgeben wollte, oder nicht. Sie würde das Kleid nicht in die Schule anziehen, weil das Jürgens Dresscode nicht passte. Er war der typische Anzugträger-Dad. Vielleicht ein klitzkleines bisschen zu sehr auf das Aussehen fixiert. Es war schon ganz lustig mit anzusehen, wenn er und Sabine sich einmal mehr ein eher weniger ernstes Gespräch über die Wichtigkeit eines perfekten äußeren Looks zu führen. Man sah beiden an, dass sie sich gerne darüber stritten, einfach weil es schon lustig war, dass der Mann im Haus mehr auf sein Äußeres fixiert war als die Frau. Nicht dass man in der heutigen Zeit noch auf Klischees sitzen musste, aber es war dennoch lustig. Besonders da Maias Mutter das Gegenteil von ungepflegt war. Nur dass es ihr nichts ausmachte mit der schmutzigen Gartenhose in der Mall shoppen zu gehen. Maias Familie war schon ein wenig seltsam. Gerade in diesem Moment führten ihr Vater und ihre Mutter eine Diskussion über die Vorteile und Nachteile von dem Gemüsegarten, den Sabine ohne zu Fragen nach der kalten Jahreszeit dieses Jahres im Garten angebaut hatte, während Maia das Wasser am Rücken hinunterlief, dass aus den Wasserbomben gespritzt war, mit denen Markus und Lena sie gerade aus dem Rückhalt angegriffen hatten. Gut, dass sie ihr volles Glas Wasser noch in der Hand hielt.
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2
Es war Montagmorgen.
Maia stand vor ihrem Spiegel und betrachtete sich darin. Ihre Haare fielen glatt, ihr Outfit saß. Auch wenn sie nicht immer Wert darauf legte, in ihren Augen sahen ihre Outfits immer gut aus. Die meisten ihrer Kleidungsstücke waren nicht zu figurbetont geschnitten, hatten keinen großen Ausschnitt. Sehr selten kleidete sie sich auffällig. Sie zupfte nochmals ihre geblümte Bluse, die im Bund ihrer abgeschnittenen Jeans steckte, zurecht und griff danach zu einem ihrer Baumwollpullis und zog sich diesen über. Trotz der aktuellen Hitzewelle war es früh am Morgen dennoch ziemlich frisch, sodass sie immer noch einen dünnen Pulli überzog.
Es klopfte an ihrer Tür und Markus steckte den Kopf in ihr Zimmer: „Mama sagt, dass du endlich kommen sollst, weil wir sonst zu spät kommen. Und sie hat gesagt, dass wir nicht mehr zum Bäcker können, weil du zu lange brauchst".
Irritiert sah sie auf ihre Uhr und fluchte gedanklich. Sie hatte wieder einmal die Zeit aus den Augen verloren. „Sag Mama, dass ich sofort da bin!" Schnell schnappte sie sich ihren Schulranzen und rannte danach die Treppe herunter, um die Schuhe in die Hand zu nehmen und in ihren weißen Socken zur Garage zu sprinten.
„Du weißt, was ich von Unpünktlichkeit halte?", mit hochgezogenen Brauen blickte Maias Mutter sie durch den Rückspiegel an, während sie das Auto startete und aus der Einfahrt hinausfuhr. Entschuldigend blickte Maia sie an und lehnte sich nach vorne, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. „Ich habs heute wirklich versucht!", versuchte sie ihre Mutter zu besänftigen. „Das sagst du jeden Tag!", quäkte Lena von vorne. „Ruhe auf den billigen Plätzen!", lachte Maia und verwuschelte Lena die Haare. „Der Wille zählt!" „Dann richte deinem Willen aus, dass deine Mutter dich das nächste Mal stehen lässt, wenn du wieder zu spät bist!", meinte Maias Mutter und Maia schloss ihren Mund. Ihre Mutter würde das niemals tun. Sie war schon oft zu spät und ihr wurde schon öfters gedroht, aber im Endeffekt stand das Auto immer in der Einfahrt. Abgesehen, dass sie nur Montags in die Schule gefahren wurde und ansonsten immer mit dem Bus oder dem Fahrrad fahren musste. Während ihre beiden Geschwister immer gefahren wurden, hatte sie diesen Luxus nur einmal in der Woche. Es war auch verständlich, da ihre Geschwister keine zehn Minuten mit dem Auto fahren musste, für Maia allerdings musste ihre Mutter über zehn Minuten weiter fahren.
Als ihre Geschwister an der Grundschule rausgelassen wurden, setzte sich Maia nach vorne und drehte die Musik auf. Es gab nichts besseres als Musik in der Früh. „Darf ich die Musik anmachen?", setzte sie anschließend schnell hinzu. Ihre Mutter hasste Musik am Morgen. Allgemein hörte sie nur Klassik oder Nachrichtensender. Wieder blickte ihre Mutter zu ihr: „Soweit ich das hören kann, ist die Musik schon an!" „Sorry, ich bin mehr so der praktische Typ. Aber-", Maia stoppte, um nicht laut loszulachen, „ich habe gefragt!" Grinsend sah sie zu ihrer Mutter, die sich ihr Grinsen offensichtlich unterdrückte. Und dann den Radio leise drehte. Wenigstens nicht lautlos.
„Ich finde, dass sich die heutige Jugend nur noch auf ihre Musik konzentriert. Oder auf ihre Handys, Tablets, Laptops. Und nicht zu vergessen Social Media. Ich möchte mich mit meiner Tochter unterhalten!", kritisierte ihre Mutter die heutige Einstellung von 95% der Gesellschaft unter achtzig. „Ich will dich ja nicht belehren, aber zumindest Musik gab es bereits ein klitzekleines Weilchen vor mir. Aber nur zu!" Frech grinste Maia ihre Mutter an. Diese schenkte ihr einen finsteren Blick und konzentrierte sich wieder auf den Straßenverkehr. „Ich habe das Gefühl, Lena färbt auf dich ab!", merkte sie trocken an und beleidigt öffnete Maia ihren Mund, um ihn wieder zu schließen. „Bin ich gar nicht!", stieß Maia leicht beleidigt hervor und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. „Doch, eindeutig", meinte ihre Mutter und fuhr fort: „Nein! Ich habe meine zweite Tochter verloren! Jetzt ist auch sie zur dunklen Macht übergegangen!" „Okay", bekam sie von Maia gedehnt als Antwort. Sie hätten gestern nicht noch Star Wars gucken sollen. Ihre Mutter neigte dazu, zu übertreiben. Teilweise hatte ihre Mutter recht. Wenn man mit „die dunkle Macht" freche sechs-jährige Mädchen meinte, dann ja, ihre Schwester war in letzter Zeit zur dunklen Seite der Macht übergegangen. Aber sie?!? Sie doch nicht. Naja, vielleicht hatte ihre kleine Schwester ein Stückchen auf sie abgefärbt. Dennoch konnte man sie nicht als frech bezeichnen. „Ich bin nicht frech", stellte Maia deshalb klar. „Nein, eigentlich nicht. Du bist sogar fast unheimlich brav. Dein Vater hat mich vor einer Weile darauf angesprochen. Ob du nicht in die Pubertät gekommen bist oder wieso du noch nie eine übermäßig zickige Phase oder eine Emophase hattest". Maias Mutter lachte und auch Maia musste schmunzeln. Das war typisch ihr Vater. Er holte sich seine Erziehungstipps und sein Wissen über Kinder aus amerikanischen Filmen oder von seinem besten Freund, der wirklich eine -man konnte es nicht anders ausdrücken- furchtbare Tochter hatte. Und Maia verstand sich ausnahmslos mit jedem. Bis auf diese Zicke.
Die Schule kam in Sicht und ihre Mutter blieb stehen. „Richte Papa bitte aus, dass ich mich auf seinen Wunsch hin gerne in ein Biest verwandeln kann, wenn er es so wünscht!" Grinsend stieg Maia aus dem Auto, die Schuhe immer noch in der Hand. Mist, die hatte sie sich immer noch nicht angezogen.
Sie wartete bis ihre Mutter weggefahren war, bevor sie zum Schuleingang ging und sich auf die Treppen setzte, um sich schnell ihre Schuhe anzuziehen. Da sie nur noch eine Minute hatte, war niemand mehr vor der Schule, sodass sie von niemanden angestarrt wurde. Schließlich zog man sich die Schuhe meistens an, bevor man das Haus verließ. Das sah Maia genauso. Und dennoch ging es an manchen Tagen schneller, wenn sie ohne angezogene Schuhe aus dem Haus stürmte. Ihre Mutter sagte dazu nichts mehr. Ebenso wenig wie ihr Vater. In dieser Sache war sie ein hoffnungsloser Fall. Nach vierzehn Jahren hatten sie bereits aufgehört, sie in Hausschuhe zwängen zu wollen. Mit sechzehn rannte sie das erste Mal in Socken aus dem Haus. Dazu hatte sie nur noch kritische Blicke und hochgezogene Augenbrauen von ihren Eltern bekommen.
Als sie die Schultüre öffnete, läutete der Gong. Sie fing nicht an zu laufen, da sie nicht weit hatte. Die erste Stunde am Montag hatte sie Biologie. Genau drei zehn Schritte vom Haupteingang der Schule entfernt. Das Klopfen an der Tür ließ sie bleiben. „Du bist zu spät!", meckerte Maias Biologielehrerin. „Ich war pünktlich im Schulgebäude, dass kann man kaum zu spät nennen!", verteidigte Maia sich. Mit einem genervten Gesichtsausdruck deutete ihr ihre Lehrerin, sich zu setzen und schulterzuckend ging sie zu ihrem Platz.
„Guten Morgen", begrüßte Maia ihre Sitznachbarin Klara und öffnete ihren Ordner. „Ich hoffe für dich, dass sie dich dafür nicht ausfragt!", wurde sie von einer grinsenden Klara zurückgegrüßt. „Bitte nicht, ich habe nicht gelernt! Vielleicht frägt sie ja nicht aus, weil am Wochenende so gutes Wetter war?" Hoffnungsvoll starrte Maia Frau Bauer an, die sie sicherlich gehört haben musste, da sie in der ersten Reihe direkt vor ihr saß. „Frau Bauer frägt ab", antwortete Frau Bauer ihr und zerstörte ihre Hoffnungen. „Aber dich wird es heute nicht erwischen. Du warst in der Ex da. Und da ich nur noch eine Woche bis Notenschluss habe, werde ich diese ausnutzen und nicht diejenigen abfragen, die ihr nötigen Noten schon haben". Dankbar lächelte Maia Frau Bauer an, die darauf nur die Augen verdrehte und anfing, Tim auszufragen. Frau Bauer war eigentlich voll in Ordnung. Sie war sogar fast schon gechillt. Nur legte sie viel Wert auf Pünktlichkeit. „Boah, hast du's gut!", meinte Klara. „Ich schwänze einfach nicht, wenn Exen geschrieben werden. Das würde ich dir für das nächste Jahr dringend raten, auszuprobieren", antwortete Maia darauf. Klara war ihre beste Freundin seit der fünften Klasse am Gymnasium und ihr waren Unterrichtszeiten schnuppe. Wenn sie keine Lust hatte, kam sie nicht. Maia sah das anders. Sie hatte sich entschieden in die Schule zu gehen und Abitur zu machen, also war es nun ihre Pflicht, jeden Tag unter der Woche zu erscheinen. „Kann ja nicht jeder so brav sein wie du!", schoss Klara scherzend zurück und grinste breit. „Ich stelle mir es so unglaublich anstrengend vor, immer das nette Mädchen von nebenan zu spielen. Kein Alkohol, nichts! Wie können wir nur seit so vielen Jahren befreundet sein?", redete Klara weiter. „Indem ich nüchtern bleibe und dir die Getränke mit K.O. Tropfen aus der Hand reiße", erinnerte Maia Klara triumphierend. Eins zu null für sie. Nicht nur Klara zog sie immer wieder wegen ihrer „braven" Einstellung auf. Und trotz allem hatte ihre sogenannte Einstellung Klara schon mehrmals den Tag gerettet. Zum Beispiel als ein Typ auf einer Party Klara mit K.O. Tropfen ausknocken wollte. Oder aber als sie Sam von dem Brückengeländer wegzog, als dieser sturzbetrunken die Brücke hinunterspringen in der festen Überzeugung, die Autos unter ihm wären Feen und würden ihn mit Feenstaub zum Fliegen bringen. Vielleicht war es mehr als nur Alkohol gewesen. Wie auch immer. „Guter Punkt", schloss Klara das Gespräch.
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3
„Nicht schon wieder!", stöhnte Sam und Klara nickte zustimmend. „Das ist eine Katastrophe!", fuhr Sam fort, während Klara einfach nur nickte. „Wieso nur??? Wieso?!?", theatralisch schlug er die Hände vors Gesicht.
„Wo ist denn das Problem?", fragte Maia, die gerade noch die Tafel wischen musste, weshalb ihre besten Freunde sich schon an der Essensausgabe angestellt hatten und sie erst jetzt zu ihnen stieß und nun gar nichts über das Problem von Klara und Sam wusste.
„Kartoffelbrei!", stöhnte Klara gequält und diesmal war es Sam, der nur mit dem Kopf nickte. „Ich verstehe euer Problem nicht", äußerte sich Maia zu der Problematik. Sie versuchte nicht zu grinsen. In den Mittagspausen gab es ziemlich gutes Essen. Solange man Kartoffelbrei lieb hatte. Denn die Köche an Maias Schule machten immer Kartoffelbrei. Nudeln und Kartoffelbrei, Pommes und Kartoffelbrei, Reis mit Kartoffelbrei, Fischstäbchen mit Kartoffelbrei. Klara und Sam mochten keinen Kartoffelbrei, Maia schon.
„Hör auf dich über uns lustig zu machen! Wir werden hier ungewollt auf Diät gesetzt, weil wir maximal die Hälfte unserer Gerichte verzehren können! Das ist nicht gut. Gar nicht gut! Und nichts, worüber man Witze machen sollte!", regte sich Sam auf. Zuerst fing Maia an zu lachen, anschließend Klara und zuletzt Sam. Wenn irgendwer im Speisesaal nicht auf Diät gesetzt werden konnte, dann war das Sam. Laut ihm bestand seine Lebensaufgabe zum Großteil aus Essen. Er war ein Meister im schnorren, ihn hielt nichts und niemand auf.
„Ich habe Essen für euch dabei. Ich hoffe Curryreis ist in Ordnung für euch?", sprach Maia die schönste Nachricht des Tages für Klara und Sam aus.
„Du bist so ein Schatz, ich könnte dich abknutschen!", quietschte Klara und hüpfte erfreut um mich herum, um das Essen aus meinem Rucksack zu holen. „Coole Sache!", äußerte sich Sam dazu und klopfte Maia stolz wie ein Vater auf sein Kind mit seiner Pranke auf ihre Schulter.
Maia schüttelte nur lachend ihren Kopf. Es war fast ein Ritual. Klara und Sam beschwerten sich über den Kartoffelbrei und heulten ihr Leid Maia vor und Maia nahm jeden Tag für diese beiden Idioten mit. Wieso Maia den beiden das Essen mitbrachte und sie sich nicht selbst etwas einpackten, wusste Maia nur zu gut. Klara und Sam und Sam waren Faultiere. Aktive Faultiere. Aktiv immer und überall, solange es nicht um sich selbst Essen einpacken ging. Aber das mochte sie an den beiden so.
„Hallo Maia, extra viel Kartoffelbrei für dich wie immer?", wurde Maia von Angie begrüßt. Angie war eine der Köchinnen in ihrer Schule und zusätzlich für die Essensausgabe zuständlich. Freundlich nickte Maia, bezahlte und nahm ihr Tablet entgegen, auf welchem sich ein Teller mit Kartoffelpüree und Fischstäbchen, Yogurt mit Früchten und ein Becher Apfelsaft befand. „Schönen Tag noch!", verabschiedete sich Maia von Angie und schenkte ihr nochmals ein Lächeln.
„Bah, da kommt das wandelnde Kartoffelpüree!", wurde sie von Jack begrüßt, der auch einer ihrer Freunde war und immer mit an ihrem Tisch saß. Für diesen Kommentar würde sie sowas von seinen Früchtejogurt klauen.
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Die beiden Musikstunden bis halbvier Nachmittags zogen sich unglaublich. Es war nicht so, dass Maia Musik nicht mochte oder ihre Lehrerin schlecht war und nicht unterrichten konnte, es lag ziemlich sicher daran, dass Klara kurzfristig beschlossen hatte mit Sam die beiden Musikstunden ausfallen zu lassen. Beide hatten für die Oberstufe wie sie Musik statt Kunst gewählt.
Zudem waren es über dreißig Grad außerhalb des Schulgebäudes und da ihre Lehrerin bei dem superschönen Wetter das Fenster hatte offen lassen wollen, hatte es im Musiksaal letztendlich ebenso mindestens dreißig Grad. Maia hätte sich Klara und Sam anschließen sollen, das Wetter genießen. Die beiden waren wahrscheinlich schon am See angekommen und genossen den Schatten der Bäume und den leicht kühlenden Wind, der über das Wasser auf das Land wehte und den Schatten so noch kühler machte...
„Maia?", wurde sie abrupt aus ihren Tagträumen gerissen und ihre Musiklehrerin lächelte sie freundlich an. „'Tschuldige, ich war in Gedanken einen Moment lang an einem See". Entschuldigend lächelte sie und glücklicherweise mochte Frau Reh Maia und wäre, wie sich in den folgenden Minuten herausstellte, auch lieber an einem See, schwimmen.
„Ich glaube, es reicht für heute mit Unterricht!", meinte Frau Reh, nachdem sie der Klasse ausführlich erläutert hatte wie gerne sie jetzt nicht unterrichten und lieber schwimmen würde.
Maia blickte auf die Uhr. Drei Uhr.
„Ja, dass reicht eindeutig. Bis denne!"
Verwirrt legte Maia ihren Kopf leicht schräg. Das war ja schnell gegangen. Und sie hatte das nicht erwartet.
„Gut gemacht, Maia!", wurde sie von Nils und von anderen in ihrem Kurs für etwas beglückwünscht, dass sie nicht beabsichtigt hatte. Und ihr nichts brachte. Sie hatte zwar eine halbe Stunde Pause, dann folgte noch eine Doppelstunde Sport. Und im Gegensatz zum Großteil des Kurses, der Schwimmen gewählt hatte und sich einenhalbstunden abkühlen durften und das „Unterricht" war, hatte sie Handball gewählt und durfte neunzig Minuten auf dem Sportplatz über den Platz rennen und einem Ball hinterherrennen.
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„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?", wurde Maia entsetzt von ihrem Vater gefragt, der sie Montags nach der Schule immer abholte.
„Ich habe einen Ellebogen abbekommen. Es war versehen, also schau nicht so, als wolltest du gleich jemanden umbringen!", erklärte sie und sah ihn warnend an. Ihr Vater vermutete sonst, dass sie jemand willentlich umbringen wollte und dies ein fehlgeschlagener Mordversuch war.
„Sieht nicht so gut aus. Aber es ist nichts gebrochen, oder?", fragte er besorgt. „Nein, alles gut. Sieht schlimmer aus als es ist". Ehrlich gesagt, hatte sie sich noch nicht im Spiegel angesehen. Sie wusste nur, dass es geblutet hatte wie blöd und das nichts gebrochen war. Wahrscheinlich sah es nicht so schlimm aus wie sie sich fühlte. Sie hatte den Ellbogen vor über einer halben Stunde ins Gesicht bekommen, und bis auf dass ihre Nase nicht mehr blutete, hatte sich noch nichts verbessert. Weder der Schmerz noch das ekelhafte Pulsieren, dass sie glauben ließ, dass ihr Blut an dieser Stelle um die hundert Gad maß.
„Mir geht's gut. Noch besser würde es mir natürlich gehen, wenn ich heute die Macht über die Fernbedienung hätte", frech schielte Maia nach links zu ihrem Vater, der auf einmal extrem konzentriert Auto fuhr. „Komm schon, ich bin heute fast gestorben!", bettelte Maia ihren Vater an und drehte den gesamten Kopf nach links, da sich beim Schielen ein drückendes Gefühl auf ihr Auge ausbreitete. „Versuch die Nummer nachher bei deiner Mutter, ich bin heute Abend bei Frank". Ok, das war auch in Ordnung. Frank war der beste Freund ihres Vaters und der Freund mit der zickigen Tochter.
„Musik?", fragte ihr Vater. „Musik", antwortete Maia. In manchen Dingen war ihr Vater viel lockerer als ihre Mutter. Zum Beispiel beim Thema Musik im Auto. Bei ihrer Mutter war es Glückssache, ob sie den Radio leise anmachen durfte, bei ihrem Vater war die Musik fast immer an. Es war irgendwann ihr Ding geworden, dass ihr Vater zuerst fragte, sie dann mit der Frage antwortete und dieser dann eine seiner CDs mit alten Songs andrehte und sie bis vor die Haustüre die Autofahrt durchrockten.
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4
Der Schlag war doch fester gewesen, als gedacht. Zu den unangenehmen Schmerzen in ihrer Gesichtsgegend sah sie zeitweise doppelt und in dem Moment, in dem sie sich im Spiegel die Ausmaße ihrer Verletzung anschaute, entdeckte sie sogar wandelnde Bilder im Spiegel. Sie sollte morgen dringend zum Arzt gehen, dachte Maia sich. Keine Ahnung, was das für ein Ellbogen gewesen war, aber er war heftiger in ihrem Gesicht gelandet, als gedacht.
„Ich werde morgen früh zu einem Arzt gehen!", verkündete Maia ihrer Familie am Abendtisch.
„Wieso? Geht es dir nicht gut?" Besorgt blickten ihre Eltern sie an, ihre Mutter hatte gesprochen.
„Ich sehe...anders. Mein Blick ist immer wieder verschwommen und diese nervigen Kopfschmerzen wollen nicht besser werden. Ich will nur abchecken gehen, ob alles passt", versuchte sie ihre Eltern zu beruhigen.
„Wir sollten in die Notaufnahme gehen!", meinte ihre Mutter und setzte Maia ihrem besorgten Blick aus.
„Wir sollten abwarten. Wenn du gar nicht schlafen kannst, dann weckst du uns und wir fahren ins Krankenhaus. Wenn nicht, dann gehst du während den normalen Öffnungszeiten zum Doktor", bremste Maias Vater ihre Mutter zum Glück. Das letzte, dass sie wollte war ein Aufruhr, der sich am Ende als nichts als Luft herausstellte.
„Na gut!", gab ihre Mutter nach langem Zögern nach und fügte hinzu: „Aber bei der kleinsten Verschlechterung gibst du uns Bescheid! Ich will morgen keine tote Tochter im Bett auffinen!"
„Jetzt übertreibst du langsam!", schaltete sich Maia ein. Solange die beiden Kleinen am Tisch saßen, sollte sie nicht mit ihrem halbernstgemeinten schwarzen Humor aufwarten. Markus und Lena hatten mittlerweile aufgehört an ihrem Brot zu beißen und beobachteten uns ängstlich.
„Niemand stirbt hier. Mum hat eben nur einen Witz gemacht!", meinte Maia in die Richtung der Kleinen.
„Also stirbt niemand?", fragte Lena schüchtern nach.
„Vorerst nicht!", nahm Maias Mutter ihr das Wort aus dem Mund und mein Vater und sie sahen sie vorwurfsvoll an. Das hatte die Situation nicht gebessert.
„Esst weiter. Es ist alle gut", versuchte nun ihr Vater Lena und Markus zu beruhigen. Das schien tatsächlich zu helfen, denn beide lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Brote.
Spätestens als ihr Vater ganz innovativ anfing, über das Wetter zu sprechen, entspannte sich die Situation am ganzen Tisch.
.. .. ..
Miserabel.
Das Wort beschrieb ihren Zustand am besten. Es war um Mitternacht, die Zeit wollte nicht vergehen. Jedes Mal, wenn Maia einen Blick auf ihr Handy warf, war nicht einmal eine Minute vergangen. In ihrem Kopf brummte es wie verrückt, sie konnte nicht klar denken. Sie saß zusammengekauert auf ihrem Bett und wippte von hinten nach vorne. Und wieder von hinten nach vorne. Es fühlte sich an, als würde sie sterben. Als würden eine Truppe Bohrer ihren Kopf zerbohren.
Ihr Auge sah verschwommen, sie sah unscharf. Zitternd atmete sie aus. Es tat so weh! Wieso musste ihr Kopf so stark schmerzen, dass sich dieser auf ihren Körper auszubreiten schien und bis in ihre kleine Zehen zu strahlen schien.
Stöhnend stand sie auf und schwankte zu ihrem Spiegel. In den wenigen Sekunden, die sie klar sah, sah ihr Gesicht aus wie immer, nur das Auge war geschwollen. So fühlte es sich nicht an und das sie auf beiden Augen nur versdchwommen sah war wohl auch nicht normal!
Mit Tränen in den Augen ließ sie sich am Spiegel zum Boden gleiten und hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest, als würde er ohne diese auseinanderfallen. Sie sollte ihren Eltern Bescheid sagen. Sie musste ihren Eltern Bescheid geben! Das letzte was Maia wollte war ihre Eltern aufzuwecken. Sie würde noch warten, beschloss sie. Es würde vergehen. Ganz sicher! Es würde wieder besser werden. Sie bildete sich einen Teil ihres Schmerzes mittlerweile nur noch ein. Sie hatte sich hineingesteigert. Nur hineingesteigert. Die Schmerzen waren nicht so schlimm.
„Die Schmerzen sind nicht so schlimm. Sie sind nicht schlimm. Ich bilde mir das nur ein. Ich bilde mir das nur ein!!" Wie ein Mantra sagte sie sich diese Sätze immer wieder auf, versuchte sich, zu beruhigen.
„Die Schmerzen sind nicht so schlimm. Sie sind nicht schlimm. Das ist alles Einbildung. Das ist Kopfsache. SIE SIND GAR NICHT SO SCHLIMM!!!", flüsterte sie zunehmend lauter. Sie wurde immer verzweifelter. Hektisch stolperte sie zurück zum Bett. Es war so heiß!! Es war so heiß im Raum! Maia hatte das Gefühl sie würde verbrennen. Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es mittlerweile fast ein Uhr war.
Ihr war so heiß! Sie sollte lüften. Frische Luft war gesund! Halb blind stolperte sie zu ihrem Fenster und riss es auf.
Es wurde nicht besser. Ihr wurde nicht kälter. Ihre Kopfschmerzen wollten nicht verschwinden. Im Gegenteil.
Ein Blitz durchschoss sie, sie konnte nicht mehr atmen. Panisch legten sich ihre Hände um ihren Hals, dann wieder zurück zu ihrem Kopf. Sie ertrug den Schmerz nicht. Der Blitz hatte Maia den Rest gegeben.
Ihr Leid war unbeschreiblich. Ihr Schrei gellte durch ihr Fenster in den Garten, in die Freiheit, durch ihre Zimmertüre durch den Gang, der zu den Zimmern ihrer Geschwister führte, und auch zu dem ihrer Mutter und ihres Vaters.
Diese wurden von einem Geräusch geweckt, dass sie erst gar nicht identifizieren konnten. Sie dachten zuerst, dass das Geräusch von der Straße käme bis ihnen spätestens dann klar wurde, dass dies nicht der Fall war, als ihr kleiner Junge Markus panisch in ihr Zimmer gestürmt kam, um ihnen unter Tränen erzählte, dass es Maia war, die schrie.
Ihre Mutter und ihr Vater merkten erst da, dass dieser Schrei ein Schrei vor Schmerzen war, dass dieser Schrei verzweifelt war.
Beide fuhren aus ihren Betten hoch, Maias Vater stürmte an Markus vorbei, Maias Mutter nahm ihren Sohn in ihre Arme und versuchte, den Kleinen zu beruhigen. Der Blick, den sie ihrem Mann hinterherwarf war voller Angst und Bange.
Und das zurecht. Als ihr Vater Maias Zimmer betrat, bemerkte er, bevor er Maia entdeckte, dass ihr Fenster offen war, ihre Bettdecke völlig verwühlt und ihr Kopfkissen am Boden lag. Erst dann sah er die eigentlich groß gewachsene Maia in der Ecke bei ihrem Spiegel kauern, ihr Gesicht an den Spiegel gedrückt. Ihr Schrei war mittlerweile zu einem stummen übergegangen, in ihrem Gesicht war verzerrt vor Schmerz.
Als Elternteil wünschte man sich immer, dass es dem eigenen Kind gut geht und dass es nicht leiden muss. Maias Vater war voller Angst. Diese große Angst versuchte ihn zu übermannen. Er war verzweifelt. Er wusste nicht, wie er helfen konnte. Wie sollte er ihr helfen, wenn er nicht wusste, was seiner eigenen Tochter fehlte!?! Er fühlte sich das erste Mal wie ein mieses Elternteil, als er endlich begriff, dass er immer noch nicht zu seiner Tochter gelaufen war, um sie zu drücken, ihr somit zu versuchen beizustehen oder einen Krankenwagen anzurufen.
Er war völlig überfordert, als er sich ihr eilig näherte, zu diesem Haufen Schmerz.
Die Berührung, die Hand, die er seiner Tochter an den Oberarm legte, schien sie zu erschrecken. Vielleicht wurden die Schmerzen durch die Berührung noch stärker. Er wusste es nicht, aber bei dem WImmern, dass sie ausstieß, zog er seine Hand schnell wieder weg.
Maias Vater starrte sie an und als sie ihren Kopf zu ihm drehte, dass sie ihm über den Spiegel ins Gesicht sehen konnte , immer noch fest an den Spiegel gedrückt, sah er nicht in die lieben, klugen Augen seiner ältesten Tochter, sondern in einen schwarzen Strudel voller Verzweiflung und Schmerz und es schien, als ob sich diese beiden Empfindungen um ihren Platz stritten, darum kämpften, wer der schlimmere, penetrantere war. Allerdings konnte er noch etwas sehen. Nicht in den Augen Maias, sondern im Spiegel.
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5
"Sieht sie wegen uns so aus?", fragte jemand aus der Ferne eine andere Person.
"Nein, an uns liegt das sicherlich nicht. Wir haben sie durch ein Tor gezogen, nicht sie verprügelt!", knurrte diese andere Person, ebenso weit entfernt.
"Ich dachte, sie wäre die Nette? Mir scheint es nicht so, als würde jemand, der grün-blau im Gesicht ist, sonderlich nett sein. Sie hat sich geprügelt!", meinte die erste Person wieder.
"Oder aber sie wurde verprügelt. Wie auch immer! Das kann uns doch völlig egal sein. Sie ist hier, um uns zu helfen. Der Nebeneffekt ist, dass sie ohne diese ganzen Schwellungen akzeptabel anzusehen ist!", knurrte die zweite Person zurück.
"Du bist ein Arsch!", meinte die erste Person wieder. Da konnte Maia nur zustimmen. Wer auch immer diese zwei Personen waren und was auch immer diese wollten, die Stimmen kamen immer näher, was Maia sagte, dass sie wohl gleich entgültig aufwachen würde.
"Ich erledige, was erledigt werden muss und lasse mich nicht von bedeutungslosen Kleinigkeiten aufhalten!", donnerte Person eins wütend. Eine von zwei der Personen, die sich in ihrer Nähe befanden, war ihr unsympathisch.
"Sie ist neu hier! Wir dürfen sie nicht behandeln, als wäre sie unsere Geisel! Das ist ihr gegenüber nicht fair! Sie kennt sich hier nicht aus und wird wohl erstmal nichts verstehen. Ich persönlich wäre überfordert, wenn ich an ihrer Stelle aufwachen würde".
"Du bist auch dumm!", entgegnete Person eins Person zwei. Person eins war wirklich erwachsen wie es schien. Die Stimmen waren mittlerweile so nah, dass sie über die Lautstärke ihr Gesicht verzog.
"Sie wacht auf!", meinte Person zwei und ging nicht auf die Beleidigung zehn Sekunde vorher ein.
"Das sehe ich!", knurrte Person eins wieder.
Genervt zog Maia ihre Augenbrauen zusammen, wischte sich mit ihrer rechten Hand übers Gesicht und atmete zischend ein, als der Schmerz, den ihre Hand durch diese einfache Bewegung verursacht hatte, ihr die Tränen in ihre jetzt geöffneten Augen trieb.
Das erste, dass sie sah, war die Decke. Grau und trist. Ohne ihren Körper zu bewegen, drehte sie nur ihren Kopf erst nach links, dann nach rechts. Auf jeweils einer Seite stand ein Mann. Soweit sie es oberflächlich beobachten konnte, musste der grummelige Mann der zu ihrer Linken sein. Ohne etwas zu sagen, setzte sie sich auf und ließ alles auf sich wirken.
Maia saß auf einer leicht gepolsterten Liege, die aus Holz war. Der Raum besaß eine Wölbung und wurde durch Fackeln leicht erleuchtet. Der gelborangene Schein der Fackeln ließ die Wände wie vergilbtes Papier aussehen. Der alte und etwas heruntergekommene Schein war jedoch nicht nur Schein. Dies konnte man auch am leicht modrigen Geruch erkennen, der den Raum schmückte. Nun zu den zwei Personen. Beide Männer schienen noch relativ jung, jedoch vom Leben gezeichnet. Auch wenn die Züge des Rechten nicht ganz so hart schienen wie die des Linken, ähnelten beide eher Steinfiguren als Menschen mit Gefühlen. Besonders die Augen des Linken waren bemerkenswert. Es war ihr, als würde keine Seele hinter diesen Augen schlummern, als würden die Augen nur Spiegel sein, in denen sich ihre eigene widerspiegelte. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie sich mit dem Mann ein Blickduell lieferte, bis sie sich von ihm abwandte und sie im Augenwinkel einen Hauch von Zufriedenheit übers Gesicht fliegen sah, auch wenn diese minimale Gefühlsregung so klein und fast unsichtbar war, dass es ihr schien, als könnte sie sich dies eingebildet haben. Als sie den Rechten anstarrte, fing sie an ihn mit dem Linken zu vergleichen. Die Größe war gleich, die beiden waren gleichgroß oder zumindest nicht entscheidend unterschiedlich groß oder klein. Auch wenn sie an den Furchen im Gesicht des Rechten vermutete, dass dieser der Ältere war, hatte wohl der Linke das Sagen. Wenn sie mit ihrer oberflächlichen Vermutung richtig lag. Böser auf Maia wirkte der Linke. Als sie dem Rechten in die Augen starrte, erwiderte dieser ihren Blick nicht richtig, sondern richtete seinen Blick wartend auf die Person hinter ihrem Kopf. Zumindest mit der Vermutung, dass der Linke das Sagen hatte, lag sie richtig. Gemächlich drehte sie ihren Kopf in Ausgangslage, sodass sie weder den einen noch den anderen richtig ansah und drehte sich dann so, dass sie dem Rechten den Rücken zeigte und das Gesicht zum Linken gerichtet war. Langsam rutschte sie von der etwas höher als Hüfthöhe gelegenen Liege und richtete sich gerade auf. Gerader Rücken, breite Schultern und harter und zielgenauer Blick. Ihre Augen landeten exakt in den des Linken und beide starrten sie sich an und wagten es nicht, den Blickkontakt abzubrechen.
Maias Herz klopfte wie verrückt. Auch wenn sie auf die Männer ruhig wirkte, ruhig aufgrund der Tatsache, dass ihr Verstand die Situation noch nicht verarbeitet hatte, war sie innerlich ein Strom aus Gefühlen. Verwirrung, Angst, Irritation, und dennoch eine Klarheit. Offensichtlich brachte sie diesen Strom nicht an die Oberfläche, sodass die Herren sie nicht für voll nahmen. Sie würde ab jetzt Beobachter sein. Beobachten und notieren. Sie wusste nicht, wo sie hier gelandet war und wie sie hier wegkam. Und solange sie keinen Plan hatte,-in jeglicher Sicht-, war Flucht ausgeschlossen. Wenn sie dem Gespräch der Männer anfangs Glauben schenkte, dann war sie durch ein Tor gezogen worden. Das hieße dann, dass sie gekidnappt worden war. Ob es für die Art des Tores eine logische Erklärung gab, war sie sich nicht ganz sicher, denn auch wenn sie sich bisher nur in diesem einen Raum aufgehalten hatte, stimmte hier etwas nicht. Es lag nicht an der hölzernen Unterlage auf der sie gelegen hatte, auch nicht am modrigen Geruch in der Luft und auch nicht an den Fackeln, die in Ständern an der Wand angebracht waren, zumindest nicht hauptsächlich. Es lag am seltsamen Verhalten, den vernarbten Händen des Rechten, der Kleidung und den Accessoires. Die Kleidung beider war dunkel gehalten, was selbstverständlich nichts ungewöhnliches für einen Klischee-Verbrecher war. Auch Waffen waren nichts Ungewöhnliches für einen Schwer-Verbrecher. Nur trug heute normal niemand mehr Schwerter oder Kettenhemden. Und erst recht keine unbequem aussehenden Schuhe. Besser ausgedrückt keine solchen Schuhe. Die Machart. So genau hatte sie sich noch keinen Blick auf die Schuhe getraut und auch den Details der Kleidung hatte sie noch keinen Blick geschenkt. Dennoch war sie sich sicher, dass dort noch mehr Waffen versteckt wurden. Wer immer diese beiden Männer waren, sie waren gefährlich und der Linke hatte das Zepter in der Hand.
.. ..
Es war ruhig im Raum, außer Atem war nichts zu hören. Langsam wurde es wirklich unangenehm, aber keiner von beiden wollte den Blickkontakt abbrechen. Diese Stille gab es oft, allerdings nicht in diesem Kontext. Wo auch immer Lord Millan aufkreuzte, wurde es still, jedoch aufgrund des Respekts und der Ehrfurcht, nicht wegen eines Blickduells. Wegen eines Blickduells zwischen einem jungen Mädchen und einem Lord war noch nie eine solche Stille eingekehrt. Nur die wenigsten konnten länger als einige Sekunden den Blickkontakt des Lords aufrechterhalten und erst recht kein Mädchen. Diese Zeiten waren nun offensichtlich vorbei. Dass sie ihm entgegentstarrte mit geradem Rücken und reglosem Gesichtausdrucks grenzte an Verspottung. Es war Verspottung. Ob beabsichtigt oder nicht. Verspottung Ihrer Lordschaft. Kein nervöses Schlucken, kein Kauen an der Lippen, nichts. Dieses Mädchen hatte sicher Angst oder zumindest ein auf irgendeine Weise aufwühlendes Gefühl, und die Tatsache, dass sie es sich nicht anmerken ließ, verdiente einen gewisses Maß an Anerkennung. Klug war sie scheinbar nicht, denn sonst hätte sie nicht angefangen, wobei es nicht ganz ihre Schuld war. Geschulten Augen, die Lord Millan bereits seit Kindheit kannten, war ersichtbar, dass er triumphierte, dass das Mädchen vorher ihren Blick abgewandt hatte. Und das Mädchen hatte das wohl gespührt oder das Adrealin ließ sie übermütig werden, weshalb sie beschlossen hatte, dass sie ihm nun die Augen aus dem Kopf starren würde. Und das gleiche dachte sich gerade der Lord, der jetzt schon fast trotzig dem Mädchen entgegen starrte. Das wütende Funkeln in seinen Augen war nicht mehr zu verstecken. Dies schien das Mädchen gemerkt zu haben, denn sie reckte leicht und herausfordernd ihr Kinn in die Höhe. Ihren Gesichtsausdruck konnte Lord Millans Begleiter nicht erkennen, wehalb er seinen Posten hinter dem Lord, dem Mädchen und der Liege verließ, um sich so zu stellen, dass er die Gesichter beider gut im Blick hatte. Wie er es fast vermutet hatte, lag ihr zu dem gereckten Kinn ein leichtes Grinsen im Gesicht. Das Adrealin sollte demnächst nachlassen, sonst würde es sicherlich Probleme mit dem Mädchen geben. Ein dickköpfiges Kind, dass keinen Respekt und keine Furcht hatte, war nicht das, was der König, der Lord und sein Volk benötigten.
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6
Diese Starrerei wurde anödend. Wie lange sollte das so noch weitergehen? Das war völliger Unsinn, hier herumzustehen und einem trotzigen, böse guckenden Fremden in die Augen zu starren.
„Maia. Sie dürfen mich Maia nennen", unterbrach sie die Stille und hielt dem Mann, dem sie nach wie vor in die Augen starrte, ihre Hand hin. Einen Moment lang konnte sie Verwirrung in seinen Augen erkennen, sie verkniff sich das leichte Zucken ihres Mundwinkels und stellte sich ihn nur vor. Sie sollte sich besser mit den Männern gut stellen. Zudem hatte Höflichkeit noch keinem geschadet.
„Lord Millan. Meinen Begleiter dürfen Sie Jasper nennen. Mein Vertrauter, Freund und Mann für Alles. Sehr erfreut Sie kennenzulernen!" Mit diesen Worten reichte der Lord Maia seine Hand. Für den Lord stellte es sich als kleinen Problem dar, ohne hinzusehen Maias Hand zu finden, sodass er wider Willen gezwungen war, den Blickkontakt abzubrechen, um Maia die Hand reichen zu können. Lord Millans Händedruck war stärker als gedacht, wie dieser feststellte, als sich die Hand des Mädchens nicht mehr richtig um seine Hand schließen konnte. Sofort öffnete er seine Hand wieder ein Stück.
Er war es nicht gewohnt, Frauen die Hand zu reichen. Lediglich Männern reichte er die Hand, und diese waren für gewöhnlich gestandene Männer mit Kriegserfahrung, die ihren starken Griff gelernt hatten, als sie mit ihren Waffen um ihr Leben und ihr Land kämpften. Einer Frau hatte er noch nie die Hand gereicht. Für gewöhnlich wurde er von diesen durch einen höflichen Knicks begrüßt und einem Blick, der vor Unterwürfigkeit so strotzte. Damen in seiner Gesellschaft waren nur Zierde und dienten, um sich um ihre Männer und gegebenfalls die Sprösslinge zu kümmern. Er hatte sich nicht über die Welt, aus der dieses Kind stammte, informieren können, aber es schien einige Unterschiede zu geben. Er müsste später den oberen Bibliothekar aufsuchen, um sich ein oder zwei Bücher über ihre Welt geben zu lassen. Falls es Aufzeichnungen gab.
Lord Millans Hand fühlte sich riesig an, wohingegen ihre Hand fast in seinem Klammergriff verschwand. Besonders die Handinnenflächen waren rau und ähnelten eher Schmiergelpapier als Haut. Die Schwielen an den Händen waren nicht nicht zu übersehen. Oder in diesem Falle zu überspüren. Maia wollte nicht wissen, was dieser Mann in seiner Freizeit machte. Oder in seinem Beruf, denn durch kein Benutzen von Handcreme wurden Hände nicht so rau. Naja, Maia wollte eigentlich gar nichts wissen. Sie wollte nur aufwachen aus diesem Albtraum. Bisher war dieser sehr real wirkende Traum noch kein Albtraum, aber ihr erschien das Alles wie ein sehr passabler Anfang eines Albtraumes.
Sie sollte seine Hand wieder loslassen, schoss es ihr durch den Kopf. Das Blickduell, dass sie sich geliefert hatten, und bei dem sie gewonnen hatte, war ihr genug Annäherung für einen Tag. Auf jeglicher Ebene. Und es kam seltsam rüber, wenn sie nicht endlich ihre Hand aus seiner nehmen würde.
Mit einem leichten Ruck entzog sie ihm ihre Hand und umgriff diese mit ihrer anderen Hand. Sollte Maia jetzt etwas sagen? Oder wollte Lord Millan oder sein Freund Jasper etwas zur Aufklärung der Situation beitragen?
„Wir haben dir noch einiges zu erklären!", sagte Jasper und Maia nickte nur mit dem Kopf. Ja, dass hatten sie wohl.
„Am besten bitte eine plausible Erklärung-", sie stoppte in ihrem Satz und machte eine kreisende Bewegung in die Luft, „-für all das hier!" Vielleicht merkten die Männer ihr die Panik, Verwirrung und immer noch nicht, aber beides war nach wie vor da und wurde nicht besser. Beides stieg in Vergleich mit einem farbenwechselnden Termometer, abhängig der Temperatur, in den roten Bereich.
„Du wirst deine Erklärungen bekommen. Nach dem Frühstück", meinte Jasper. „Und wann genau ist das Frühstück?", stellte Maia die Frage, die ganz offensichtlich zu stellen war.
„Nach Sonnenaufgang, wenn die Sonne ganz am Himmel zu sehen ist!", beantwortete Jasper ihr die Frage.
„Könnten Sie das spezifischer angeben? In Stunden? Um sieben? Um acht oder neun? Irgendwie so in der Art?" Maia hatte keine Ahnung wann die Sonne aufging, ebenso wie sie nicht verstand, wieso sie so ahnungslos von den zwei Männern angeschaut wurde. „Wisst ihr was? Ihr sagt mir Bescheid, wenn es so weit ist. Klingt das nach einem Vorschlag?"
„Wir werden dich jetzt in deinen Schlafraum bringen und du wirst dann pünktlich abgeholt. Es dauert noch eine Weile bis es soweit ist", sagte der Lord kühl. Damit war Maia auch zufrieden. Wenn sie ihr die Uhrzeit sagen hätten können, wäre es noch leichter gewesen.
Nach einem knappen Nicken ihrerseits bewegten sich Jasper und der Lord in Richtung Türe und Jasper, der Lord Millan die Türe aufhielt, bedeutete Maia mit einer Geste, ihnen zu folgen.
Sie befanden sich nun in einem Gang. Fenster sah Maia keine. Nur die Fackeln an den Wänden gaben Licht an. Als sie die Treppe hinaufgingen wurde ihre Vermutung bestätigt. Sie hatte sich gerade im Keller befunden. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, war, dass sich über ihr kein Gebäude wie ein Schloss befand, sondern der freie Himmel und seitlich Ruinen, die von Efeu und Gräser bewachsen waren und in das Landschaftsbild passten. Fragend blickte sich Maia um.
Diese ganze Geschichte wurde immer absurder. Wenn sie nicht bald alleine wäre, würde sie noch vor den beiden Männern anfangen in Panik auszubrechen. Die Panik war das einzige, dass sich echt anfühlte und diese füllte jede Ecke ihres Körpers aus.
„Wir befinden uns an den Anfängen der Ostlandschaft. Wir müssen ungefähr einen viertelten Tagesritt in Richtung der Tarnui. Sie leben in den Gebirgen der Ostlandschaft", informierte sie Jasper und verstehend nickte. Das ihr verstehendes Nicken nicht ernst gemeint war, war ihm klar.
Er befand es nicht für gut, sie nicht aufzuklären. Das sie nicht alles wissen musste, dem konnte er zustimmen. Das würde nur der Sache schaden. Aber sie bis nach dem Frühstück warten zu lassen, bevor man sie über seine Welt aufklärte, war nicht sehr klug. Wenn er es bestimmen würden, würde er sie sofort aufklären. Mindestens darüber wo sie war. Das Mädchen musste riesige Angst haben. Dass sie es verstecken konnte hieß nicht, dass es nicht existierte. Nur hatte er nicht das Sagen, sondern der Lord. Und dieser weigerte sich trotz aller Umstände, vor dem Frühstück arbeiten zu müssen oder über Arbeit zu sprechen. Wäre das Mädchen nicht so interessant für ihn gewesen, wäre er sicher nicht mitgeritten. Lord Millan lag nicht viel an dem Mädchen und das würde sich nicht ändern. Es war zwar seine Idee gewesen, dass Mädchen zu sich zu holen, allerdings war er nicht begeistert, da es riskant war. Der gesamte Plan war gefährlich. Würde er nicht funktionieren, würden sie verlieren und die Mühen wären umsonst. Die Zeiten hier waren nicht die besten. Und würde der Plan nicht funktionieren, würden sie alle eine Bauchlandung hinlegen.
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7
Laut klopfte es an ihrer Tür und Maia, die unruhig dösend auf der weichen Matratze lag, schreckte auf. Eilig stand sie auf und öffntete die Tür, die sich nur mit Mühe öffnen ließ und erblickte eine fremde Frau, die in ihrem einfarbigen Gewand still und wartend vor ihr stand und sich vor Maia verbeugte. Maia ließ sich nicht anmerken, dass sie von dem Verhalten der Frau, die sie unsicher und mit großen Augen anblickte, verwirrt war.
Nur noch bis nach dem Frühstück, dann würde sie ihre gewünschten Antworten bekommen, wiederholte sie den Satz, den sie seit dem Ritt wie ein Mantra vor sich hinmurmelte. Ungefähr drei Stunden waren sie geritten, wie Maia dank ihrer Uhr feststellen konnte. Wie es schien gab es hier keine Uhren, also würde sich Maia so zurecht finden müssen. Ein viertelter Tagesritt ergab drei Stunden, also dauerte der Tag hier zwölf Stunden. Wenigstens etwas, dass ihr nicht unbekannt vorkam. Diese drei Stunden waren keine schönen Stunden. Sie durfte in der Mitte reiten und Jasper konnte sie die ganze Zeit auslachen, denn sogar ein Stein konnte besser reiten als sie. Ihre Reitkünste waren nicht die besten, denn mehr als auf dem Ponyhof eine Runde im Kreis im Schritt war sie nie geritten. Das einzige, das sie über Pferde wusste war, dass man sich um sie kümmern sollte. Damit fand ihr Pferdewissen wieder ein Ende. Und genauso saß sie auch im Sattel. Unfassbar angespannt und immer darauf bedacht, dass Tier nicht zwischen ihren Beinen, die panisch versuchten, sich um das Pferd zu klammern, zu zerquetschen, um auf dem Pferd zu bleiben. Zum Ende hin saß sie zwar sicherer im Sattel, allerdings würde sie keinem Pferd mehr zu Nahe kommen, um stundenlang darauf zu reiten, wenn es nicht darum ging, reiten zu lernen. Einmal ohne Ahnung und mit kalten Schweiß am ganzen Körper hatte ihr gereicht.
"Wenn Sie mir folgen würden!", wurde Maia von der Frau aufgefordert. "Natürlich!", antwortete Maia und bedachte die Frau mit einem Lächeln. Die Frau musste sie für bescheuert halten, wie sie in Gedanken versunken in die Luft geguckt hatte. Sie gingen bestimmt fünf Minuten die Gänge durch das Schloss, zu welchem der Lord, Jasper und Maia geritten waren, bevor sie zu der Türe kamen, die ihnen von zwei Männern, scheinbar Wachen, geöffnet wurde und hinter welcher sich ein großer Frühstückssal befand. Der Tisch war riesig, eine lange Tafel, an der an der von der Tür entfernten Hälfte einige Männer saßen, darunter Jasper und der Lord. Beim Nähertreten fielen ihr die Wachen auf, die im Saal verteilt waren und ihre Schritte aufmerksam beobachteten und wenn sie es sich nicht eingebildet hatte, sogar unauffällig näher getreten waren.
Jasper bemerkte ihre Anwesenheit als Erstes und stand zügig auf, um zu ihr zu gehen und ihr charmant lächelnd einen guten Morgen zu wünschen. "Ich hoffe, du hast gut geschlafen", erkundigte er sich bei ihr und Maia nickte leicht. "Nicht gesprächig? Ich hoffe, du hast Hunger", meinte Jasper und sah sie fragend an, woraufhin sie wieder mit dem Kopf nickte. Das einzige, was sie wollte, waren Antworten. Mit einer Handbewegung forderte er den Mann, welcher neben ihm saß, auf, sich zu entfernen und bot Maia den Platz an, auf welchen sie sich stumm setzte. Stumm nahm sie sich ein Brot und Obst. Gab es hier keine Marmelade oder Honig? Das es hier vielleicht kein Nutella gab, war zu vermuten, allerdings sah das braune Etwas in dem Schälchen direkt vor ihr nicht frühstückstauglich aus. Ihrer Vermutung nach war im Schälchen so etwas wie Leberwurst oder eine andere Fleischpaste und nein danke, aber ganz sicher nicht zum Frühstück! Und dann kam noch hinzu, dass das auch Mäusefleisch sein konnte, sie wusste schließlich nicht, welche Gerichte hier auf dem Speiseplan standen.
Erst als sie von ihrem Teller aufsah, bemerkte sie der Blicke der Männer. "Was?", fragte sie barsch. "Das machen eigentlich die Diener", wies mich einer der Männer mit missbilligendem Blick zurecht. "Ich soll mir jemanden rufen, um mir mein Essen, welches keinen ganzen Arm von mir entfernt ist, auf den Teller zu legen?", fragte Maia genervt. "Ganz richtig. Jeder mit gutem Benehmen wüsste das", wurde Maia mit hochgezogener Augenbraue von dem selben Mann kritisiert. Maia blickte den Mann mit zusammengekniffenen Augen an. Möglich, dass das hier Gang und Gäbe war, dass hieß dennoch nicht, dass das gutes Benehmen war. Mit solchen Kleinigkeiten wollten die Wichtigen und Reichen zelebrieren, dass sie besser waren als die restlichen Menschen. Typischer Akt der Klassifizierung. Lächelnd nahm Maia ihr Brot wie einen Borrito in die Hand, biss hinein und riss sich ein Stück mit ihren Zähnen ab, um sich dann den Apfel zu nehmen und noch ein Stück abzubeißen, damit ihr Mund überfüllt und sie gezwungen war, zu schmatzen. Dann wischte sie sich ihren Mund an ihrer Hand und ihre Hand an ihrer Hose ab, anstatt an der dafür gedachten Serviette. Die entsetzten Blicke der Männer ignorierte sie. An Lord Millan gerichtet sagte sie: "Ich hätte jetzt gerne auf der Stelle meine Antworten!" Es war Jasper, der anwortete: "Wir werden dazu in den Nebenraum gehen". An die Männer gerichtet sagte er: "Die Herren, wenn Sie uns entschuldigen würden, wir werden die junge Dame nun über die Sache aufklären!" Zusammen mit dem Lord und Jasper verließ sie den Frühstückssaal und folgte ihnen in den angrenzenden Raum, der einem Wohnzimmer stark ähnelte.
"War das nötig?" Lord Millan blickte sie mit hochgezogener Augenbraue an. Ohne zu antworten ließ sich Maia auf einen Sessel sinken und schlug ihre Beine übereinander. Seufzend legte Jasper dem Lord eine Hand auf die Schultern und nach einem schnellen Blickaustausch setzten sich beide ebenfalls.
"Was möchtest du denn wissen?", wollte Jasper wissen und Maia war kurz daran, laut aufzulachen. Als wäre das nicht offensichtlich.
"Was mache ich hier? Wo bin ich hier? Und wie komme ich hier wieder weg?" Jetzt lachte Maia doch. Es war zu absurd. Das war alles zu absurd.
"Gerade bist du in Cana, der größten Stadt hier im Land Daguria. Wie du sicherlich bemerkt hast, bist du nicht mehr in deiner Welt. Wie hieß dein Land?" Es zu hören war etwas anderes als es zu denken. Maia hatte das Gefühl, sie müsse sich gleich übergeben. Es war zu surreal. Das musste ein Traum sein, doch es konnte kein Traum sein. So viel Fantasie hatte sie nicht und sie wäre bestimmt schon aufgewacht! An den interessantesten und absurdesten Stellen eines Traumes wachte man immer auf!
"Deutschland. Mein Land heißt Deutschland. Und ich will dort hin zurück. Sofort! Ist mir völlig egal, wieso ich hier bin, ich möchte jetzt zurück! Ich habe hier und will hier nichts zu suchen haben!", stieß sie mit lauter und fester, aber doch verzweifelter Stimme hervor und wollte zur Tür gehen, doch eine Hand packte sie am Handgelenk.
"Setz dich hin!", sagte der Lord und in seinen Augen konnte Maia Wut erkennen. Er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand wiedersprach oder ihn vor vollendete Tatsachen stellte. Und wenn sie ihm nicht auf die freundliche Art zustimmte zu helfen, dann würde er es auf die unfreundliche Art versuchen. Auf die eine oder andere Art. Sie würde ihnen helfen. Sie hatten dieses unerzogene Kind nicht umsonst in ihre Welt gebracht.
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