6. Kapitel
Da ich dämlicherweise meinen Schlüssel liegen gelassen hatte, ich konnte ihn durch das Fenster neben der Tür sehen, wie er so unschuldig auf der Kommode lag, musste ich wohl oder übel klingeln. Meine Mutter öffnete mir und ich machte mich auf eine lange Schimpfparade gefasst, da sie gerade geschlafen hatte, bei der ich immer weiter in mich zusammen sank. Ich versprach meinen Schlüssel nie wieder liegen zu lassen. Noch im Flur wurde ich ausgefragt, was ich denn so gemacht hatte und warum ich schon so früh zurück war. Ich log. Normalerweise machte es mir nichts aus zu lügen, ich log sehr oft und zwar ohne dass die Wahrheit jemals ans Licht kam, aber jetzt fühlte es sich falsch an.
Niedergeschlagen lief ich die Treppen hoch in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und checkte, ob mein Handy noch richtig funktionierte. Was es auch tat. Heutzutage lief man mit zerfransten Jeans, zu großen T-Shirts und kaputten Smartphones rum, eine komische Zeit war es schon irgendwie. Als nächstes kamen halbe Geldscheine und zwei unterschiedliche Schuhe.
Ich verband mein Mobiltelefon mit der Stereoanlage und ließ BTS laufen. Ohne auf die Lautstärke zu achten versteht sich. Ich brauchte jetzt etwas als Ablenkung. Sehr viel Ablenkung.
Irgendwann kam meine Schwester rein - ich tanzte gerade wild in meinem Zimmer herum - und wünschte mir eine gute Nacht. Das war der Moment an dem mir bewusst wurde, wie spät es schon war und ich machte die Musik aus.
Mit einem Ohrwurm legte ich mich ins Bett und starrte durch das Fenster nach draußen. Der Wind ließ die Zweige des Haselnussbaumes gegen die Scheibe schlagen, es war immer noch ein mega ekliges Wetter draußen.
Glücklich darüber hier im Warmen sein zu dürfen schloss ich die Augen und ließ mich die Dunkelheit meiner unerklärlichen Traumwelten gleiten.
Sonntag. Sonntage sind schöne Tage, an denen man nur zu leicht vergisst, dass der Montag danach kommt. Man liegt bis zwölf Uhr im Bett, denkt nur daran welchen Anime man heute schauen wird und bewegt sich einfach so gut wie gar nicht. Meine Gedanken hingen gerade bei Assassination Classroom, als mein Vater klopfte und verkündete, wir gingen in einer halben Stunde los. Los? Wohin? Hä? Wann hatten wir das ausgemacht?!
What the Hell...
Ich brauchte nicht so lange im Bad da ich mit Schminke und was weiß ich nicht viel am Hut hatte und so stand ich eine knappe halbe Stunde später im Flur und zog mir die Schuhe an. Wo wir denn nun hingehen wollten, wusste ich immer noch nicht. Also fragte ich leise und unauffällig meine Schwester: "Äh... wo gehen wir gleich nochmal hin?" "Oh man", sie seufzte, was ich ihr nicht übel nehmen konnte, "immer noch zu Oma und Opa, und dann zu dieser Adventsandacht." Adventsandacht? Also musste ich in die Kirche? Innerlich übergab ich mich, aber nach außen hin ließ ich nur ein leicht genervtes: "Ach ja, stimmt", hören.
Die sch.. schöne Adventsandacht wie jedes Jahr. Und nie schaffte ich es mich davor zu drücken. Moment mal ... schon der zweite Advent? Wow! Dann hatte ich ja bald Geburtstag! Yes. Etwas gutes an diesem Sonntag musste es ja geben.
Der Besuch bei unseren Großeltern war ganz schön, außerdem hatte meine Oma eine super Torte gebacken: Frühstück!
Moment, gestern hatte ich auch nichts gegessessen, deshalb fühlte ich mich also so demotiviert - Zu früh gefreut. Die Torte schmeckte leider nicht so wie sie aussah, sondern mehr oder weniger nach gar nichts mit einem leichten bitteren Beigeschmack. Außerdem fühlte sich der weiche Teig in meinem Mund wie Schaum an, der an meinem Gaumen klebte und sich im Großen und Ganzen eklig anfühlte.
Aber das schlimmste kam noch:
Die Kirche war rammelvoll, was mich ziemlich erstaunte, denn man hockte da eine Stunde auf kalten harten Bänken und schlief im Sitzen mit offenen Augen. Was war daran so toll dass es sich so viele Leute antun wollten? Mir entwich ein gequältes Seufzen, das zum Glück nur meine Schwester hörte.
Während der Andacht starrte ich auf das Liederbuch in meinen Händen und dachte an verschiedenes Zeug. Ferien. Pizza. Mein Fahrrad. Meine Freunde. BTS, auch meine Freunde natürlich. Pizza. Pizza mit Hackfleisch, ohne Tomatensoße, ohne Paprika, ohne Käse, ohne Pizzateig, ungehackt, roh. Ich schüttelte den Kopf. Jetzt drehte ich auch noch komplett durch. In meinem Kopf war gerade tatsächlich so eine Art GIF abgelaufen, wie wenn man eine Pizza belegt, und dann alles rückwärts abspielt.
Ich rieb mir die Augen und spürte, dass mein Gesicht irgendwie - pelzig war. Panisch blickte ich auf meine Hände, die ebenfalls mutiert waren. Schnell riss ich die Kapuze meiner Winterjacke hoch und versteckte die Hände in den Taschen. Unangenehm drückten meine Wolfsfüße in den Schuhen und außerdem lag in der Luft ein so wunderbarer Duft. Süß und warm wie Glühwein, nur mehr so mit Steak-Geschmack. Ich ertappte mich, wie ich den Duft einsog, und mir Speichel von den Lippen tropfte. Mit einem äußerst unwohlen Gefühl wischte ich mir über den Mund.
Trotz allem schaffte ich es - oder wohl eher die Kirchenbesucher - die Andacht lebendig zu überstehen. Auf dem Weg zum Auto beruhigte sich mein Körper wieder und auch der weitere Aufenthalt bei meinen Großeltern stellte kein Problem dar. Außer dass ich Hunger hatte und nichts schmeckte. Nicht einmal das Gulasch beim Abendessen konnte mich sättigen.
Der Sonntag war schon sehr vergurkt und wir kamen erst sehr spät wieder heim, sodass ich nur froh darüber war, dass ich meine Hausaufgaben schon am Samstag gemacht hatte. Da hatte ich jetzt eine Sache die mich weniger aufregte. Was mich mehr aufregte, oder besser gesagt beunruhigte, war, dass ich während der Adventsandacht das Bedürfnis gespürt hatte, die Menschen um mich herum zu fressen. Jetzt brauchte ich es nicht mehr leugnen: Ich hatte Menschenfleisch fressen wollen. Ich hatte töten wollen.
Verstört blickte ich in den Spiegel und betrachtete meine goldgelben Augen, in denen bereits Tränen schimmerten, und die schwarzen pelzigen Ohren an meinem Kopf, die sich sofort jedem noch so kleinen Geräusch zudrehten. Sicherheitshalber hatte ich mein Zimmer abgeschlossen. Was wenn ich mich morgen einfach so ein der Schule in einen Wolf verwandeln würde?! Ich schluchzte auf. Hemmungslos liefen mir die Tränen über das Gesicht und ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper. Mir war kalt, und alles war gerade furchtbar.
Nuke hätte mir zumindest ein paar Ratschläge darüber geben können, wie ich mich denn nun bitte verhalten sollte.
Hastig griffen meine Hände zu meinem Handy und ich konnte nicht anders, als Nuke eine Nachricht zu schreiben. Schließlich war er bei solchen Dingen mein einziger Ansprechpartner. Meine Augen hafteten auf dem weiß leuchtenden kleinen Bildschirm, aber Nuke antwortete nicht.
Verdammt! Verdammt verdammt verdammt! Ich raufte mir durch die blonden Haare und musste feststellen, dass je dunkler es wurde, desto mehr meiner Körperteile sich verwandelten. Nur dass ich es nicht steuerte. Meine Hand war eine mit Krallen bestückte Pranke geworden und es kribbelte überall, lange würde ich es nicht mehr zurückhalten können. Was hatte Nuke doch gleich gesagt? Ein Bündniss mit meinem inneren Wolf eingehen?
Wie denn bitte!? War das überhaupt ernst gewesen?
Warum ich! Ich hatte mir nie gewünscht ein Monster zu sein! Wieder schüttelte es mich vor Schluchzern, offenbar konnten auch Werwölfe weinen.
Da klopfte es an der Tür: "Alles in Ordnung Misu?", meine Mutter machte sich wohl Sorgen warum ich heulend in meinem Zimmer hockte. Aber so gerne ich mich auch in ihre Arme geworfen hätte, sie hätte wahrscheinlich Angst vor mir gehabt.
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