1. Frühste Erinnerungen
An das frühste, an das ich mich noch erinnern mag, war die grosse Weide, auf der ich tagsüber immer mit den anderen Fohlen spielte. Ich war die jüngste von allen, trotzdem war ich eine der schnellsten beim Fangen spielen. Das Spiel funktionierte so: Ein Fohlen war der Fänger und wenn es ein anderes Fohlen überholen konnte, war das andere der neue Fänger. Unsere Mütter grasten immer etwas abseits, behielten uns aber immer im Auge. Es war ein herrliches Leben. Meine Mutter war eine wunderschöne Schimmelstute und ich hoffte, dass ich auch mal so schneeweiss werden würde wie sie.
Am Abend wurden wir dann in unseren Fohlenstall gebracht. Dort hatte es viel Platz und eine dicke Schicht Stroh. Meine Mutter hiess Labella. Immer wieder erzählte sie mir, dass wir auf einem wohlerhabenen Lipizzaner-Gestüt lebten. Es war nicht so gross, aber alles waren reinrassige Pferde mit guter Abstammung. Mein Vater war ein erfolgreiches Dressurpferd, das schon viele Auszeichnungen gewonnen hatte. Labella erklärte mir, dass ich meinen Vater nie kennen lernen würde. Sie sagte auch, dass ich mich gut aufführen sollte, weil ich dann später, wenn ich genug alt war, verkauft werden würde und sie wollte dass ich einen guten neuen Besitzer bekam. Offenbar hatte Labella schon etwas schlimmes erlebt, dass sie mich immer wieder daran erinnerte. Ich wollte aber nicht daran denken, von hier wegzugehen, also benahm ich mich zwar, wenn mein Besitzer kam, hatte aber immer noch meinen Spass. Mein Besitzer war ein grosser, kräftiger Mann. Er hiess glaub Marc und er war immer sehr liebevoll zu allen Fohlen. Immer wenn er auf die Weide kam, brachte er irgendetwas feines zum Essen mit. Meistens waren es kleine Möhren- oder Apfelstücke. Marc gab jedem von uns ein kleines Stück und streichelte unsere Stirn. Wahrscheinlich wollte er, dass wir ihm vertrauten und das erreichte er auch. Wir Fohlen trabten meistens schon freudig zum Weidentor und erwarteten Marc mit einem Schnauben oder wir zupften im oft am Ärmel, was andeuten sollte, dass wir noch mehr Leckereien wollten. Marc schaute mich immer besonders lange an und machte ein nachdenkliches Gesicht. Ich fragte Labella, was mit Marc los war, wenn er mich so anschaute, doch Labella ging nie richtig auf die Frage ein. Ich liess dieses Thema einfach sein und vergass es.
Eines Tages fuhr ein grosser Pferdeanhänger auf den Hof und ich schaute neugierig über den Zaun zu dem seltsamen Gefährt. Ein grosser Mann mit kurzen schwarzen Haaren stieg heraus und schaute sich auf dem Hof um. Gleich darauf kam Marc hinaus und begrüsste den unbekannten Mann. Ich merkte sofort, dass Marc denn Mann nicht so mochte, denn er war nicht so fröhlich wie immer und schien sich über etwas Sorgen zu machen. Ich beschloss, näher zu den zwei zu gehen und beobachtete die zwei. ,,Wo ist das versprochene Fohlen?", fragte der Unbekannte mürrisch und rümpfte dabei laut die Nase. ,,Peter, willst du dir es nicht nochmals überlegen? Das Fohlen ist noch an seine Mutter gewöhnt und sehr jung... Willst du es jetzt schon?", fragte Marc den anderen Mann, der anscheinend Peter hiess. ,,Linda hat es mir versprochen, also will ich es jetzt!", erwiderte der Mann schroff. Marc zuckte zusammen, als der Mann den Namen Linda aussprach. ,,Bist du dir ganz sicher?", versuchte Marc den Mann zu überzeugen. ,,Ja. Keine Diskussion, hol es jetzt, dann kann ich wieder gehen." Marc liess die Schultern hängen und holte ein Halfter. Danach lief er auf die Weide und rief: ,,Ganador! Komm hierher Junge!" Ich legte den Kopf schief. Was wollte jetzt Marc von Ganador? Ganador war das zweitälteste Fohlen. Er war der Sohn der besten Freundin meiner Mutter und ein guter Spielkamerad von mir. Ganador's Mutter legte die Ohren an und trabte hinter ihrem Sohn her zu Marc. Was sollte das alles? Ich verstand nichts, was sich hier abspielte. Meine Mutter schaute besorgt zwischen Marc und der Mutter des Fohlen hin und her, blieb aber wo sie war. Marc halfterte zuerst schnell die Mutter an und band sie in einer gewissen Entfernung neben dem Weidentor an. Danach halfterte er Ganador auf und führte in von der Weide. Schon jetzt fing seine Mutter an verrückt zu spielen und versuchte sich loszureissen. Ganador trottete sorgenlos hinter Marc her und ahnte nicht im Geringsten, was auf ihn zukam. ,,Schau doch, Peter, die Stute will ihren Sohn zurück", sagte Marc und deutete auf Ganador's Mutter. ,,Die wird sich schon beruhigen. Gib jetzt das Fohlen her!", zischte Peter. Als Marc nicht reagierte, riss Peter ihm den Führstrick aus der Hand und riss Ganador brutal mit sich. Der junge Hengst wieherte schrill und wollte sich losreissen, doch der Mann war stärker. Gnadenlos zerrte er das Fohlen mit sich und schob es in den Pferdeanhänger. Ganador tritt und schnappte nach dem Mann, doch Peter wich immer geschickt aus und band das arme Fohlen fest an eine Stange im Anhänger an. Fassungslos schaute ich zu Marc, der dagegen nichts unternahm. ,,Los! Hilf ihm!", wieherte ich Marc zu, doch ich wusste dass er mich nicht verstand. Genau in diesem Moment erwischte Ganador das Bein von Peter. Der Mann wurde so wütend und drosch mit dem Führstrick böse auf das Fohlen ein. Seine Mutter, die immer noch angebunden war, drehte fast durch, versuchte zu steigen und zerrte wie verrückt an dem Strick, mit dem sie festgebunden war. So kannte ich die sanfte Mutter von Ganador gar nicht. Marc wandte sich ab, ging zu Ganador's Mutter und redete beruhigend auf sie ein. Allmählich wurde die Stute ruhiger, hatte aber ihre Ohren immer noch angelegt und tänzelte nervös auf der Stelle. Geschickt löste Marc das Halfter und liess die Stute frei. Wie ein wild gewordenes Pferd raste die Stute über die Weide und wieder zurück. Marc lief schnell ins Haus zurück. Peter schloss die Ladeklappe und stampfte in das Auto. Mit quietschenden Reifen fuhr er vom Hof. Er liess eine bedrückte Stille zurück, die plötzlich von dem schrillen Wiehern von Ganador's Mutter durchdrungen wurde. Dieses Wiehern werde ich nie mehr vergessen. Es drückte so viele Gefühle aus: Angst, Sorge, Wut und Sehnsucht nach dem eigenen Sohn, der einem brutal weggenommen wurde.
Tagelang noch stand Ganador's Mutter am Zaun, schaute in die Ferne und wartete auf Ganador's Rückkehr. Vergeblich, hatte mir meine Mutter erklärt. ,,Ganador wird nie mehr wieder kommen", hatte sie mir erzählt. Es war normal, dass die Fohlen verkauft und weggebracht wurden, doch auf diese Art und Weise hatte sie es noch nie erlebt.
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