1 | Der Anfang vom Ende

Wenn die Frau, die dich 9 Monate in sich getragen hat und dir den Weg in die Welt mit quälenden Schmerzen bezahlt hat, zu einer Fremden wird, zu wem kannst du dann noch gehen?

Auch wenn ein Leben Jahre lang überdauert und man meinen könnte es gäbe jawohl genug Geschichten aus jedem Jahr zu erzählen, um eine ganze Woche nur darüber zu sprechen, so dachte ich doch über mich gäbe es nicht viel zu sagen. Was bin ich denn schon? - Ein kleines, naives Mädchen, welches geistig vielleicht nie älter als 14 geworden wäre, weil es jahrelang dachte sein 14. Lebensjahr nicht zu überstehen, mit eventuellen psychischen Krankheiten, von denen kaum welche diagnostiziert sind.

Aber jetzt lud das Leben zuviel auf meine Schultern, als das ich es länger schweigend mit mir herum tragen könnte. Mein Schweigen wird ein Ende haben und ich werde sprechen - meine Geschichte in die Welt hinaus lassen und dabei versuchen sie so echt wie möglich darzustellen. Das heißt kein übertriebenes Drama und keine verschönerte Version.

Beginnen wir am Anfang vom Ende...

Mein 12 Geburtstag lag vor mir. Davor war noch Karneval, was hieß einen Tag kein Unterricht in der Schule! Dafür würden alle verkleidet kommen, es gäbe eine kleine Show, von den Schülern moderiert und am Ende würde abgestimmt werden wer das schönste Kostüm trage.

So hat es angefangen, mein Weg in die Hölle...

Jedoch lag auch Karneval noch ein paar Wochen entfernt. Was eigentlich auch ganz gut war, hatte ich mir gedacht, denn wir hatten uns Zuhause alle eine Grippe eingefangen - mein 3 Jahre älterer Bruder, meine 3 Jahre jüngerer Schwester und letztendlich auch ich. Wie blöd wenn jetzt schon Karneval wäre, dann würde ich den ganzen Spaß ja verpassen!
Aber wäre das wirklich so blöd?
Ich müsste mir keine Gedanken um ein hübsches Kostüm machen und keine Hoffnungen auf eine engere Auswahl bei dem Kostümwettbewerb. Genauso würde ich mir die Angst ersparen, mich am falschen Tag verkleidet zu haben und von allen ausgelacht zu werden. Würde Karneval dieses Jahr Mal ausfallen für mich, erspare mir das sehr viel Stress und wäre mit Sicherheit kein Weltuntergang.
Insgeheim hoffte ich die Grippe würde mehrere Wochen lang dauern, bis Karneval vorbei und der ganze Stress sich gelangt hätte. Wie Glas, das auf dem Boden zerspringt, wurden meine Hoffnungen zerstört, als es meinen Geschwistern eine Woche später wieder besser ging. Nur meine Bauchschmerzen wollten nicht recht weiterziehen. Insgeheim war das kein Problem für mich, sie sollten noch zwei, drei Wochen länger bleiben. Wem das aber ein Dorn im Auge war, waren meine Eltern die natürlich stutzig wurden, als sich alle wieder von der Grippe erholt hatten nur ich nicht.

Bald schon würden sich Theorien in unsere Gedanken drängen, dass eine längere Grippe noch das harmloseste wäre...

Die Ärzte konnten uns auch nicht mehr helfen, als zu sagen wir sollen noch ein bisschen abwarten.

Und hätten wir ein Jahrhundert gewartet, es wäre nicht besser geworden.

Kurzzeitig schien warten aber doch etwas zu bringen, denn Karneval verging und in den freien Tagen um Fastnacht besserte sich meine Gesundheit. Danach war ich nach fast einem Monat wieder in der Schule und wurde von allen auch etwas komisch angeguckt.

»Wo bist du denn gewesen?«
»Wir dachten schon du kommst nicht mehr wieder.«
»Schön, dass es die wieder besser geht.«

Ging es mir wirklich wieder besser? Nur weil ich im Unterricht wieder anwesend war, fühlte sich mein Körper nicht wieder normal an. Es war viel zu eng und schwer. Meine Haut war Beton und meine Brust schwer wie Zement. Um meine Kehle eine eiserne Hand des Schweigens, die mich brennen ließ. Die Nächte wurden länger und dunkler. Ständig spürte ich die feste Hand um meiner Kehle und den enormen Druck auf meiner Brust.

Besser ging es mir mit Sicherheit nicht...

Im Gegenteil, es wurde wieder schlimmer.
Was hätte ich bitte sagen sollen?
• Auch wenn ich frei atmen kann, habe ich in der Schule das Gefühl zu ersticken.
• Mit meinem Körper ist alles in Ordnung, trotzdem fühlt er sich ganz taub und leer an.
• Vielleicht sehe ich gesund aus, aber ich fühle mich ganz krank. Nur billige Ausreden, um nicht in die Schule zu müssen. Also wurde es »Bauchschmerzen« und »Kopfschmerzen«, was nicht gelogen war, denn mein Bauch fühlte sich komisch flau und zusammengedrückt an und mein Kopf pochte von all den Gedanken.
Tagelang blieb ich Zuhause, hin und wieder Mal war ich in der Schule. Das lief vielleicht ein paar Wochen so, bis die Tage in der Schule immer seltener wurden und dann ganz weg blieben. Was nicht weg blieb waren die Nächte, in denen ich wach lag und mich vor Angst zusammen kauerte, wegen der Frage ob ich am nächsten Tag zur Schule gehen könne. Nicht weil ich gemobbt oder ausgeschlossen wurde. Ich hatte Freunde, so war das nicht, sogar sehr gute Freunde, die mir bis heute noch zur Seite stehen und mir Kraft geben weiter zu machen. Vielleicht war es einfach die Angst davor gemobbt zu werden oder die Angst davor schlechte Noten zu bekommen, die Angst davor mich zu blamieren. Nachts habe ich versucht extra lange wach zu bleiben, damit mich meine Mutter am nächsten Morgen nicht aufwecken könne und ich die Schule verschlafe, weil es mir zunehmend schwerer fiel mich zu rechtfertigen. Mich dafür zu rechtfertigen das es mir monatelang schlecht geht und ich monatelang am Stück nicht zur Schule gegangen war.
Nach dieser Zeit hab ich mir selbst dann eingeredet, ich hätte keine andere Wahl gehabt, hätte es einfach nicht gekonnt.

Einige Jahre später, als es mir kurzzeitig nochmal besser ging und danach wieder bergab mit meiner Gesundheit ging, sehe ich: Ich kann anders. Weiter zur Schule gehen, mich innerlich weiter unterdrücken, mir die Luft zum Atmen nehmen - das ist schwer, aber es ging.
Sich selbst innerlich jeden Tag ein Stück weiter kaputt zu reißen, gibt es etwas das noch grausamer ist?

Irgendwann ließen meine Eltern das Wort "Depression" fallen. Neugierig, auf meine komischen Fragen eine plausible Erklärung zu bekommen, recherchierte ich über das Wort und musste feststellen, dass ich mich sehr gut mit den Sprüchen identifizieren konnte, die unter diesem Wort zu finden sind.

»Mirjam, kann es sein, dass du Depressionen hast?«, fragte mich meine Mutter eines Abends ganz direkt.

Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, als ich betreten mit den Schultern zuckte. Um ehrlich zu sein, hätte ich Nicken müssen, aber dazu fehlte mir der Mut.

Was wenn sie mich dann wieder in die Schule schicken, weil Depressionen nichts schlimmes ist, hatte ich gedacht und keine Ahnung wie falsch ich damit lag. Was wenn sie mich zu einem Arzt bringen, der sagt er habe meine Depressionen geheilt und ich dann wieder in die Schule muss obwohl das nicht stimmt, folgten weitere Fragen auf die erste. Die kleine Träne, welche zuerst aus meinem Auge sprang, verriet mich. Und plötzlich, als wäre nie ein Keil zwischen uns gewesen, umarmte sie mich mitfühlend. Kurz fragte ich mich tatsächlich, ob ich die riesen Schlucht, die Teenager nunmal zwischen sich und ihren Eltern ziehen, nur eingebildet hatte.

Natürlich hatte ich das nicht! Diese Schlucht würde noch sehr viel breiter und tiefer werden.

Bevor sie mich am Ende des Jahres zu einer Klinik bei Köln schleppten, war ich auch noch in Mainz an einer Klinik, bei der mein Symptom Kopfschmerzen näher untersucht wurde. Es war unheimlich, wie die ganzen Drähte an meinem Kopf befestigt wurden. Aber hätte es mich umgebracht, wäre es für mich auch nicht weiter schlimm gewesen, solange ich bloß nicht wieder in die Schule musste. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber Köln war nicht die erste Stadt bei der wir uns eine Klinik angeguckt hatten, glaube ich. Mir gefiel es in der Klinik nicht, obwohl alles sehr schön eingerichtet und einladend aussah. Wie in einem kleinen Schloss. Hübsch war es, das will ich gar nicht abstreiten, aber das Gefühl war nicht anders. Die Menschen waren auch ganz nett, auf den ersten Blick.
Am Anfang des nächsten Jahres kam ich nun in diese von außen sehr hübsche Klinik. Ein halbes Jahr habe ich dort verbracht. In dieser Zeit hab ich viele neue Leute kennen gelernt, fast alle sehr nett. Bis heute ist meine zweite Zimmermitbewohnerin eine meiner besten Freundinnen. Mit ihr teile ich viele schlimme Erinnerungen, aber während der Zeit in der Klinik, war ich nicht allein! Es gab mehrere Menschen, die mich in diesem Unheil nicht allein gelassen hatten. Insgesamt würde ich sagen war die Zeit nicht so schlimm, wie anfangs gedacht. Nur geholfen hatte es mir nicht. Die kleine Schule auf dem Gelände, wo jeder sein eigenes Zeug bearbeitet hatte, in seinem Tempo, war unglaublich. Die Schule war der Hammer, ich bin gern dort hingegangen. Wenn man sich nicht mehr konzentrieren konnte und schon was geschafft hatte, durfte man auch mit anderen Spiele oder (was ich in der Zeit unglaublich gern gemacht hab) Mandalas ausmalen.
Im Ausgleich dazu war die Therapie eine Katastrophe. Den Therapeuten habe ich ungerne etwas über mich erzählt, alleine schon weil ich nach jedem zweiten Wort in Tränen ausgebrochen war. Vor allem die wöchentliche Besprechung mit den Therapeuten, Stationsleitern und dem Oberarzt waren schlimm. Zehn Minuten, in denen man im Mittelpunkt steht und erzählen soll, was mit einem falsch ist. Nur die Kunsttherapie war angenehm, der Therapeut einfühlsam und humorvoll. Aber weitergebracht hat sie mich nicht, nur die Zeit erträglicher gemacht.

Nicht immer konnten mich die kleinen schönen Dinge dort über Wasser halten.

Bei der Konfirmation zwei meiner besten Freundinnen sollte ich nur kurz dabei sein und danach wieder in die Klinik fahren. Damit war ich überhaupt nicht einverstanden! Es waren meine zwei längsten Freundinnen an einem wichtigen Tag und ich sollte nur kurz dabei sein dürfen!? Was eine Ungerechtigkeit, fand ich. Trotzig und stur, wie ich es leider ständig zu der Zeit war, lief ich in die entgegengesetzte Richtung als die Kirche lag.
Dieser, zuerst mutig rebellische, Akt wurde ziemlich schnell ins Licht der Wahrheit gestellt. Ich verlief mich in einem kleinen Park und den Häusern drum herum, bekam es mit der Angst zu tun, doch war zu Stolz um wieder zurück zu gehen. Ein Teil von mir wünschte sich die Nacht einfach auf der Straße zu verbringen. Überall war es besser als in der Klinik, war ich der Überzeugung. Nach nicht viel länger als ein zwei Stunden hatte mein Vater mich wiedergefunden und packte mich ins Auto. Stinksauer, das ich ihnen den Tag verdorben hatte, brachten sie mich schon früher als geplant zur Klinik zurück, um danach nochmal auf die eigentliche Feier meiner Freundinnen (desen Familien alte Bekannte und gute Freunde unsere Familie sind) zu gehen.

In dem Moment, in dem ich da in diesem Auto auf dem Parkplatz der Klinik saß, spürte ich wie fremd wir uns geworden waren. Es fühlte sich mit einem Mal so leer an, das es mir die Brust zu schnürte und den Atem raubte. Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut machten sich in mir breit. Wut auf mich selbst, dass ich immer alles ruinieren musste! Doch ich schluckte den ganzen Schmerz, die bittere Ungerechtigkeit und den Frust hinunter. Mit wem hätte ich auch darüber reden können? Wenn selbst die Frau, die dich 9 Monate in sich getragen hat und dir den Weg in die Welt mit quälenden Schmerzen bezahlt hat, zu einer Fremden wird, zu wem kannst du dann noch gehen?
Meine Eltern waren ebenfalls verzweifelt mit mir, so dass sie sogar eine Betreuerin hinaus holen mussten, um mich aus dem Auto zu bekommen. Meine Ohnmacht wurde immer größer, während das was Mal meine Familie war zurück zu meinen Freundinnen fuhr. Da es Sonntag war und fast alle noch zu Hause waren, war ich die einzige auf der Station. Nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so einsam gefühlt, wie in dem Moment. Leer, einsam, ohnmächtig - nicht Mal das beschreibt das Gefühl, welches ich verspürte. Ein tödliches Gefühl.
Heulend fiel ich meiner Freundin um den Hals, als sie auch endlich zurück kam. Sie hatte keinen blassen Schimmer was los war, aber so lange sie da war fühlte es sich nicht mehr leer an.

Ein oder zwei Monate vor meiner Entlastung durfte ich an einem Wochenende nicht nach Hause. Natürlich war ich Mal wieder wütend - und das hieß in meinem Fall immer Explosionsgefahr. Abends dachte ich daran mich raus zu schleichen und auf dem Friedhof ein paar Straßen weiter zu schlafen, weil das meiner Stimmung entsprach. Der Tod schien auch immer freundlicher zu werden. Was wohl auch den Betreuen auffiel, denn an einem Abend wurde ich extra nochmal aus dem Bett geholt, um mir von der Stationsleitung anhören zu dürfen, dass sie mich als suizidgefährdet einstuften und ob ich vor hatte mir was an zu tun.

Als würde ich ihnen all meine Pläne, die ich geschmiedet hatte offen legen! Pah!

Raus durfte ich auch nicht mehr alleine, sondern nur in Begleitung. Wenigstens war eines der Kinder auch übers Wochenende da und ich war nicht ganz alleine. Mit einer Betreuerin machten wir am Samstag sogar noch einen Ausflug auf ein Reitturnier, was mich ungemein abgelenkt hatte.
In der Therapie brauchte ich einigen Anläufen, um Lösungsvorschläge zu äußern. Alle Beteiligten haben mich, aber schräg angeguckt und mir andere Vorschläge aufgedrängt.
Mir war klar, dass wenn ich weiter von zu Hause aus zur Schule gehen müsste, ich es nicht schaffen könnte.

... zu der Zeit jedenfalls noch nicht, egal wie oft ich die Schule wechseln oder wie viele Familienhilfen uns zur Seite gestellt würden.

Daher dachte ich an ein Internat. Natürliche verstand ich, dass es nicht umsetzbar war, weil wir nicht genügend Geld dafür hatten, auch wenn ich es nicht akzeptieren wollte (und es mir auch nicht ganz einleuchtete warum wir genügend Geld für eine teuren Klinikaufenthalt hatten aber nicht für ein Internat, welches mir vielleicht langfristig helfen könnte). Stattdessen wurde beschlossen, dass ich nach dem Klinikaufenthalt die Schule wechseln und von da an auch noch mit dem Bus zur Schule fahren sollte.

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