16. Springreiten

,,Los Rubin, noch etwas mehr Tempo!", feuerte Max mich an. Zwei lange Monate waren seit der Kutschfahrt vergangen und ich konnte endlich wieder normal geritten werden. Es war kälter geworden und momentan anfangs November. Wir standen nicht mehr so oft draussen, weil es jetzt oft regnete und ein kalter Wind einem um die Ohren blies. Meine Verletzung war überraschenderweise völlig verschwunden und Max konnte auf mir reiten. Er war grösser und schwerer als ich es mir gewohnt war und es hatte seine Zeit gebraucht, bis ich mit seinem Gewicht klargekommen war. Aber soviel ich gehört hatte, würde morgen seine Nichte kommen und auf mir reiten.
Ich galoppierte auf der Weide vor dem Stall über kleine Hindernisse, die Max aus den verschiedensten Dingen zusammengestellt hatte. Er hatte bei sich zuhause keine richtigen Hindernisse wie bei Black mit Stangen und allem, sondern hatte zum Beispiel eine Plastikstange auf zwei Stühle gelegt und mit alten Holzbalken ein Kreuzhindernis gestaltet.
Dass ich eine kleine Begabung zum Springen hatte, hatte Max gemerkt, als ich mich bei einem Ausritt vor einem Lastwagen erschrocken hatte und über einen niedrigen Holzzaun gesprungen war. Also hatte Max sich einige Sprünge zusammengebastelt und sie mit mir ausprobiert. Das Springen machte richtig Spass mit Max. Er hatte viel Verständnis wenn etwas nicht direkt klappte und lobte mich für jeden gemeisterten Sprung ausgiebig. Jetzt galoppierte ich vorsichtig auf ein etwas eher höheres Hindernis zu, das aus einem alten Zauntor bestand. Mit einem kraftvollen Sprung segelte ich darüber und streifte es nur kurz mit einem Hinterhuf. Bei der Landung musste ich kurz das Gleichgewicht wieder finden, galoppierte aber kurz darauf wieder sicher weiter.

Neben dem Zaun applaudierte es plötzlich und ich entdeckte Rita, die erfreut in ihre Hände klatschte. ,,Bravo!", rief sie und lächelte. Max parierte mich durch und ritt mich zu Rita hinüber. ,,Sie springt grossartig", lobte sie. ,,Ja, sie hat ein aussergewöhnliches Talent für einen Lipizzaner", antwortete Max. ,,Warum reitest du eigentlich nicht Dressur mit ihr, Lipizzaner sind ja eher für das geschaffen", sagte Rita. ,,Es gibt darum extra so einen Verein, der Springturniere nur für Lipizzaner macht. Bald findet wieder so eines statt, und ich habe mir überlegt sie daran teilnehmen zu lassen. Du siehst ja, wie gut sie ist", meinte Max. ,,Möchtest du sie denn selbst reiten an diesem Turnier?", wollte Rita wissen. ,,Ich habe da eher an Lea gedacht. Sie ist jünger und könnte Rubin sicherlich noch mehr fördern mit ihrer Springerfahrung", sagte Max. ,,Lea ist doch deine Nichte, oder?", fragte Rita. ,,Ja, aber ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen, du musst sie unbedingt kennenlernen. Sie kommt sehr wahrscheinlich morgen und probiert Rubin aus", erklärte Max. ,,Morgen? Und du hast noch nichts gesagt? Wer soll dann in dieser Zeit noch das ganze Haus putzen?", ärgerte sich Rita. ,,Keine Sorge, Lea bleibt nicht lange und ein bisschen Schmutz wird ihr nichts ausmachen. Ausserdem habe ich das Gefühl, dass du eh die ganze Zeit am putzen bist und das Haus direkt glänzt. Daraufhin antwortete Rita nicht, sondern marschierte wieder zurück zum Haus. Max schaute ihr ratlos hinterher, wendete mich schliesslich und galoppierte wieder an mit mir. Nach einer erfolgreichen Runde, in der wir alle Hindernisse fehlerlos gemeistert hatten, führte mich Max zufrieden zurück zum Stall. Er sattelte mich ab und wusch mit einem nassen Schwamm meinen Schweiss weg. Danach wurde ich mit einem Tuch trockengerubbelt und Max legte mir meine Decke um, die er mir gekauft hatte. Sie war wohl aus zweiter Hand, aber sie gab warm und noch völlig brauchbar.

Im Stall innen schaute mir Dumbledore entgegen und Pluto kam angehüpft. Er war viel grösser geworden und wollte oft auch mitkommen wenn wir einen Ausritt machten. Mandy war weiterhin in grösster Sorge wegen allen auch noch so wenig schlimmen Dingen, die er anstellte. Einmal hatte er sich losgerissen und war voller Freude in den breiten Brunnen hinter dem Stall gesprungen. Aber als er nicht mehr hinauskam hatte Mandy eine riesen Panik geschoben und hatte fast die Stalltür aus ihren Angeln gerissen, so wie Lucy damals im Stall von Black. Pluto konnte dann aber schliesslich von Max gerettet werden und Mandy hielt ihrem Sohn danach eine lange Strafpredigt. ,,Was hast du heute gemacht?", wollte Pluto wissen. ,,Ich bin gesprungen", antwortete ich müde. ,,Wie hoch? Wie lange?" ,,Genau wie gestern", antwortete ich dem aufgedrehten Hengst geduldig. Er hatte es unbedingt nötig sich noch ausgiebig zu bewegen. ,,Was hast du..." Wollte Pluto wissen, doch er wurde von Mandy unterbrochen: ,,Ruhig jetzt, Pluto. Siehst du nicht, dass Rubin müde ist und sich ausruhen möchte? Du solltest etwas mehr Respekt vor den älteren Pferden zeigen." ,,Schon gut", meinte ich, drehte mich dann aber weg und lief zu der Krippe mit dem Heu. Pluto wollte mir schon folgen, merkte es dann aber und hielt sich zurück. Ich war froh als er dann schliesslich von Max auf die Weide hinausgelassen wurde, damit er noch etwas Dampf ablassen konnte. Bald war der Tag schliesslich vorbei und ich ging mit einem guten Gefühl schlafen.

Am nächsten Tag war ich schon früh wach und ging zum Fenster des Stalles. Draussen war es noch düster, ausserdem war es bewölkt und ein kalter Wind blies mir durch die Ritzen neben dem Fenster entgegen. Von Max war noch nichts zu sehen und auch von seiner Nichte Lea nicht.
Bald aber wurde es heller und Max kam fröhlich in den Stall hinein. ,,Guten Morgen alle zusammen!", rief er. Er füllte das Heu und das Wasser nach, putzte Dumbledore und Charlie, untersuchte kurz Pluto und führte schliesslich als letztes mich aus dem Stall. Er band mich neben der Tür an und begann mich gründlich zu putzen, bis mein Fell wieder strahlend weiss war. Es war tatsächlich jetzt weiss geworden, nur noch einige graue Stellen an meiner Kruppe und der dunkle Bauch waren übrig. Meine Mutter wäre bestimmt stolz gewesen mich so zu sehen.
Als Max fertig war, holte er meinen Sattel, der frisch poliert war wie ich bemerkte. Plötzlich knallte eine Autotür von der Richtung des Hauses und Max liess alles liegen und schritt eilig davon. ,,Lea!", hörte ich ihn rufen. ,,Tag, Max", antwortete eine hohe weibliche Stimme. Das musste wohl Lea sein, Max' Nichte. ,,Gross bist du geworden", staunte Max als die beiden um die Ecke zu mir bogen. Lea war wirklich gross, sie hatte lange braune Haare und dazu braune Augen. Sie hatte ein freundliches Gesicht und schaute mich mit prüfendem Blick an. ,,Schlanke Beine, einen schönen Hals, gut geformter Kopf und eine schöne Mähne", beurteilte sie mich knapp. Max lächelte stolz als er das hörte. So wie Lea aussah hatte sie viel Erfahrung mit Pferden, denn sie schien genau zu wissen was sie tat als sie kurzerhand sich den Sattel schnappte und ihn mir auflegte und festmachte. ,,Warum hast du eigentlich den Pferdetransporter mitgebracht?", fragte Max neugierig. ,,Wo soll ich sie denn reiten?", konterte Lea und schaute mit einem bisschen Spott im Blick zu Max. ,,Naja, wenn es geht auf der Weide, ich hätte..." Max wurde von Lea unterbrochen: ,,Ich habe zu Hause einen Reitplatz, wir sind ja nur eine Viertelstunde entfernt. Dort habe ich auch anständige Hindernisse und ich habe gedacht ich probiere sie gerade dort aus. Du kannst sehr gerne mitkommen. Und jetzt erkläre mir nochmals, warum reitest du ausgerechnet auf einem Lipizzaner Springreiten? Die sind nicht dafür gezüchtet." Max stockte erst einmal den Atem, danach sagte er aber bestimmt: ,,Sie hatte einen Unfall und läuft seit dem nicht mehr so elegant, deshalb möchte ich mit ihr nicht Dressur reiten, ausserdem kann ich es nicht. Und irgendjemand hatte die Idee Springturniere für Lipizzaner zu machen, bei denen kann man noch recht hohes Preisgeld gewinnen und ja." ,,Das was du ein bisschen nötig hast", ergänzte Lea. Sie betrachtete abschätzig den Stall und wandte sich wieder mir zu. Sie griff meinen Strick und führte mich neben dem Stall vorbei zu ihrem Auto mit dem Pferdeanhänger. Beide Sachen waren wohl recht neu und modern. Zielstrebig führte sie mich in den Anhänger hinein und band mich geschickt an. Im Inneren hatte es ein Heunetz an dem ich zu knabbern begann. Ich war etwas erstaunt über Lea. Sie war wohl sehr direkt und vorhin hatte sie alles selbst entschieden und kaum ihrem Onkel zugehört. Gleich darauf setzte sich der Wagen in Bewegung und wir fuhren los.

Nach einiger Zeit hielten wir an und ich wurde von Lea hinausgeführt. Ein Hof mit einem grossen Stall und einem weitläufigen Reitplatz empfing mich. ,,Klein aber fein", meinte Lea. Ich hatte das Gefühl, dass sie Max absichtlich ärgern wollte, das er ärmer war als sie. Max erwiderte nichts auf ihre Feststellung und ging wortlos in Richtung Reitplatz. Er wirkte dabei sehr einsam und er tat mir leid. Lea legte mir noch mein Zaumzeug um und flocht meine Mähne in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit hoch. Sie selbst zog sich einen schwarzen Reithelm an und führte mich auch zum Reitplatz. Es waren bereits einige Hindernisse aufgestellt, sie waren aber diesmal so wie auf der Black-Ranch, also aus so aufrechten Dingern auf denen farbige Stangen lagen.
Mit einem Ruck stieg Lea auf und trieb mich mit ihren Fersen an. Sie war merklich leichter als Max und mehr Erfahrung im Sattel als er. Allerdings spürte ich von ihr nicht die Fröhlichkeit und Ausgelassen die Max immer ausstrahlte, sondern sie wirkte eher einfach zielstrebig und ehrgeizig. Ich wusste nicht, ob ich mich auf die nächste halbe Stunde freuen sollte oder nicht. Ich trabte gemütlich an um mich aufzuwärmen, so wie ich es mein Max auch immer tat. Ich trabte gehorsam zwei Runden, bis Lea mich schliesslich zum Galopp antrieb. Ich beschleunigte und galoppierte los durch den kalten Sand. Gerade wollte ich einen kleinen Bocksprung vorführen, doch ich besann mich und lief ordentlich weiter. Nach einer weiteren Runde nahm Lea die Zügel auf und lenkte mich zu einem niedrigen Kreuzsprung. Ich spürte wie sie sich etwas anspannte und dabei tief durchatmete. Um ihr keinen Grund zu geben nervös zu sein, machte ich keine Anstalten zu verweigern oder einen Bocksprung zu machen, sondern stiess mich kraftvoll ab und flog mit viel Anstand vom Boden über das Hindernis. Ich versuchte sanft aufzukommen und verlangsamte das Tempo. Lea hatte sich wieder ganz gefasst und trieb mich sofort wieder an. Wir galoppierten an Max vorbei, der ein stolzes Lächeln auf seinem Gesicht hatte. Ich wusste nicht, ob er stolz auf mich oder auf seine Nichte war. Ich entschied mich dafür, dass das Lächeln uns beiden gehörte.
Ich richtete meinen Blick zurück nach vorne und konzentrierte mich auf Lea. Sie lenkte mich auf einen etwas höheren Sprung zu, der aber zu schaffen war. Genau wie vorhin wurde Lea wieder angespannt und ich spürte sofort dass sie nervös war. Warum hatte sie so Angst vor einem Sprung? Bei Max hatte ich diese Anspannung nie gespürt, er war vor jedem Sprung immer total gelassen gewesen. Mit Leichtigkeit überwand ich auch diesen Sprung, genau wie die nächsten. Lea war wirklich eine gute Reiterin, aber ich konnte mir nicht erklären, warum sie immer so ruckartig angespannt wurde und Angst bekam vor jedem Sprung. Aber gleich nach der Landung war es immer wieder vorbei. Hatte sie noch kein Vertrauen in mich? Oder warum tat sie auch so kalt gegenüber mir? Meistens konnte ich die Gefühle der Menschen sofort erahnen. Max war ein sehr fröhlicher und aufgestellter Mann, während Black immer grummelnd und unfreundlich war. Bei Marc hatte ich eine Entschlossenheit aber auch eine freundliche Stimmung gespürt. Lea jedoch war verschlossen und ich konnte ihre Gefühle nicht orten.

,,Jetzt sehe ich, warum du ein Springpferd aus ihr machen willst", rief Lea Max zu. Sie lenkte mich zu ihm und wir kamen vor ihm zum stehen. ,,Ja, ich bin stolz, auf euch beide", antwortete Max. ,,Sie ist wirklich aussergewöhnlich für einen Lipizzaner!", fügte Lea hinzu. Da sagte Max: ,,Ich habe da aber noch eine Frage: Könntest du sie an dem Turnier reiten? Weil für so etwas bin ich zu alt." ,,Ja klar", meinte Lea, allerdings wirkte sie ein wenig unsicher. ,,Super!", rief Max. ,,Dann müsstest du aber noch einige Male mit ihr trainieren. Wollen wir das im Auto abmachen?" ,,Ist gut, dann gehen wir."

Lea sattelte mich beim Transporter wieder ab und führte mich hinein. Ich war ein bisschen erschöpft, aber trotzdem hatte es Spass gemacht. Und irgendwie freute ich mich auch auf mein erstes Turnier. Wir fuhren zurück zum Hof, wo sich Lea noch schnell verabschiedete und Max mich zum Stall zu den anderen führte. Als er die Tür öffnete, stürmte uns eine aufgebrachte Mandy entgegen. Sie keuchte und wieherte ängstlich: ,,Pluto ist weg!"

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