6 | Das Ziel vor Augen

Nun war das Ziel mit einem Mal zum Greifen nahe! Das Ziel, auf das ich Jahre lang hingearbeitet hatte, wofür ich Tränen und Blut vergossen hatte. Hoffnung keimte in mir auf, dass der ganze Schmerz, das ganze Leid, die ganzen Qualen nicht umsonst gewesen waren!

Zu nah am Abgrund habe ich gestanden, um das Glück nochmal auf meiner Seite zu hoffen. Aber erstaunlicherweise wollte mich das Schicksal dann doch nicht dem Leid überlassen. Nicht nur, dass die Weihnachtsferien ein paar Tage früher angefangen haben. Danach ging es auch noch ganz entspannt im Lockdown weiter. Was wollte ich mehr? - Gar nichts!

Es war sehr angenehm mir meine Zeit selber einteilen zu können. Für jede Aufgabe konnte ich mir - im Zeitrahmen - soviel Zeit nehmen wie ich wollte. Konnte entscheiden wann ich was wie schnell machen möchte. Und vor allem an welchem Ort! Ohne dauerhafte Panik lernen und mich weiter bilden zu können, Aufgaben mit Freude zu bearbeiten - mehr hatte ich gar nicht gewollt. Wie ein Traum der endlich wahr geworden ist, einfach unvorstellbar schön. Konnte es nicht für immer so bleiben?

Nein, das könnte es nicht.

Im Gegensatz zum ersten Lockdown, kümmerte ich mich nun selber um die Aufgaben. Inzwischen liefen die ganzen Aufgaben über eine Internetseite und ich konnte die Dateien an meinem Laptop bearbeiten. Das einzige was meine Mutter immer noch für mich übernahm, war das Ausdrucken.

Nach dem ersten Monat kam die so bekannte Angst zurück und umhüllte mich schon wieder wie eine erblindene Nebelschwade. Mir war klar, dass der Lockdown nicht ewig gehen würde. Dauernd wurde darüber gesprochen, dass man hoffe es würde bald wieder enden und Vermutungen über erste Termine in viel zu naher Zukunft wurden geäußert. Das jagte mir natürlich jedes Mal eine Heidenangst ein.

Wodurch ich mir diese entspannte Zeit ordentlich ruinierte. Denn ich hatte noch einen guten Monat zu Hause.

Diesen nutzte ich, um neben den Schulaufgaben auch fleißig Bewerbungen zu schreiben. Leider bekam ich nur wenige Rückmeldungen, aber so freute ich mich dann auch über Absagen, da ich dann wusste wodran ich war.

Bis zu dem Tag, an dem das Unausweichliche eintrat, lebte ich in der Angst, dass dieser Tag kommen würde. Der erste Tag nach dem Lockdown und wieder zurück im Präsentunterricht, war auch noch mein Geburtstag. Doch jetzt waren es sowieso nur noch drei oder vier Monate bis zu den Sommerferien. Nun war das Ziel mit einem Mal zum Greifen nahe! Das Ziel, auf das ich Jahre lang hingearbeitet hatte, wofür ich Tränen und Blut vergossen hatte. Hoffnung keimte in mir auf, dass der ganze Schmerz, das ganze Leid, die ganzen Qualen nicht umsonst gewesen waren!

Umsonst wird es mit Sicherheit nicht gewesen sein! Keines Falls! Aber da war ich mir zu der Zeit noch nicht so sicher, obwohl ich gerade dabei war Blut zu lecken am Leben. An meinem Leben! Denn in den vergangenen Wochen hatte ich mir ein Ziel vor Augen geführt.

Nachdem endlich eine positive Rückmeldung auf eine meiner Bewerbungen kam, plante ich eine fahrt nach Berlin für das Bewerbungsgespräch mit anschließendem Probearbeiten für drei Tage. Enorm stolz war ich auf mich, diesen Schritt im Erwachsenwerden nun gehen zu dürfen. Zudem war das Probearbeiten auf einem Reiterhof. Ich liebte Pferde und das Reiten. Schon länger wollte ich eigentlich wieder Reitunterricht nehmen, aber die Pandemie war ein großer Stein auf diesem Weg. Dazu kam noch der Schulstress und die Tatsache, das mich jemand hätte dort hin bringen müssen. Daher freute ich mich jetzt darauf wieder Kontakt zu Pferden zu bekommen.

Aber zu dieser Vorfreude gab es auch eine Kehrseite: die Angst. Nicht das ich mir Sorgen machte die Stelle nicht zu bekommen. Noch wusste ich ja gar nicht, ob ich die Stelle tatsächlich wollte, weil sie auf der anderen Seite von Deutschland lag. Nein, Sorgen machte ich mir um etwas anderes. Nämlich ums Essen! Oder genauer gesagt um die Beschaffung des Essens.

Während für Millionen von Menschen das Einkaufen völlig normal, wie Spazierengehen, telefonieren oder Bus fahren war, war nichts davon für mich normal. Nicht mal ansatzweise denkbar! Wie sollte ich alleine die Zugfahrt bis nach Berlin überstehen und dann auch noch anrufen, um Bescheid zu geben, dass ich am Bahnhof stand, um abgeholt zu werden? Ganz zu schweigen davon, am nächsten Tag in einen Supermarkt zu gehen, um mir Essen zu kaufen. Eigentlich doch nichts besonderes, könnte man denken. Aber für mich unmöglich!

Wie ein nerviger Parasit nistete sich die Angst bei mir ein und verbot es meinem Körper meinen Befehlen Folge zu leisten. Es war schlichtweg nicht möglich für mich auf einen grünen Hörer zu drücken, um einen Anruf zu starten oder anzunehmen. Ebenso wenig wie in einen Supermarkt zu gehen und mich mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Kurz vor dieser Fahrt ging ich mit meiner Mutter Snacks für die Fahrt einkaufen. Mit einer vertrauten Person einkaufen zu gehen oder zu telefonieren war für mich erträglich. Dennoch versuchte ich möglichst viel an Essen mit zu nehmen, damit mein Einkauf in Berlin klein ausfallen würde.

Wie der Einkauf tatsächlich verlaufen würde, hätte ich nie gedacht.

Die Fahrt verlief eigentlich problemlos. Von Anfang an versuchte ich mich auf die Vorfreude zu konzentrieren. Anschlüsse und Wege waren kein Problem. Selbst am Berliner und Kölner Hauptbahnhof verlief ich mich nicht und konnte die Gleise gut finden, zu denen ich musste. Erst am Bahnhof, an dem ich in einem Bus umsteigen musste schien mein Unglück auf einmal zu einem riesen Problem vereint: Ich musste die Fahrkarte für die Busfahrt bei dem Busfahrer kaufen und erstmal den richtigen Bus finden!

Keine Ahnung was ich mir in dem Moment gedacht habe, als ich in den Bus stieg und dem Fahrer erklären musste was ich wollte und wie meine momentane Lage war: Fremd und orientierungslos in einer Gegend. Dass meine sozialen Kompetenzen nicht vorhanden waren und ich allein unter fremden Menschen in Panik gerate, ließ ich mal bewusst weg. Denn der arme Busfahrer war auch so mit mir mehr als überfordert. Offenbar fragten in den Ferien nicht oft Leute nach dem Weg zur Schule (die Haltestelle lag wohl an einer Schule). Aus Mitleid nahm er mich dann einfach so, ohne Ticket, mit. Wie ich dann meinem eventuell zukünftigen Chef telefonisch mitteilen konnte, dass ich gleich da war, ist mir immer noch unklar.

Vermutlich habe ich so ein Überlebenstick, dass ich Extramsituationen auf mich alleingestellt immer irgendwie durchstehen kann ohne völlig verrück zu werden. Oder ich bin einfach schon so bekloppt, dass ich den zusätzlichen Wahnsinn einfach wegstecken kann.

An diesen paar Tagen bin ich vermutlich mehr über mich heraus gewachsen, als in meinem bisherigen Leben zusammen. Was alles in dieser Zeit passiert ist werde ich nicht ausführlich erzählen.

Doch soviel will ich sagen: Es hat mir Spaß gemacht, irgendwie. Zum Teil war es wirklich befriedigend produktiv zu sein. Körperlich harte Arbeit gab mir das Gefühl am Ende des Tages etwas erreicht zu haben. Und endlich hatte ich wieder Nähe zu Pferden. Wenn auch nur flüchtig, da ich schließlich nicht zum Ponys streicheln da war. Trotzdem wusste ich nicht, ob es das war, was ich machen wollte. Mir war von vornherein klar, dass Tierpfleger nicht heißt den ganzen Tag Tiere knuddeln, sondern körperlich harte Arbeit ist und vor allem mit reinigen der Tierunterkünfte zu tun hat. Allerdings hab ich gemerkt, dass die direkte Arbeit mit oder am Tier weniger als die Hälfte der Zeit der Fall war. Und eigentlich wollte ich doch mit den Tieren arbeiten und nicht bloß Scheiße weg räumen. Daher sagte ich nicht direkt zu, als mir die Stelle angeboten wurde.

Was fast schon irre erscheinen mag, wenn man bedenkt, dass in etwa drei Monaten die Schule zu Ende sein würde und ich immer noch keinen Ausbildungsplatz hatte. Allerdings kannte ich mich. Wenn ich eine Stelle annehmen würde, bei der ich mich nicht richtig wohl fühlte, dann könnte das so enden wie in meiner Schulzeit: Mit dauerhafter Krankheit. Und das war so ziemlich das Letzte was ich erreichen wollte. Also musste ich mit Bedacht wählen, meinen Kopf aus- und mein Herz anschalten. Vor allem einen festen Glauben und ein unerschüttertes Vertrauen daran bewahren, dass ich das Richtige schon finden würde. Naiv? - Nein, nur optimistisch!

Letztendlich habe ich die Stelle ganz abgesagt, da es sich noch nicht hundertprozentig richtig anfühlte. Tatsächlich bekam ich kurze Zeit später auch noch ein Vorstellungsgespräch bei einem Tierheim, welches nur eine Stunde Autofahrt entfernt lag. Auch hier durfte ich zum Probearbeiten vorbeikommen. Für diese Zeit wohnte ich bei einer Freundin, welche ich aus der Wohngruppe kannte.

Ehrlich gesagt hat mir das Probearbeiten in dem Tierheim nicht besser gefallen, als auf dem Reiterhof. Im Gegenteil, die Leute machten den Eindruck als würde ich nicht mit ihnen klar kommen. Ein paar waren aber auch ganz nett. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich in so einer Atmosphäre arbeiten wollte. Selbst die Arbeit war tierferner als auf dem Reiterhof.

Da ich ständig im Austausch mit meiner Familie stand, erfuhr meine Mutter auch, dass es doch ein bisschen anders war, als ich es mir vorstellte. Daher schrieb sie mir einen Tag später, dass sie die Chefin eines Wildparks, der bei uns um die Ecke ist, getroffen und mit ihr gesprochen hatte. Dabei hatte sie offenbar irgendwie ein Probearbeiten für mich ausgemacht. Allerdings nicht, weil sie übergriffig ist, sondern weil die Frist bald abgelaufen war. Möglichst schnell wollten sie jemanden für die Stelle. Zwar suchten sie nach jemandem volljährigen, mit Führerschein und bevorzugt männlich. Und eigentlich hatten sie für die Stelle auch schon jemanden, aber es war noch offen, ob die jemand zweiten zusätzlich ausbilden wollten.

Die Wohnsituation, bei dem Probearbeiten wo ich zur Zeit noch war, hatte es auch in sich. Nicht nur, weil ich mich seltsamerweise außerhalb von Zuhause wohl gefühlt habe. Sondern vor allem, weil ich mich in meiner Freundin immer wieder selbst gesehen habe. Wie ein Spiegel, der mir nach all den Jahren mal vorgehalten wurde.

Was definitiv eine Erfahrung wert war. Denn wenn ich mir vor Augen führe, was das Verhalten für eine Wirkung hat, wenn mein eigene Schmerz, Wut, Verzweiflung nicht die Sicht blendet, dann verspüre ich nur noch Reue und tiefe Dankbarkeit. Auch wenn meine Reaktion, auf all die Faktoren, denen ich ausgesetzt war, vielleicht notwendig war - wie der augenöffnende Knall - so hätte ich meinem Umfeld das alles gerne erspart.

Als alleinerziehende Mutter hat man es selten leicht. Und dann auch noch eines kranken Kindes. Generell ein krankes Kind groß zu ziehen ist äußerst bewundernswert. Und als mir klar wurde, dass auch ich einst ein schrecklich krankes Kind war, begriff ich erst was für ein riesiges Glück ich hatte. Nicht alle Eltern gehen diesen schweren Weg mit ihren Kindern. Wie viel Kraft muss man haben, um ein Kind, dass sich gegen Hilfe und Liebe wehrt, weiterhin festzuhalten? Wie viel Geduld gehört dazu? Wie viel Aufopferung?!

Womit hab ich das Glück verdient, dass meine Eltern diese Kraft, Geduld, Aufopferung für mich erbracht hatten? Warum ich? Ausgerechnet ich - die nie gut genug für irgendwas ist! Und mir wurde dieses Glück zuteil?

Obwohl es mir dort nicht großartig gefallen hatte, hoffte ich auf eine Zusage, denn eigentlich wollte ich ja genau dort hin: in ein Tierheim! Den Tieren helfen, die sonst niemanden haben.

Zurück Zuhause stand erstmal das Probearbeiten im Wildpark an. Direkt am Abend meiner Heimkehr setzte ich mich noch hin, um eine Bewerbung zu schreiben. Und vor Beginn des Probearbeitens machten mein Bruder, sein bester Freund der bei uns zu Besuch war, meine Schwester und ich einen Ausflug dorthin.

Sofort wurde mir klar, dass zwischen den ganzen Besuchern ordentlich zu arbeiten, für mich eine Unmöglichkeit sein würde. Aber die Bewerbung war abgeschickt und die drei Tage würde ich schon irgendwie überstehen. Außerdem was hatte ich zu verlieren? Der Park würde mich ziemlich sicher nicht nehmen und auch ich hatte kein großes Interesse dort zu arbeiten. Trotzdem stand ich am nächsten Morgen vor der Tür zum Mitarbeiterraum.

Ich hatte ja keine Ahnung was eine Zeit hinter diesen drei lächerlich wenigen Tagen liegen würde. Und selbst wenn es mir jemand vorhergesagt hätte, hätte ich ihn vermutlich ausgelacht.

„Du kannst ruhig hereinkommen. Wir beißen nicht.", wurde ich scherzhaft begrüßt. Mit einem breiten Lächeln, welches ich gut aufsetzen konnte, betrat ich den Raum. „Alles wird gut!", wiederholt ich das Mantra in meinem Kopf, unwissend wie Recht ich damit haben sollte.

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