5. Kapitel
Da lag mein Mobiltelefon.
Auf dem Asphalt.
Unschuldig und allein.
Aber nicht da wo ich es verloren haben konnte.
Ich war mir sicher, dass es gestern nicht so weit bis zu den Büschen hier gerutscht war. Dennoch hob ich es auf. Auf dem Display zeichneten sich mehrere feine Risse ab, aber ansonsten schien es heil. Ich sah auf die Uhr: fünf Minuten nach zwei. Ein Auto rauschte an mir vorbei und hupte genervt, da ich fast mitten auf der Straße stand und ich machte geistesgegenwärtig einen Satz nach vorn - ins Gebüsch. Es war nicht wirklich ein Gebüsch, eben eine Hecke aus Thuja, deren einzelne Bäumchen allerdings nicht miteinander verwachsen waren. Mit einem Schlag stand ich also in einem Garten. Ich hatte mich schon öfter gefragt, warum die Bewohner des Anwesens sich nicht mal einen richtigen Zaun anschafften. So konnte man doch ganz einfach einbrechen. Was ich natürlich noch nie zuvor gemacht hatte.
Gerade wollte ich wieder von dem fremden Grundstück verschwinden, als ich registrierte, dass es sicherlich unbewohnt war.
Das Haus hinter dem Thuja-Zaun war alt und baufällig. Nicht so schmuck wie alte Gebäude des öfteren waren, sondern einfach nur - vergammelt. Es hatte ein Giebeldach mit mehreren Löchern und die Fenster waren allesamt dunkel. Hier wohnte garantiert niemand mehr. Manche Fenster waren eingeschlagen, der Blitzableiter auf dem Dach sah einfach nur noch verrostet aus, und der Schornstein lag in mehreren Trümmern neben dem Haus. Hübsch hier. Komisch nur, dass man es nicht längst abgerissen hatte. Merkwürdig war auch, dass die Wiese hier an vielen Orten platt getreten war, und sich regelrecht Wege zum Haus schlichen.
Neugierig ging ich auf das Haus zu. Alte Gemäuer faszinierten mich irgendwie und gerade dieses Haus zog mich fast magisch an. Als würde es nach mir rufen, oder hätte schon länger auf mich gewartet. Aber nicht wie in Horrorbüchern, wo dieses Gefühl mit Angst verbunden war. Es war das Gefühl endlich nach Hause zu kommen. Als wäre ich hier schon tausendmal gewesen.
Als ich an der Tür angekommen war, musste ich feststellen, dass sie halb offen stand. Dem Türrahmen nach konnte man sie wohl auch gar nicht mehr richtig schließen. Eine Türklinke oder ähnliches fehlten sowieso. Gerade wollte ich eintreten, als ich ein heiseres Heulen hinter mir vernahm, und mich reflexartig umdrehte.
Dort stand ein riesiger schwarzer Wolf mit leuchtend gelben Augen. Ich erkannte ihn wieder und hatte sonderbarerweise überhaupt keine Angst vor ihm. "Hi", sagte ich, weil ich nicht wusste was ich sagen sollte. Der Wolf grollte, es hörte sich wie ein Lachen an. Dann geschah das Merkwürdigste was ich je gesehen hatte: Der Werwolf schrumpfte zusammen und nach wenigen Sekunden stand dort ein Junge mit ausgewaschenen Jeans, schwarzen wilden Haaren und goldbraunen Augen: "Hi. Schön dass du gekommen bist." Ich nahm seine ausgestreckte Hand zögernd, aber ich konnte keinen bösen Gedanken an ihm wittern. Moment: WITTERN? Ich hatte mich tatsächlich dabei ertappt, wie ich seinen Duft aufnahm. Irgendetwas stimmte nicht mit mir.
Der Junge ließ meine Hand wieder los und ging in das Haus: "Komm, innen ist es wärmer." Allein durch seine Worte beruhigt betrat ich die Hütte hinter ihm. Sie hatte nur vier Zimmer wie ich schnell herausfand, nämlich eine Küche, ein Bad, ein Wohnzimmer und eine Art Büro. Zumindest waren dort eine Menge Bücher und Papier lag auch rum, genauso wie Stifte. Genaueres erkannte ich nicht, denn mein Gastgeber schob mich immer weiter bis zum Wohnzimmer, wo wir uns gegenüber in ziemlich gemütliche Sessel setzten.
"Mein Name ist Nuke und ich bin ein Werwolf, wie du jetzt auch. Wenn du es mir übel nimmst verzeih mir, früher oder später hätte es ohnehin jemand getan." Verdutzt sah ich ihn an: "Früher oder später wird jeder zum Werwolf oder was?" Er lachte leise: "Nein, aber es war schon bestimmt dass du einer werden wirst. Man erkennt solche Leute an ihrem Geruch." Ich blinzelte verstört. "Okay, wenn du Fragen hast, einfach raus damit, ja?" Ich nickte, sagte aber nichts, obwohl ich tausende Fragen hatte. Nuke ließ mir kaum Zeit nachzudenken, und kam sofort auf den Punkt: "In der nächsten Vollmondnacht wirst du dich allerspätestens das erste Mal verwandeln, allerdings bekommst du wahrscheinlich nichts davon mit, außer dass du dann irgendwann irgendwo wieder aufwachst, und möglicherweise einen Menschen getötet hast. Deshalb würde ich dir gern zeigen wie du mit deinem inneren Wolf ein Bündnis eingehst, um ihn kontrollieren zu können und du wann immer du willst auf diese Fähigkeit zurückgreifen kannst." Er musste mein unsicheres Gesicht gesehen haben, denn er hob die Hände:" Zu kompliziert? Zu viele Infos?" "Ja ...", irgendwie wusste ich nicht recht was ich sagen sollte, ich wünschte mir einfach, nie von einem Werwolf gebissen worden zu sein. War das so schwer zu verstehen? Ich hatte einfach nur Angst gerade. "Kann man... kann man das... rückgängig machen?", fragte ich, und meine Stimme zitterte wie ein Spinnennetz im Wind. Nuke schüttelte den Kopf: "Nein, aber du wirst dich daran gewöhnen, glaub mir." Ich war mir nicht sicher, ob ich mich daran gewöhnen wollte. "Ich weiß nicht, ob ich damit klar kommen kann...", stotterte ich, und starrte auf meine Hände. Nuke lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Er hatte offenbar überhaupt kein Problem damit über Werwölfe zu reden oder mit einem fremden Mädchen im Wohnzimmer zu sitzen: "Du kommst nicht drum herum, früher oder später kriegt er dich."
Beim letzten Satz musste ich schlucken. Er kriegt mich. Der Wolf in mir? Irgendwie redete Nuke nicht gerade so als wolle er mich trösten, sondern eher so als wolle er mich noch mehr einschüchtern. Ich hasste solche Leute, die sich besser und schlauer fühlten und das auch sehr deutlich zeigten. Normalerweise stieg mein Selbstvertrauen dadurch auch, aber hier hatte ich einfach das Gefühl mich ihm unterordnen zu müssen.
Er ist dein Alpha, spukte eine komische Stimme in meinem Kopf herum, deren Besitzer ich nicht kannte, aber gerne kennen würde - Es war alles viel zu kompliziert.
Ich fing an zu zittern. Mir war überhaupt nicht wohl und irgendwie verspürte ich auch eine leichte Übelkeit.
Nach längerem Schweigen stand ich auf: "Ich denke ich sollte langsam gehen, schön mit dir geredet zu haben." Für einen Sekundenbruchteil blitzte etwas wie das Zwischending von Trauer und Ärger in Nukes Augen auf, aber dann erhob er sich ebenfalls und brachte mich zur Tür. "Wenn du Fragen hast, meine Nummer habe ich mal in deinem Handy gespeichert", sagte der Werwolf noch lächelnd, bevor ich mich abwandte und das Grundstück verließ.
Schaudernd steckte ich die Hände in die Taschen und machte mich auf den Weg nach hause. Die frische Luft und die Bewegung tat mir gut, und irgendwann ging ich sogar in ein Joggen über, obwohl ich normalerweise eher weniger sportlich veranlagt war.
Dieses Mal aber machte es mir nichts aus und mir wurde auch richtig warm dadurch.
Das schlechte war aber auch, dass ich Hunger davon bekam.
Von diesem Gespräch hatte ich mir zwar nicht viel erhofft, aber es war ja nicht einmal ein Gespräch gewesen. Nuke hatte mir einfach nur Möchte-gern-Fakten vor die Nase geklatscht, als würde er sowas tagtäglich machen. Ich schnaubte. Dieser Kerl war nicht gerade die Hilfsbereitschaft in Person.
Ich war so in Gedanken, dass ich weder merkte wie ich einen Radfahrer überholte, noch wie sich Fell in meinem Gesicht bildete. Ich dachte lediglich darüber nach, ob Nuke ein durchgeknallter Teenager war der mich verarschen wollte, oder tatsächlich ein Werwolf. Sollte ich mit meinen Eltern darüber reden? Mit meinen Freunden? Sollte ich einen Arzt aufsuchen?
Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass ich niemandem davon erzählen, und im Internet mal darüber recherchieren würde.
Da stand ich auch schon vor unserer Haustür und strich mir die Haare aus dem Gesicht, dessen Pelz sich gerade wieder zurückzog. Nervös hielt ich mir die Hände an die Wangen, bis ich keine zu langen Haare mehr spüren konnte.
Entweder ich drehte auch gerade durch, oder Nuke hatte nicht gelogen.
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