Gewissensbisse

Endlich war es weg! Mein Alltag sollte wieder den normalen Verlauf annehmen, was bedeutete, nicht mehr für das Pokémon einzukaufen oder mitten in der Nacht aufzustehen, um es zu beruhigen. Alles war wieder gut. Ich sollte mich blendend fühlen. Aber genau das war das Problem! Es war nämlich nicht so. Ein unangenehmes Gefühl, das ich seit dem Nachhauseweg vom Pokémonverkauf hatte, verspürte ich nun die ganze Zeit und egal wie sehr ich mich bemühte, es auszublenden, es kam stets stärker nach weniger Zeit zurück. Es war ein Gefühl der Unsicherheit und der Schuld. Unsicher, wie es dem Vulpix ergehen wird, und schuldig, ob es das Geld wert war, es diesem Mann, bei dessen bloßer Vorstellung es mir immer noch die Haare aufstellte, zu übergeben. Diese Gedanken sorgten dafür, dass ich mich alles andere als blendend fühlte. Dabei war es nicht einmal das Vulpix an sich, das mich beschäftigte. Ich war nachwievor der Ansicht, dass es richtig war, es abzugeben. Nur der Käufer bereitete mir Kopfschmerzen. Ebenso die Erinnerung an den LKW, in dem sämtliche Pokémon auf engstem Raum zusammen waren. Hoffentlich würde man beim Vulpix mehr aufpassen, da es verletzt war. Doch immer wenn ich mir einredete, dass es dem Vulpix schon gut ergehen wird, dachte ich daran, wie grob der Mann zu ihm war und er es ohne Rücksicht auf seine Verletzung in einen Karton schleuderte. Auch wenn ich das Vulpix selbst nicht wollte, so wollte ich dennoch, dass es gut versorgt werden würde. Immerhin war es, obwohl es oftmals nervig und laut war, ziemlich süß. Dabei dachte ich daran zurück, wie es sich in meinen Armen an mich heran gekuschelt hatte und mich sogar geschleckt hatte. "Leon... Leon!", hörte ich plötzlich jemanden laut rufen, weshalb ich erschrak und sofort in die Richtung sah, aus der die Stimme kam. Ich blickte in die verständnislosen Augen meines Mathelehrers. Regungslos sah ich ihn an und war selbst über mich geschockt, dass ich so abgetaucht war, sodass ich nichts mehr mitbekommen hatte. Noch dazu hörte ich jetzt Gelächter von meinen Klassenkameraden, die meine Lage wohl witzig fanden, was mich nur noch nervöser machte. Der Lehrer durchbohrte mich mit seinem Blick und wartete anscheinend auf eine Rechtfertigung, aber ich hatte im Moment gar keinen Plan, was los war, und sah ihn deshalb stillschweigend an. Ich blickte neben mich auf die Mitschüler, die mich alle wie der Lehrer anstarrten und zum Teil über mich lachten. War das peinlich! Dann sah ich auf meinen Banknachbarn Simon, welcher mir als Einziger eine Hilfe war und auf die eine Aufgabe im Buch deutete. Da kam es mir wieder in den Sinn. Wir waren gerade dabei die Hausaufgaben zu verbessern und bei einer Teilaufgabe schien ich wohl aufgerufen worden zu sein. Ich wollte schon meine Ergebnisse vorlesen, als ich mich fragte, bei welcher Teilaufgabe wir überhaupt waren. Da war die Geduld des Lehrers zu Ende und er rief streng: "Hast du schon wieder nicht aufgepasst, Leon? Was ist heute nur mit dir los? Das ist jetzt schon das zweite Mal im Unterricht!" Als er das sagte, hatte ich keine Ahnung, wie ich mich dafür rechtfertigen sollte. Ich war mit der Situation immer noch überfordert. Es ging einfach gerade alles zu schnell, weil ich noch immer über mich erstaunt war. Doch schon war es zu spät und ich hatte eine Strafaufgabe zu machen, was ich kommentarlos hinnahm, um nicht noch mehr Aufsehen zu bekommen. Den Rest der Stunde versuchte ich mich zu konzentrieren, damit das nicht nochmal passierte. Nach Ewigkeiten war die Stunde schließlich zu Ende und als Erster stürmte ich in die Pause, um den Kommentaren meiner Mitschüler auszuweichen, die sicher von mir wissen wollten, was mit mir los war. Ich wusste ja nicht einmal selbst, wie ich das geschafft hatte. Die Sache mit dem Vulpix schien mich doch mehr zu beschäftigen, als mir lieb war. Seit Samstag war auch noch kein Tag vergangen, an dem ich nicht darüber nachgedacht hatte, was mit dem Vulpix wohl passieren würde und ob es ihm gut ging. Ich bemerkte jetzt, wie mich jemand am Rücken antippte. Es war Simon, dem ich allein schon vom Gesichtsausdruck entnehmen konnte, dass er sich über mich wunderte. Er sagte: "Hast du mich erst jetzt bemerkt? Du scheinst wirklich abgelenkt zu sein. Was ist denn los?" Nach kurzem Überlegen entschied ich mich, ihm vom Vulpix und dessen Verkauf zu erzählen; schließlich war er ja mein Freund. Darüber geschockt fuhr er mich sogleich an: "Was hast du!? Ich hatte gedacht, wir wollten, sobald es gesund war, miteinander kämpfen?" Mich wunderte es nicht, dass er natürlich zuerst daran gedacht hatte, aber das war nicht unbedingt der Grund, weshalb ich so grübelte. Ich versuchte ihm deshalb den Verkauf so genau wie möglich zu schildern, sodass er vielleicht meine Sorgen verstehen würde. Aber irgendwie schien er es nicht zu tun, wie ich feststellen musste: "50 Mäuse für das Vulpix? Damit könntest du dir ein besseres und gesundes Pokémon kaufen oder in Pokébälle investieren, damit du dir selbst eines fangen kannst! Sei doch froh, dass du so viel Geld für ein verletztes Pokémon bekommen hast, das vermutlich eh nicht die geringste Chance gegen mein Magnayen gehabt hätte." Er klopfte mir noch auf die Schulter, um zu verdeutlichen, dass ich den Verkauf nicht bereuen sollte. Aber so nett er es auch gemeint hatte, um ein stärkeres Pokémon war es mir nie gegangen. Nun redete ich direkt von meinen Sorgen und sagte ihm, dass ich Angst hatte, dass man das Vulpix schlecht behandeln würde. Simon sprach nun etwas aus, was ich die ganze Zeit versucht hatte, nicht wahrhaben zu wollen: "Vielleicht mochtest du das Vulpix doch lieber, als du die ganze Zeit behauptet hast, und bist nun traurig, dass es weg ist." Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Konnte es tatsächlich sein, dass ich das Vulpix liebgewonnen hatte? Nein, das konnte nicht sein. Bestimmt kamen meine Sorgen eher daher, weil ich befürchtete, dass es ihm, da wo es hingebracht werden würde, schlecht ergehen wird. Und das durfte nicht passieren. Immerhin hatte ich es trotz aller Abneigungen gegenüber Pokémon bei mir aufgenommen, was ich nie für möglich gehalten hatte. Das sollte nicht umsonst gewesen sein. Die Klingel ertönte und ließ mich wieder daran erinnern, dass ich immer noch in der Schule war. Simon sagte zu mir abschließend: "Es wär auf jeden Fall das Beste, wenn du das Vulpix vergisst. Es lenkt dich zu sehr ab und obendrein kannst du es eh nicht mehr rückgängig machen." Vergessen? Das versuchte ich schon die ganze Zeit. Spätestens dann, wenn ich die feuchten dunklen Augen meines Vulpix vor mir sah, die es mir gezeigt hatte, als ich es alleine in dem dunklen LKW zurückgelassen hatte, fühlte ich, dass es doch falsch war. "Leon, kommst du?", hörte ich Simon rufen, der mich schon wieder beim Nachdenken ertappt hatte. Doch da ich der Meinung war, dass es heute keinen Sinn machte, weiter am Unterricht teilzunehmen, weil ich eh ganz andere Gedanken verfolgte, entschied ich mich, mich zu befreien, was ich sofort Simon mitteilte, der es ohne Fragen akzeptierte, vermutlich weil auch er der Meinung war, dass es für mich das Beste war, da ich doch ziemlich abwesend erschien. Nach dem Gang ins Sekretariat, in dem ich angegeben hatte, mir würde es schlecht gehen, verließ ich die Schule. "So konnte es nicht weitergehen!", schimpfte ich mich selbst. Ich durfte nicht länger ans Vulpix denken, denn so einen Schultag wie heute wollte ich garantiert nicht ein zweites Mal erleben. Aber was sollte ich tun? Ich musste den Gedanken verdrängen, dass es dem Vulpix schlecht erging, und mich davon überzeugen, dass alles in Ordnung mit ihm war. So sah ich nur eine einzige Möglichkeit: ich musste nochmals zu diesem Pokémonkäufer und ihn dazu bringen, dass er mir verriet, wohin das Vulpix gebracht wurde.

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