I
Ksenia
Ksenias Mutter sagte immer, wenn du verloren bist, werden die Sterne dir den Weg zurückweisen. Blöd nur, dass Ksenia die besagten Sterne nie erblickt hatte. Zusehen war nur der Mond. Und manchmal, nur ganz selten, da glaubte sie Risse zu sehen in dem Gefäß, welches sie Himmel nannte und das die Erde einmal um spannte. Von Zeit zu Zeit fragte sie sich, wie die Sterne ausgesehen hatten, als sie noch sichtbar waren. Weiß und leuchtend, angeordnet in seltsamen Mustern, wurden sie beschrieben. Nicht, dass sich Ksenia wirklich vorstellen konnte, wie sie ausgesehen haben mussten. Und doch wünschte sie sich eher geboren worden zu sein, nur ein paar Jahre, wenn sie in den Himmel schaute. Dann hätte sie das Licht der Sterne fühlen, eine Sternentänzerin werden können, wie ihre Mutter. Stattdessen blieb ihr diese Macht verschlossen und sie selbst eingesperrt in einer Zeit, die keine Verwendung für sie hatte.
Und dennoch beneidete sie die Planetenkrieger keineswegs. Anna war eine davon, und sie schien immer blass und gestresst zu sein. Nicht dass Ksenia mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt hätte.
Während sie noch an Anna dachte, begann der Himmel über ihr seine Farbe zu ändern. Früher war es ein Sonnenaufgang gewesen, jetzt wurde es einfach heller. Die Sonne, die einst auf sie herab geschienen hatte, war von diesem Planeten verbannt wurden, als der Stern, der sie war. So wartete Ksenia, bis der falsche Himmel eine tiefrote Farbe angenommen hatte, um sich in Bewegung zu setzen. Sie ging langsam, gemütlich, ohne zu stocken. Den Brief für ihre Freundin hatte sie sicher in der Tasche verwahrt. Bald würden sie eine Reise antreten, endlich wieder in den Urlaub fahren. Milena hatte lange darauf warten müssen, wusste sie. Und Ksenia ebenso, auf ihre eigene Weise.
Als sie das kleine grüne Haus, in welchem Milenas Familie lebte, erreichte, ließ sie den Brief in den Briefkasten fallen und machte sich anschließend auf den Weg in den Park. Der Himmel war mittlerweile fast ausschließlich blau und Ksenia müde geworden. Sie legte sich in den Schatten unter einen Baum und beobachtete den Himmel. Die endlosen Weiten, die es gar nicht gab. Die leicht silbern schimmernden Risse, das Realste, dass sie sehen konnte wenn sie so in den Himmel schaute. Die kleinen Kratzer in der sorgfältig konstruierten Lüge, auf der ihre Welt aufbaute.
Im Unterricht hatten sie einmal über Wahrheit und Lügen schreiben müssen, über die Frage, ob es gute Lügen und schlechte Wahrheiten gab, ob man zum Schutz anderer Lügen durfte.
Ksenia hatte nicht abgegeben.
Nicht, weil sie sich nicht mit dem Thema befassen wollte, sondern weil sie das Gefühl hatte, sich schon in ihrer Freizeit genug mit den Lügen der Gesellschaft auseinandersetzen zu müssen. Sie wusste, die Wahrheit war da draußen, hinter den Mauern der Illusionen, die die Realität aussperrten und die Wirklichkeit vor ihr verbargen. Hinter den Rissen im Himmel. Da musste sie nicht noch begründen, warum das so besser war.
Wie echte Wolken wohl aussahen? Waren sie klein oder groß? Abgerundet, hatte man ihr beigebracht. Welche Farbe hatten sie wohl?
Und dennoch, dachte sie, war dieser Aufsatz der Anfang von allem gewesen.
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