1. Kapitel

Hi Misu!
Alles Gute und Wunderbare zum Geburtstag!
Feiere schön und relax mal ein bisschen, wir sehen uns,
dein Nuke <3

Mehr steht nicht in dem kleinen Taschenbuch. Mit zitternden Fingern klappe ich es zu und streiche liebkosend über den dunkelblauen Einband. In verschnörkelter Goldschrift steht dort mein Name: Misu. Es ist extra für mich angefertigt worden und dunkelblau ist auch meine Lieblingsfarbe. Aber trotz dem wunderbaren Geburtstagsgeschenk, kommt kein Funken Freude in mir auf. Wir sehen uns, hat er geschrieben. Eine dicke Träne rollt über meine Wange, über mein Kinn und schlussendlich verschwindet sie in meinen Haaren. Ich würde ihn niemals wieder sehen, denn er ist tot. Tot, weil er sein Leben für das meine geopfert hat.

Ich schluchze lautstark und drücke das Büchlein fest an meine Brust. Meine Zellengenossin, eine mindestens zehn Jahre ältere Frau, die versucht hat eine Bank mit Telepathie auszurauben, dreht mir genervt den Rücken zu. Ich weine schon die ganze Nacht, na und?! Ich bin hier in einem Gefängnis, wo einem praktisch alles verboten ist, aber gegen weinen hat noch niemand ein Verbot aufgestellt. Aber schließlich bin ICH ja auch nicht hier weil ich meditierend vor einem Tresor gesessen habe, sondern weil ich unrechtmäßig eingesperrt worden bin und weil in den letzten Tagen so viel passiert ist, mit dem ich nicht klar komme. Da darf man doch mal weinen.

Ich liege auf dem Rücken im Bett, den Blick starr zur weißen Decke gerichtet. Ein weiterer Schwall an Emotionen kriecht in mir hoch und wieder schütteln Schluchzer meinen Körper. Das Kissen unter meinem Kopf ist schon ganz durchnässt vor lauter salziger Tränen und mit meinen Fingern habe ich die Matratze aufgeschlitzt, aber das merke ich gar nicht.

Irgendwann muss ich mich dann wohl beruhigt haben, denn das nächste was ich weiß, ist das Aufwachen von einem lauten Klingeln. Das Geräusch klingt in etwa so, wie eine altmodische Schulglocke, die mit dem Geräusch einer Kreissäge modifiziert worden ist. Zum Glück hält es nicht sehr lange an und ich schäle mich aus dem Bett. Die Möchte-gern-Bankräuberin hat sich bereits angezogen und sitzt meditierend auf ihrem Bett. Ich beachte sie nicht weiter und gehe ins Bad. Wenn man so ein kleines stinkendes Zimmer überhaupt als Bad bezeichnen kann. Der Spiegel ist halbblind und ich habe weder Zahnbürste noch Kamm oder sonst welche Hilfsmittel, mit denen ich vielleicht nicht ganz wie ein Untoter aussehen würde. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mir mit den Händen durch die dunkelblonden langen Haare zu fahren und mir Wasser ins Gesicht zu klatschen. Kaltes Wasser. Eiskaltes Wasser. Aber es macht mich dennoch nicht wacher, nur nasser. Meine grün-blau-braunen Augen schimmern etwas zu golden, was ich mir allerdings nicht verübeln kann, da mein kompletter Körperhaushalt noch immer viel zu sehr mit meinen seelischen Problemen belastet ist. Als ich den Mund öffne, kann man die spitzen Eckzähne ebenfalls noch zu gut erkennen.

Niedergeschlagen trotte ich aus dem kleinen Bad und komme gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie meine Zimmergenossin aus der Zelle gebracht und zum Essensraum geführt wird. Was ich natürlich nur vermuten kann, da ich selbst immer alleine hier essen muss. Aber es ist eben am Naheliegendsten.
Wie jeden Morgen, Mittag und Abend kauere ich mich auf mein Bett und betrachte das Etwas, was uns hier als Nahrung vorgesetzt wird. Heute ist es grüne Pampe mit grünen, gelben, braunen und orangen Klümpchen. Angeekelt fische ich die braunen Klümpchen, die sich als kleine Stücke von Wiener Würstchen herausgestellt haben, heraus, und schiebe sie mir ins Maul. Der Geschmack ist so eklig, dass mir etwas Galle hochkommt, aber tapfer schlucke ich die Brocken hinunter. Den Rest spüle ich im Klo weg.

Wäre ich nicht so am Ende mit den Kräften, hätte ich die Suppe vermutlich auch essen können, aber in der Verfassung in der ich mich im Moment befinde, schmeckt alles pflanzliche einfach nach einer Mischung aus Hustensaft, Ingwer und Bier von gestern. Auch wenn mir nicht einmal Bier von heute schmecken würde.

Nach einer Weile kommt meine Zellengenossin wieder und setzt sich wortlos auf ihr Bett. In der Hand hält sie eine Zeitung, die sie nun aufschlägt. Wie in Trance sitze ich auf der Bettkante meiner ihr gegenüberliegender Schlafstätte, und versuche die Buchstaben auf dem Tageblatt zu lesen. Aber sie sind zu klein gedruckt und ich hocke mich über mein Geburtstagsgeschenk.

Wieder betrachte ich das kleine blaue Notizbuch, schlage es auf, lese die vier Zeilen meines Freundes erneut, als könnte ich ihn damit wieder zum Leben erwecken, überwinde meine Trauer, und blättere auf die nächste Seite. Das Buch hat linierte Seiten und davon ganz schön viele. Zu hobbylos um irgendetwas schlaueres zu tun, blättere ich die Seiten durch. Eine nach der anderen. Immer wieder spiegelt sich das grelle Licht der Neonröhre an der Decke dabei in dem kleinen silbernen Ring, den ich am linken Zeigefinger trage. Er ist aus Sterlingsilber, was mich glücklicherweise nicht beeinträchtigt, und hat an Anfang und Ende jeweils einen kleinen filigran gearbeiteten Kopf einer schlangenartigen Kreatur. Ich lege ihn nur zum Schlafen oder Duschen ab, was ich allerdings beides schon seit Tagen nicht mehr wirklich getan habe, und so hat das Schmuckstück nun schon eine etwas längere Zeit an meinem Finger verweilt, als sonst.
Gedankenverloren streiche ich über den einen Kopf. Ich habe sie irgendwann mal Yin und Yang getauft. Gut und böse. Schwarz und weiß. Beides liegt so nah beieinander, und niemals wird es nur die eine Seite geben. Auch wenn sich das viele Menschen wünschen. Aber dann wäre da noch die wichtige Frage zu klären, wer denn nun eigentlich gut und wer böse ist.
Sind die Ganoven die bösen weil sie anderen Leuten etwas stehlen oder sie töten, oder sind die Polizisten die Bösen, weil sie Leuten die Freiheit rauben? Oder sind gar die Opfer die Übeltäter weil sie zuvor in ihrem Leben so viel mehr schlechtes getan haben als der Räuber?
Das Notizbuch in meinem Schoß klappt sich langsam aber sicher wieder von selbst zu.

Da raschelt die Zeitung und wie vom Blitz getroffen fahre ich zusammen. Es ist nichts passiert. Alles gut. Es war nur die Zeitung. Ich schüttele den Kopf über mich selbst. Ich bin unglaublich angespannt. Es muss doch etwas geben um dem Alltag zu entfliehen! Verzweifelt lasse ich meine Augen durch den Raum schweifen, rieche die muffige Luft der Zelle, höre das Rascheln der Zeitung, sehe vier geschlossene Wände. Ohne Fenster, ohne Bilder. Kahl und grau. Mit Kugelschreibern haben sich so manche Leute verewigt, in der oberen Ecke über der Tür  ragt ein altes Rohr aus der Wand. Aber das ist alles.
Plötzlich fällt mein Blick  auf die Dunkelheit unter dem Bett meiner Nachbarin: Dort liegt ein kleiner silberner Stift. Geräuschlos rutsche ich von meinem Lager und hebe den Kugelschreiber auf. Er sieht alt und gebraucht aus, aber als ich mit der Miene in kleinen Kreisen über meinen Handrücken fahre, zeichnet sich eine dünne schwarze Linie darauf ab.
Mit neuem Tatendrang springe ich auf mein Bett dass der Lattenrost kracht und schlage das blaue Büchlein auf. Ich habe mal gehört, dass es viel leichter ist über innere Schmerzen hinwegzukommen, wenn man sie jemandem erzählt oder sie aufschreibt. Und da ersteres auf jeden Fall wegfällt, habe ich noch immer Variante 2.

So beginne ich, alles von Anfang an aufzuschreiben. Meine Gefühle und Gedanken auf das Papier zu bringen, um mich von ihnen zu lösen.
Ich beflügele meine Seele und schreibe all die belastenden Worte nieder.

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