I

Langsam wagt sich die Sonne zum Vorschein, wie jeden Morgen aufs Neue. Sobald die erste Ecke in meinem Raum etwas von der Sonne abbekommt, strecke ich meine Flügel aus. Erst dehne ich sie leicht und sortiere mich kurz neu. Bevor ich dann mit einem kräftigen Flügelschlag in die Ecke springe. Hier ist der perfekte Ort, um mich durchzuschütteln und eine kleine Putzeinheit einzulegen.

Als sich ein Stück der Wand öffnet, hat die Sonne bereits ein gutes Drittel meines Raumes bedeckt. Die Blondine, welche mich jeden Morgen kurz raus holt, schiebt sich durch den offenen Spalt.

„Guten Morgen", begrüßt sie mich freundlich. Aufgeregt lahne ich ihr entgegen. Was von vielen, die mich hören vielleicht als Angstlaut oder Schrei nach Hunger gedeutet wird, ist eigentlich nur eine Begrüßung, gerichtet an Partner oder Eltern. Beides trifft auf die Blondine zu: Sie hat meine Schwester und mich großgezogen und nun haben wir eine besondere Bindung, die für unsere Arbeit die Grundlage ist.

Ein Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen, als sie erkennt wo ich gerade hergelaufen komme. „Na, schon wieder am sonnen?" Ohne auf eine Antwort zu warten streckt sie ihren linken Arm aus und schiebt den dicken Lederhandschuh unter meine Beine. Bequem brauche ich nur noch meine Füße auf das Leder zu stellen.

Routinemäßig greiffen ihre rechten Finger nach meinem Geschüh - den zwei Lederbändchen an meinen Füßen - und stecken es zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Total überflüssig, denn ich will doch nicht am frühen Morgen schon schwer arbeiten. Von wegen der frühe Vogel fängt den Wurm. - Der frühe Vogel kann mich mal!

Auf dem Handschuh verlasse ich gemeinsam mit der Blondine den Raum und somit leider auch die Sonne. Im dunklen Gang dahinter ist es noch ziemlich kalt, denn dort kommt keine Sonne hin. Gegenüber war das Mauerwerk der Burg, wo ein Teil von uns Vögeln untergebracht ist. Kälte strahlt die Mauerwand aus, auch im Sommer.

Für die Falknerin, die den ganzen Tag in der Sonne schuftet, ist das eine angenehme Abwechslung. Aber ich liebe die Sonne, was vielleicht in meinen Genen vorprogrammiert ist. Milane sind nämlich Zugvögel, welche im Winter nach Südfrankreich und auch schonmal bis Nordafrika fliegen.

Zur rechten Seite biegt die Frau ab, wo der Gang in einer Kurve verschwindet. Auf halber Strecke zur Kurve steht ein, provisorisch an die Wand gebauter, Stehtisch. Darauf befindet sich eine handvoll Krimskrams: ein Notizblock, ein Kugelschreiber, eine Dose, von der keiner so genau weiß, was drin ist und einige Federn von unterschiedlichen Vögeln. Für mich relevant ist jedoch nur die Wage, auf der ein kleiner Holzbalken thront.

Die Hand hebt sie soweit, dass ich das Holz an meinem hinteren Fuß spüre. Darauf reagiere ich beim ersten Mal nicht, denn ich bin nicht vorbereitet gewesen. Im nächsten Anlauf senkt sie ihre Hand tiefer und das Holz drückt leicht gegen meine Beine. Diesmal hebe ich meinen Fuß und stelle ihn auf den erhöhten Punkt. Für den Gleichgewichtsausgleich falte ich kurz meine Flügel auseinander. Rudernde Bewegungen helfen, um auch mein zweites Bein wieder neben das linke zu stellen. Meine Flügel lege ich wieder an meinen Körper und lausche dem Klang der Stimme, als die Falknerin die dreistellige Zahl abließt: „Fünfhundertdfünfundzeunzig"

Sie kennt sofort die Differenz zum Vortag und zum Tag davor. Doch ich selbst verstehe davon nicht viel. Deshalb ist es ein toller Bonus, dass jemand auf deine Gesundheit achtet. Denn das Gewicht wird nicht nur ermittelt, um die Kondition zu kontrollieren und die richtige Futtermenge abzuschätzen. Sondern auch, um Krankheiten frühzeitig erkennen und behandeln zu können. Krankheiten sieht man einem Greifvogel äußerlich erst dann an, wenn es fast schon zu spät ist. Das hängt damit zusammen, dass ein kranker und schwacher Vogel in der Natur leichte Beute wäre.

Zufrieden mit dem Ergebnis hebt die Blondine mich wieder auf die Faust und bringt mich zurück zu meinem sonnigen Plätzen.

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