Senja - Der alte Fischer

Gustav, so hieß Senjas Retter, murmelte ununterbrochen, während er ihre Wunden begutachtete. Er gab sich Mühe, nicht zu viel ihrer Kleidung zu zerschneiden, doch Senja schauderte dennoch unter seinen Blicken. Rasch sah sie sich in der kleinen Stube um, auf der Suche nach einer Ablenkung. Doch die Einrichtung war karg und bestand bloß aus einem kleinen Tisch, wenigen Möbeln und einem Kamin, in dem trotz der Sommerzeit ein Feuer brannte. Senja entschied sich schließlich Hugo, den kleinen Hund anzustarren. Hechelnd hielt er ihrem Blick stand. Als Gustav die Pfeilwunde in ihrer Schulter entdeckte, verstummte er plötzlich. Senja konnte spüren, wie er sie erneut von Kopf bis Fuß musterte und zuckte unter seinem Blick zusammen. Doch nach wenigen Momenten nahm er sein Gemurmel wieder auf, auch wenn es Senja nun leiser erschien. Als er seine Untersuchung beendet hatte, wandte er sich wieder an sie. Sein frohes Gesicht verhieß gute Nachrichten. 

"Die Wunden sind noch frisch, also kein Wundbrand, Eiter oder Entzündungen. Ich muss bloß einige Stofffetzen entfernen, vor allem an deinem Arm. Torron hat da ganze Arbeit geleistet, wirst wahrscheinlich einige Narben davontragen. Die Schulter scheint bloß eine Fleischwunde zu sein und dein Schulterblatt hat verhindert, dass der Pfeil zu tief eindringt." Er versuchte nicht zu verbergen, dass er über die Ursache der Wunde Bescheid wusste. Senja konnte allerdings nicht erkennen, wie er hinter der freundlichen Fassade darüber dachte. Ihr Blickfeld schrumpfte langsam, Kälte kroch durch ihre Glieder und sie fühlte sich sonderbar leicht. Lächelnd fuhr Gustav fort. "Durch das herausziehen, anstatt schneiden, hat sich die Wunde vergrößert und blutet stark. Bevor ich einen Verband anlegen kann, muss ich die Blutung stoppen und wir müssen versuchen den Blutverlust auszugleichen. Aber keine Sorge, ich habe dafür genau das Richtige. Ein Spezialrezept von einem alten Feldarzt, bewirkt wahre Wunder. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er einen Mann behandelt hat, der", er bemerkte ihren geschwächten Zustand und unterbrach sich selbst, "ich erzähl dir die Geschichte später. Ich helfe dir, dich zu entkleiden, damit ich mit der Behandlung beginnen kann." 

Sanft griff er nach ihrem Wams und wollte es ihr über den Kopf streifen. Panik schoss durch Senjas Adern, als sie die Berührung spürte. Mit einem Aufschrei schlug sie nach Gustavs Kopf. Angst übernahm ihren Verstand und ließ sie um sich schlagen, wie ein wildes Tier. Finstere Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf und sie zog sich in eine Ecke des Raumes zurück. Hastig suchte sie nach einem Fluchtweg und bemerkte nicht, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Der knurrende und bellende Hugo hatte sich vor dem einzigen Fenster platziert und Gustav stand zwischen ihr und der Tür. Mit großen Augen starrte sie ihr Gastgeber an, auf dessen Wange sich ihr Handabdruck rot abzeichnete. Senjas Kräfte schwanden plötzlich und ihr Verstand kehrte langsam zu ihr zurück. Die Panik hatte sie ihrer letzten Energie beraubt und hinterließ bloß ernüchternde Klarheit. Die Erkenntnis um ihre Hilflosigkeit traf sie hart, wie ein Hieb in den Bauch und ließ sie aufstöhnen. Sie war alleine, auf sich allein gestellt, zurückgelassen von ihren Kameraden. Schlimmer noch, sie hatte den einzigen Menschen geschlagen, der ihr nun helfen konnte. Sie musste sich nicht vor ihm fürchten. Sie war frei. Erschöpft sank Senja auf den Boden und Gustav sprang sofort herbei. Ihr Ausbruch soeben schien vergessen. "Es tut mir Leid", flüsterte Senja, bevor sie einschlief.

Die Welt um sie herum war rot, getränkt von dem Blut ihrer Feinde und ihrer Kameraden. Überall auf der Lichtung sah sie tote Körper liegen. Sie erkannte Harald, Rickon und weitere ihrer gefallenen Freunde, aber auch Unbekannte in Rüstungen und den Farben der zahlreichen Lords. Es war kalt auf der Lichtung, doch sie fror nicht. Mit einem Ausdruck des Entsetzens schritt sie durch das Feld der Toten und wollte sich zwischen den Bäumen verstecken. Dort hatte sie sich immer wohlgefühlt, in den Schatten der Wälder und dem Grün der Blätter. Doch sie konnte den Waldrand nicht erreichen. Egal wie lange sie auch ging, sie kam ihm keinen Schritt näher. Dann hörte sie Jemanden rufen. Sie glaubte ihren Namen zwischen den Stämmen zu vernehmen. Hoffnungsvoll rannte sie darauf zu, in dem Versuch der Magie dieses Ortes zu entkommen. Zwischen den Bäumen sah sie eine Gestalt erscheinen. Groß und kräftig stand Reiner neben einem Stamm und suchte die Lichtung mit seinen Blicken ab, rief immer wieder ihren Namen. In seiner Hand hielt er ein blutiges Schwert und auch seine Kleidung war durchtränkt mit Blut. Senja winkte, während sie rannte und schrie aus voller Kehle. Freudentränen rollten über ihre Wangen, doch Reiner reagierte nicht. Er konnte sie nicht hören, oder sehen. Mit einem letzten traurigen Blick wandte er sich ab und verschmolz wieder mit den Schatten. Senja schrie ihm nach, doch er konnte sie immer noch nicht hören. Erst jetzt wurde ihr klar weshalb. Sie hatte keine Stimme. Sie hatte nicht einmal einen Atem, der ihr in kleinen Wölkchen vor dem Gesicht schweben sollte. Panik ergriff sie und brachte sie zum Stolpern. Sich mehrmals überschlagend rollte sie durch das mit Blut getränkte Gras und blieb weinend und schluchzend liegen. Die leeren Augen der Toten starrten sie vorwurfsvoll an und schienen sie zu verfluchen. Sie hatte es nicht verdient noch am Leben zu sein. Gras raschelte neben ihr und sie sprang verängstigt zur Seite. Neben ihr erhob sich ein Haufen schwarzes Fell und wandte sich ihr zu. Zwei große, weiße Augen sahen freundlich auf sie hinab. Es war dasselbe Wesen, dass sie auch oben auf dem Wasserfall erblickt hatte. Eine haarige schwarze Hand wurde ihr entgegengestreckt. Zögerlich griff Senja danach.

Sie schlug die Augen auf und setzte sich mit einem Ruck auf. Etwas kühles, feuchtes klatschte in ihren Schoss und sie erblickte ein Bündel weißer Tücher. Sofort beschwerte sich ihr Körper über die plötzliche Bewegung. Schwindel erfasste sie und sie hätte sich vor Übelkeit beinahe übergeben. Tapfer behielt sie den kargen Inhalt ihres Magens bei sich. Schweißgebadet und nackt sass sie auf der weichen Matratze und kämpfte um die Kontrolle über ihren Körper. Bandagen bedeckten ihre Verletzungen und ihr rechter Arm lag angenehm in einer Schlinge. Einige Sekunden bewunderte sie die perfekt angelegten Verbände, dann erst sah sie sich um. Noch immer befand sie sich in dem kleinen Raum, bloß in dem Bett gegenüber dem Kamin. Glühende Kohlen verbreiteten Wärme und ein spärliches Licht. Es schien Nacht zu sein und außerhalb des Fensters herrschte undurchdringliche Schwärze. Die Erinnerungen an ihren seltsamen Traum kehrten zurück und ließen sie erschaudern. Es hatte sich so echt angefühlt. Sie sah die Gesichter der Toten vor sich, ihre leeren Blicke, die sie verfluchten und verspürte einen Stich im Herz, als sie sich an die traurigen Augen Reiners erinnerte. Ob er sie wohl suchte, oder war sie bereits vergessen? Und dann dieses Wesen. Dasselbe Wesen wie sie es bereits am Vortag gesehen hatte. Verlor sie den Verstand? 

Ein leises Knarren erweckte ihre Aufmerksamkeit und sie spähte in das Zwielicht. Neben dem Kamin in einem alten Schaukelstuhl sass ihr Retter Gustav und schnarchte leise vor sich hin. Zum ersten Mal konnte Senja den Mann richtig in Augenschein nehmen. Seine kurzen grauen Haare und das wettergegerbte Gesicht, sprachen für sein fortgeschrittenes Alter und die vernarbten, rauen Hände ließen auf eine durchlebte Vergangenheit schließen. Er trug, wie es für ältere Eremiten üblich war, einen Bart, der allerdings gestutzt und gepflegt aussah. Seine breite Stupsnase zuckte wild auf und ab, wenn immer er einatmete. Der Mann strahlte selbst schlafend eine Ruhe aus, der sich Senja nicht entziehen konnte. Sie legte sich wieder hin und bemerkte dabei Hugo, der sich zu ihren Füssen zusammengerollt hatte und wie sein Herrchen leise schnarchte. Sie beobachtete die Beiden noch einige Minuten und driftete langsam wieder in einen erholsamen, ruhigen Schlaf. 

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