12. Kapitel
Das knackende Geräusch der Tür lässt mich hochfahren. Auch meine Zellengenossin blickt auf. Die Zellentür öffnet sich und ein Polizist sieht mich abschätzend an. Überlegt er gerade ob ich überhaupt noch lebe so wie ich aussehe? Wahrscheinlich sehe ich tatsächlich ziemlich schlimm aus.
"Otaka Misu, du wurdest freigesprochen. Komm bitte mit." Verdutzt klappe ich das Notizbuch zu und stecke den Kugelschreiber in meine Jackentasche. Freigesprochen? Es rattert eine halbe Ewigkeit in meinem Kopf, ehe ich aufstehe und dem Beamten folge. Mein Bein ist eingeschlafen und mein Gang ist eher ein Humpeln. Außerdem knurrt mein Magen mal wieder höllisch.
Der Mann bringt mich in eine Art Empfangsraum und dort sitzen meine Eltern. Meine Mutter springt auf und nimmt mich in die Arme, aber ich kann mich irgendwie nicht freuen. Ist es das Richtige mit meiner Familie unter einem Dach zu leben? Sollte ich jetzt überhaupt noch am Leben sein?
"Geht es dir gut Misu Schatz?! Sag doch was!", meine Mutter streicht mir einige Haarsträhnen aus meinem vermutlich verheulten Gesicht. "Ja", ich schniefe. Ich will jetzt nicht weinen. Und eigentlich will ich überhaupt nicht mehr über all das nachdenken.
Es ist doch Weihnachten. Ich sollte mich freuen.
Aber ich kann das nicht. Ich kann jetzt nicht einfach wegsehen, es ist geschehen und nicht wieder rückgängig zu machen.
Ich drücke meine Mutter von mir weg: "Es ist alles in Ordnung, ich bin okay."
Mir ist doch nichts passiert verdammt! Wann begreifen die endlich dass es die Schuld dieser Polizisten war! Nuke wollte mich nur beschützen, und jetzt ist er tot und ich sitze im Gefängnis. Saß. Jetzt gehe ich nach Hause und soll ein gutes Gewissen haben? Das alles vergessen? Nein. Lieber bleibe ich den Rest meines Lebens in diesem muffigen Loch als dass noch weitere wunderbare Lebewesen wegen mir sterben müssen.
Jetzt weine ich doch. Obwohl ich es nicht gewollt habe.
Die Welt ist falsch, verkehrt herum, unfair.
Aber ich kann nicht sprechen. Meine Lippen bleiben geschlossen. Wer hier überleben will der muss im Strom mitschwimmen. Alleine kann ich nichts ausrichten.
Ich bekomme nicht mit wie wir zum Auto gehen, auch die gesamte Autofahrt bin ich mit meinen Gedanken woanders. "Sie steht wahrscheinlich unter Schock", hat der eine Polizist gesagt. Ja, so könnte man meinen Zustand vermutlich beschreiben. Nur weiß keiner den tatsächlichen Grund.
Sie haben mich ohnmächtig gefunden, unter einer Leiche. Sie denken die Polizisten hätten mich gerettet, aber da manche Leute mich auch in Werwolfsgestalt gesehen haben, habe ich ins Gefängnis gemusst. Und nun hat man wohl beschlossen dass es unmöglich ist sich in einen Wolf zu verwandeln, und dass ich unschuldig sein muss.
Aber ich fühle mich schuldig.
Nuke ist tot.
Mikey ist tot.
Felix ist tot.
Alle sind tot, es ging ihnen so gut bevor ich kam.
Aber Nuke sagte es wäre nicht meine Schuld. Er wollte mich genau vor diesen Gedanken schützen. Er hat gewollt dass ich mir nicht die ganze Schuld gebe.
Und was ist mit Ji? Ich werde ihr nie wieder unter die Augen treten können, und sie wird mich bis zu meinem Lebensende hassen und verabscheuen. Ich glaube kaum dass man jemals den Anblick vergisst, wie sich eine Freundin in ein Monster verwandelt um auf einen Polizisten loszugehen.
Auch ich will das nicht vergessen. Ich möchte, dass dieser Geburtstag für immer in meinem Gedächtnis bleibt. Als wunderbarer Tag. Als der schönste Tag meines Lebens.
Ich darf sie einfach nicht vergessen, nur so können sie weiterleben.
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Tief atme ich durch und betrete das Klassenzimmer. 26 Augenpaare haften auf mir und still setze ich mich neben Lucy.
Jeder weiß dass ich für eine Woche im Gefängnis gewesen bin und jetzt nach den Weihnachtsferien will natürlich jeder die Geschichte hören. Ich weiß nicht was ich erzählen kann, schließlich ist Ji dabei gewesen und auch Marita hat die Jungs zweimal gesehen.
Aber wenn es sein muss erzähle ich eben die Wahrheit. Ich scheue mich nicht davor.
Aber ich muss nun erst einmal mit Ji reden. Ich muss es einfach versuchen. Erst danach weiß ich, ob ich weiterhin mit Menschen zusammenleben sollte.
In der Pause nähere ich mich ihr mit eingezogenem Schwanz - pardon - mit gesenktem Kopf. Das Mädchen blickt auf, sagt aber nichts, auch als ich neben ihr stehe isst sie nur weiter ihr Milchbrötchen. Sie will wohl nichts mit mir zu tun haben, aber ich wittere eigentlich nur Scham und keine Gefühle wie Angst oder Abneigung.
"Hi, Ji", sage ich vorsichtig. Ich will nichts falsch machen. Beim nächsten Mal lande ich bestimmt nicht nur im Gefängnis.
Ji sieht mich noch immer nicht an.
"Es tut mir Leid, wir hätten es dir sagen sollen.", versuche ich es weiter, aber sie reagiert nicht. Ignoriert sie mich etwa erbarmungslos? Eine Kälte staut sich in mir an. Aber ich gebe nicht auf.
"Du bist nicht daran Schuld was geschehen ist, ich hätte genauso gehandelt." Ich sehe wie ihre Nase zuckt, aber sie hält den Kopf gesenkt und ihre Haare verdecken ihre Augen.
"Bitte sei nicht sauer auf mich. Das war doch alles nicht geplant und ich war an diesem Tag wirklich so glücklich wie noch nie." Jetzt werde ich doch etwas verzweifelt und meine Stimme klingt auf einmal wacklig und verheult. Schwach.
"Lass Felix und die anderen nicht einfach in deinem Hinterkopf vergammeln! Sie sind für dich gestorben! Für uns! Sie haben uns beschützen wollen!"
Endlich schaffe ich es Stärke in meine Stimme zu kriegen und Ji sieht mich tatsächlich an. Ihre Augen sind rot, aber sie lächelt:
"Ich habe sie nicht vergessen. Weder das Schlittschuhlaufen, noch unsere Diskussion über Schneeflocken. Auch nicht, als Mikey auf dem Brunnen herumgeturnt ist und gerufen hat dass Felix mich liebt.
Und genauso kann ich mich an die zerfetzten Körper der Polizisten erinnern und an die Schüsse. Es ist alles da, aber ich weiß nicht, was ich denken soll. Wenn du ein Werwolf bist, wenn Nuke, Felix und Mikey Werwölfe waren, und trotzdem so unfasbar nett seid, dann kann ich nicht schlecht über euch denken, aber - es gibt keine Werwölfe. Es gibt sie einfach nicht. Sie existieren nicht in dieser Welt, das ist alles Fantasie und Aberglaube das sich da in meinem Kopf zusammenspinnt. Das war alles nicht wahr", sie flüstert beinahe. Aber ich kann sie hören, und es ist alles, was ich wissen wollte.
Ich habe mich wohl geirrt, man kann die Menschen nicht belehren, sie gehen stumpf und eigensinnig den Weg den sie sehen, nicht den den sie fühlen. Sie hören zu oft auf ihren Kopf, die Stimme des Herzens verstummt. Es gibt zu viele dieser Kreaturen, dieser Monster, auf der Erde. Sie fühlen sich sicher und unzerstörbar. Bis jetzt sind sie das vielleicht auch noch, aber für wie lange?
Wieder blicke ich fest in Jis Augen: "Du bist nur verwirrt, denk noch einmal...", aber sie lässt mich nicht ausreden, sie ist bereits verseucht und geblendet von der Göttlichkeit der Menschen. Ihr Gesicht ist eine Fratze, als sie mir ins Gesicht schreit:
"Das war alles nicht wahr, hörst du?! All diese Erinnerungen sind fiktiv! Nichts als Ausgeburten meiner durchgeknallten Fantasie! Ich bin verrückt! Misu, ich bin verrückt!
Es gibt sie nicht. Werwölfe sind nicht real!"
Wieder lacht das Mädchen, und Tränen laufen aus ihren dunklen Augen.
"Nein!", schreit sie immer wieder
"Es gibt euch nicht! Es gibt euch NICHT!"
immer und immer wieder
"Ihr gehört hier nicht her! Ihr existiert nicht!"
Es gibt sie nicht...
Es gibt sie doch...
Es gibt sie nicht...
Es gibt sie doch...
Es gibt sie nicht...
Es gibt sie doch.
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Frohe Weihnachten euch allen!! <3
Und ein riesen Dankeschön an Queen_of_Raven denn der Award war echt klasse :D :D
[Hier müsste ein GIF oder Video sein. Aktualisiere jetzt die App, um es zu sehen.]
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