2 | Wie es weiter ging...

Die wichtige Lektion der Dankbarkeit: Dankbar zu sein, für das was ich habe. Und auch für das was ich nicht habe.

Gesagt - Getan. Mit 13 Jahren wechselte ich also, nach dem Wechsel vom Gymnasium auf die Realschulen, ein weiteres Mal die Schule. Auch hier wurde ich von bekannten und unbekannten freundliche mit offenen Armen aufgenommenen. Wie an den bisherigen Schulen auch, hatte ich an dieser Schule nette Lehrer. Doch zum ersten Mal bot mir die Klassenlehrerin Hilfe an. Wenn ich es im Unterricht nicht mehr aus hielt, durfte ich in einen neben Raum gehen. An sich eine tolle Lösung ... in der Theorie. In der Praxis musste ich dann nämlich erstmal dem Lehrer Bescheid sagen, dass ich jetzt eine Auszeit brauchte und dann den Raum verlassen, während die ganze Aufmerksamkeit auf mir liegen würde. Letztendlich wäre ich dann sowieso die, die immer eine extra Wurst bekommen würde. Ganz bestimmt wollte ich nicht, dass die anderen so etwas von mir dachten. Daher nutzte ich dieses Angebot so selten wie möglich, hielt es bis kurz vor Panikattacken in dem Klassenraum aus und schickte dann eine Freundin vor, den Lehrer zu fragen. Wie feige von mir! Aber lieber war ich feige, als vor der ganzen Klasse, die leider ziemlich groß war, eine Panikattacke zu bekommen.
Bisher hatte ich es immer verzögern können, bis ich alleine war und bin dann zusammen gebrochen. Doch an diesem Ort, mit dem ich so viel schlimmes verbinde, habe ich soweit ich mich errinnern kann das erste Mal eine Panikattacke im Unterricht und vor allem im Beisein anderer Menschen, in dem Fall meinen Mitschülern und meinem Sportlehrer gehabt.

Wir spielten gerade Völkerball, als ich schon merkte wie meine Gedanken in eine gefährliche Richtung schweiften. Obwohl ich mir sicher war eine Panikattacke zu bekommen, wenn ich nicht schnell meine Gedanken umlenkte, hing ich ihnen weiter nach. Eine der letzten war ich, die aus meinem Team noch im Spiel waren. Feige, wie ich nunmal war, ließ ich mich schnell abwerfen, damit ich mich am Rand vielleicht etwas beruhigen könne. Womit ich nicht gerechnet hatte, war der Moment, in dem ich vom Spielfeld ging und das Gefühl hatte die ganze Aufmerksamkeit läge auf mir. Dem war mit Sicherheit nicht so, trotzdem bekam ich erst keine Luft mehr und stellte mich zu meinen Freundinnen, die ebenfalls schon draußen waren. Sie bemerkten sofort, dass etwas nicht stimmte und sprachen mich drauf an. Panisch schnappte ich nach Luft und zitterte wie verrückt, während mein Herz das Blut in doppelter Geschwindigkeit durch meine Adern pumpte. Sogar die Tränen brachen aus meinen Augen und da kam selbst mein Sportlerer zu mir, um zu fragen ob alles gut sei. Augenscheinlich war es das ja nicht, deshalb durfte ich zum Glück schon mit zwei Freundinnen zurück in die Umkleide. Dort schaffte ich es mich wieder zu beruhigen, aber dennoch war es ein so traumatisches Erlebnis, dass ich in den kommenden Sportstunden mein Sportzeug "vergessen" hatte oder an dem Tag erst gar nicht in die Schule ging.

Statt in der Sportstunde zwei Seiten voll zu schreiben mit: ›Ich soll nicht mehr mein Sportzeug vergessen.‹, schreib ich nach den ersten dreimalen die Wahrheit: ›Ehrlich gesagt hab ich mein Sportzeug gar nicht vergessen, sondern absichtlich zu Hause gelassen, um am Sportunterricht nicht teilnehmen zu können. Denn schon beim Aufwachen war mir ganz schlecht, weil wir heute Sport haben. Und diese Angst würde etwas weniger, als ich meine Sporttasche Zuhause ließ.‹ Ein Teil von mir wünschte sich mein Sportlerer würde sich das durchlesen und Verständnis für meine Situation und Panik haben. Doch offensichtlich wollte der andere Teil von mir - der größere - keine Konflikte und war erleichtert, als der Sportlehrer nicht das Geschriebene überprüfte.

Woche für Woche viel ich wieder zurück in meine alten Muster. Blieb wieder tagelang der Schule fern. Und als meine Eltern mich dann doch hin gezwungen haben habe ich nach der Schule mit Absicht den Bus verpasst. Statt nach Hause zu fahren trieb ich mich auf dem Schulhof herum, schließlich kannte ich mich dort nicht aus und hatte keine Ahnung wo ich hätte hingegen können.
Vielleicht hatte ich bei dieser Aktion gehofft, meine Eltern würden mich nicht mehr in die Schule zwingen wenn sie merkten, dass ich dann nicht wieder nach Hause kam.
Letztendlich hatte ich mir damit aber nur noch mehr Ärger eingebrockt, denn nicht nur meine Mutter wurde von meiner Klassenlehrerin angerufen, sondern auch unsere Familienhilfe.
Schnell war wieder klar, dass die Situation eskalierte und ich meine alten Muster wieder verfolgte. Diesmal aber noch sehr viel verzweifelter, denn das ich anfing mir mit einem Taschenmesser in den Arm zu schneiden blieb nicht alles. Hinzukam zum Beispiel das ich mich tagelang in meinem Zimmer einschloss und nur kurz raus kam, wenn das Haus leer war, um auf Toilette zu gehen. Doch diesen stillen Hilferuf verlief im Sand, als mein Vater das Schloss aus der Tür entfernte.

Aber wie heißt es so schön: Not macht erfinderisch.

Davon ließ ich mich natürlich nicht ausbremsen, in meinem verzweifelten Zustand, sondern schob einfach schwere Möbel vor die Tür, zum Beispiel meinen Schrank. Allerdings ließen sich auch meine Eltern nicht unterkriegen und holten sich Unterstützung, um die Tür aufschieben zu können. Das Problem war nur sie wussten nicht wo ich mich aufhielt. Wäre der Schrank jetzt einfach umgekippt, hätten sie vielleicht ins Zimmer kommen können, aber der Schrank hätte mich unter sich begraben können. Stattdessen kamen sie auf die Idee über eine Leiter in mein Zimmer zu klettern, als ich gerade lüftete.
Das Ende vom Lied war, dass die ganze Tür aus den Angeln genommen wurde. Hieß für mich: Privatsphäre - bye, bye! Trotzdem weigerte ich mich weiterhin zur Schule zu gehen und so standen wir wieder am Anfang. Die Idee mit dem Internat wollte immernoch keiner hören, deshalb sollte ich mir eine Wohngruppe angucken. Auf dem Gelände befanden sich weitere Wohngruppen für Jugendliche und Kinder die aus verschiedenen Gründen nicht mehr zu Hause sein konnten, jeweils mit 5 bis maximal 10 Kindern und Jugendlichen. Ebenso wie die Schule. Also gar nicht Mal so anders als ein Internat. Dennoch konnte ich mich damit nur schwer anfreunden. Sagte gegen meinen Willen zu, weil ich wusste, dass sie nicht Ruhe geben würden und ich mir weitere Diskussionen, Auseinandersetzung und Stress ersparen wollte. Als es dann soweit war und ich einziehen konnte, beschloss ich der Sache trotzdem eine Chance zu geben und es als Neuanfang zu nutzen. Daher ging ich am ersten Abend auch sofort mit ein paar Mädels raus und lernte sie besser kennen. Wie erwartet hatten sie ziemlich heftige Geschichten hinter sich.

Zum einen kam ich gerade in die Zeit, in der ich jedem der mir nahe stand insgeheim unterstellte, er wolle mir was böses. Daher war es vielleicht ganz gut, dass ich nicht viel Kontakt zu meinen langjährigen Freunden pflegte.
Andererseits war genau das auch die Zeit in der ich die wichtige Lektion der Dankbarkeit lernte. Dankbar zu sein, für das was ich hatte. Und auch für das was ich nicht hatte. Was zum Großteil sicherlich den anderen Mädels der Gruppe zu verdanken war.

Nach einigen Wochen der Eingewöhnung fing es an mir besser zu gehen. Es war nicht einfach in die Schule zu gehen, aber es war möglich. Obwohl wir fast jeden Tag bis zum Nachmittag Unterricht hatten und auch noch zusammen Mittag aßen. Genau wie in der Klinik auch schon und wie beim Frühstück und Abendessen gemeinsam mit der Gruppe, fühlte ich mich alles andere als wohl zusammen mit den anderen zu essen. Am ersten Tag in der Klinik fühlte ich mich derartig unter Druck gesetzt, dass ich regelrecht Angst hatte etwas zu essen. Mandarinen am zweiten Abend waren das erste was ich in der Klinik gegessen hatte.

Keine Frage, die erste Woche in der Gruppe war hart! Danach gewöhnte ich mich langsam an die Mädels. Und dann an die Schule und meine Mitschüler, von denen ein paar auch aus umliegenden Dörfern kamen. Zurückblickend kann ich sagen, dass mir die sozialen Kontakte gut taten und die Ausflüge oder Aktivitäten die wir gemacht hatten eine schöne Art war wieder raus zu kommen. Obwohl ich es nicht einsehen wollte fing es an mir besser zu gehen. Die Wochenenden, die ich Zuhause verbringen durfte waren keine große Qual mit meiner Familie Zeit zu verbringen. Obwohl die Zugfahrten für mich einer Quizshow ähnlich war, aber sie breiteten mich auf das erwachsen werden vor.

Ganz besonders ein Wochenende wurde aber nochmal zu einem Kampf. Zwei Wochen vor meinem Geburtstag, ich hatte gerade wieder meine Periode bekommen, viel mehr weiß ich nicht mehr, weigerte ich mich wieder, wie in alten Zeiten, aufzustehen und mich fertig zu machen, damit ich fahren konnte. Meine Eltern waren schon wieder am verzweifeln und riefen bei der Gruppe an, um nach Rat zu fragen. Wie ich es geschafft hatte die Nacht noch Zuhause zu bleiben, weiß ich nicht mehr, aber am Montag morgen setzten sie mich irgendwie ins Auto und brachten mich zur Gruppe. Verrat spürte ich in mir, doch was hätten meine Eltern anderes tun sollen? Reichlich Futter für meine Paranoia, hatte diese Aktion gebracht und ein weitere Vertrauensbruch meiner Eltern, weil ich meiner Mutter mein Problem erklärt hatte warum ich nicht zurück wollte.

Die Konsequenz war, dass ich am nächsten Heimfahrts-Wochenende, an dem mein Geburtstag war, nicht nach Hause durfte. Stattdessen kamen meine Eltern mich mit meiner besten Freundin besuchen, was mich ein wenig aufmunterte. Aber generell waren die Wochenenden auf der Gruppe gar nicht so schlecht, denn wir unternahmen meist was und hatten viel Zeit Filme oder Serien zu gucken. Wobei ich mich meist mit meinen Bücher in meinem Zimmer verkroch. Beschweren konnte ich mich also nicht wirklich.

Und nach diesem Wochenende startete mein 15. Lebensjahr für mich, welches einige Überraschungen bringen würde...

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