I

Langsam, fast müde, fuhren zwei Hände den glatten Untergrund entlang. Die Finger schufen Rinnen, die sich wie die Rinde einer Birke über das nachgiebige ockerbraune Material zogen. Ein leichter erdiger Geruch wurde von der Masse an die Umgebung abgegeben, bei jeder Berührung der Hände, jeden Moment, in dem die Körpertemperatur auf den lehmigen Grund überging und ihm für die Dauer dieser Sekunden Leben verlieh. Es lebte. Er lebte.

Die Hände übernahmen den Rhythmus des bitterzarten Gesangs einer Violine, die so einsam ins Leere klagte wie jemand, der sich im Wald verlaufen hatte. Sie verteilten frischen Ton, ließen ihn eins mit dem werden, was schon da war. Die Finger verrieben die Stellen, an denen neues Material auf altes traf, sorgsam bei piano, schneller bei forte, sodass sich eine Einheit aus Musik und Kunst ergab. Die langen lehmigen Beine steckten in weiten Hosen, deren Falten so lebendig und dynamisch geformt waren, wenngleich sie nie im Wind flattern würden, denn sie waren nichts als weiche, erdige Masse, die nur so tat, als sei sie etwas anderes als das, was sie wirklich war. Sie tat, als sei sie eine Hose. Eine schrecklich verknitterte Hose, aber so war er. So war er, ein Strichmännchen, dessen ausschweifende Bewegungen an einen Weberknecht erinnerten.

Die flache Brust konnte man nur dadurch erahnen, dass das Hemd um seinen Körper hing wie um einen Kleiderständer. Auch wenn es nur Ton war. Aber sein Gesicht – oh, sein Gesicht – das blieb verborgen unter einem Halstuch, das Nase und Mund verdeckte und ihm bis knapp unters Kinn reichte. Bei seinen Augen gab Luna sich dafür besondere Mühe. Wenn man den Rest des Gesichts nicht sehen konnte, dann mussten die Augen um so mehr ausdrücken. Wer könnte denn die kleinen Grübchen erahnen, die sich immer zeigten, wenn er grinste? Die würde man unter dem Tuch nicht sehen können, was eine Verschwendung war, doch wenn er lachte, lachten seine Augen immer mit. Und das würde man sehen. Ja, und die kleine Narbe an seinem Kinn ...? Luna feuchtete sich die Finger an und glättete seine Stirn.

Das lange Haar fehlte noch, aber das würde sie schon noch schaffen. Sie hatte Zeit. Die ganze Nacht. Hier, im Atelier, störte sie keinen und keiner störte sie. In der Nacht war man den Toten näher als den Lebenden. Das war, weil die Lebenden alle schliefen. Sie waren nicht verfügbar. Anwesend schon, aber irgendwo in einer anderen Welt. Vielleicht in einer besseren, vielleicht auch in einer schlechteren. Ein tiefer Schlaf konnte ein Segen sein, wenn man aus der Welt fliehen wollte, aber auch ein Fluch, wenn sie einen mit festen Krallen packte und einem all die Ängste zeigte, die man am Tag einfach verdrängte.

Die Nacht war die Decke, unter der sich die Monster verstecken konnten, aber nicht mussten. Die Dunkelheit hatte auch etwas Tröstliches an sich, als würde man von jemandem umarmt werden, dessen Gesicht man nicht sehen konnte. In der Nacht war auch viel mehr Raum, um die Stimmen derer wahrzunehmen, die nicht mehr da waren. Doch was, wenn ein Mensch weder wirklich tot noch lebendig war? Wie hörte man ihn? Und wann? Wann war seine Zeit, wenn es weder der Tag noch die Nacht sein konnte?

Luna brach zusammen. Es kam plötzlich, aber nicht ganz unerwartet, weil es sie in letzter Zeit immer wieder erwischte. Genau so, wie man mit einem Schluckauf rechnen konnte, wenn man zu schnell zu viel gegessen hatte, so kam der Zusammenbruch, wenn Luna in sehr kurzer Zeit sehr viel an Leander dachte. Und wie sollte sie denn nicht, wo sie ohne Pause an ihm modellierte? Auch wenn das Tuch das Sonnenlachen verdeckte, das Leander zu Leander machte, wusste sie, dass er es war. Seit dem Ereignis konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Leander und daran, dass er mit gebrochenem Kiefer und Schädel-Hirn-Trauma im Koma lag.

Sein Kopf, der die Zentrale seines Denkens beheimatete, war am stärksten geschädigt worden. Deshalb das Halstuch um sein Gesicht; um die Schäden am echten Leander an seiner modellierten Version verdecken zu können. Es war ihr egal, dass das die Sache nicht besser machte. Der Leander aus Ton stand geduldig auf dem großen grob gezimmerten Holztisch mit der ausgeblichenen, ehemals geblümten Wachstischdecke darauf, dessen einziger Daseinszweck es war, die Bühne für etwas anderes zu sein. Die Bühne für all die schönen Kunstwerke, die Luna mit ihren eigenen Händen schuf.

Hier, in einem ruhigen Kellerraum unter einem mehrstöckigen Wohnhaus, das wie ein Fremdkörper im nun schlafenden Industriegebiet am Stadtrand hockte. Praktischerweise war es sehr nah an der kleinen Wohnung, in der Luna und Leander seit mittlerweile zwei Jahren eigentlich nur übergangsweise bleiben wollten. Während man studierte, reichte das Geld nicht für jeden Traum. Das Atelier gehörte einem Bandkollegen von Leander, dem Gitarristen mit den traurigen Augen und der dröhnenden Stimme. Luna fand, dass er besser ans Mikrofon passen würde als ihr Freund, der immer ein bisschen wie ein verlorenes kleines Kind aussah, wenn er seine melancholischen Texte dort hinein sang.

Die Vorstellung von Leander tat Luna wieder einmal nicht gut. Sie gab sich Mühe dabei, sich ganz und gar auf ihre Arbeit zu fokussieren, aber plötzlich nervte sie sogar die zarte Violinenmusik. Sie versuchte es trotzdem. Wenn sie den Ton berührte und seine Kühle auf ihrer Haut spürte, fühlte sie sich verbunden mit dem wunderbaren Element, auf dem alles Leben gründete. Gleichzeitig machte ihr dieses Gefühl furchtbare Angst, weil sie sich vorstellte, wie die mütterliche und trostspendende Erde ihren Leander verschlucken könnte. Und da war sie wieder, die bedrückende Angst vor dem, was kam oder kommen konnte. Es fühlte sich an, als sei man mitten in einem Labyrinth, das manipuliert worden war – plötzlich ohne Ausgang – und einen immer wieder dorthin zurück führte, wo man losgelaufen war.

Monate waren ins Land gezogen und Leander war noch immer nicht aufgewacht. Lag da wie ein kaputter Engel in seinem viel zu weißen Krankenhausbett. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, war zwischen die Fäuste geraten und wie er so war, hatte er viel abbekommen. Leander hatte schon immer viel abbekommen, mehr als er vertragen konnte. Er, der außerhalb der behüteten Sphäre seines Zuhauses schon sein Leben lang der Blitzableiter für andere gewesen war. Luna redete sich gerne ein, dass sie die Heilung in seinem Leben war. Wie ein Pflaster für seine Seele, das doch nicht alles abdecken konnte, was bei ihm so alles zerbrochen war.

Und irgendwie war sie das ja doch nicht. Nur, weil sie andauernd versuchte, ihn vor der bösen Welt zu beschützen. Sie hatte nie etwas geheilt, konnte das ja gar nicht. Sie konnte ihn nur vor weiteren Verletzungen abschirmen, aber dieses eine Mal war es ihr nicht gelungen. Und jetzt war er zerbrochen. Minimal reagierte er auf Berührungen, mehr nicht. Und jetzt hatte Luna einen Leander aus dem weichen, verletzlichen Ton vor sich, der ihren echten Leander niemals würde ersetzen können. Auch wenn er genauso angreifbar war wie der echte. Ton war weich – würde er vom Tisch fallen, würden sich seine sorgsam modellierten Glieder verformen. Nachdem sie den Ton gebrannt hatte, wäre er zwar formstabil, würde aber zerschellen, wenn er auf den Boden auftreffen würde.

Luna konnte sich nicht erklären, warum sie so versessen darauf war, einen Menschen zu modellieren, wo doch Vögel ihr Motiv waren. Wilde Adler, die vom Untergrund abhoben, eins mit dem Himmel wurden. Sie standen für eine Art von Freiheit, die sich viele wünschten und deshalb auch so gerne ins Wohnzimmer oder auch ins Arbeitszimmer stellten. Auf das Fensterbrett, wo der Tonvogel durch die Scheibe nach draußen schauen konnte. Aber das war einmal, denn jetzt konnte Luna einfach an nichts anderes mehr denken als an Leander. Die fertigen Vögel, die sauber auf den Holzbrettern an der grauen Wand aufgereiht waren und auf ihren Verkauf warteten, schienen Luna anklagend zu beobachten, weil sie ihnen nun keine Aufmerksamkeit mehr schenken konnte. Sie konnte nicht mehr.

Und sie konnte nicht mehr schlafen. Seit dem Ereignis in der Nacht hatte das Schlafwandeln wieder begonnen. Mit zwölf Jahren hatte sie es zum letzten Mal gehabt. Gleichzeitig war das die gruseligste Situation in Lunas ganzem Leben gewesen. Sie war eines Nachts plötzlich unten in der Küche auf den kühlen Fliesen aufgewacht, hatte dafür also die steile Wendeltreppe herunterlaufen müssen. Niemandem war es aufgefallen und natürlich hatte sie auch keinem etwas gesagt, denn warum hätte sie ihre Eltern unnötig erschrecken sollen? Gerade weil sie sich sowieso ständig Sorgen wegen den nächtlichen Ausflügen ihrer Tochter gemacht hatten, die aber nie über die Schwelle ihrer Zimmertür hinausgekommen war.

Was genau Luna geweckt hatte, wusste sie selbst nicht. Die Kälte des Bodens in der lauen Sommernacht konnte es gewesen sein, aber da war noch eine andere Möglichkeit. Das leise, langgezogene Quietschen einer Tür, vielleicht bewegt durch Zugluft. Was es auch gewesen sein mochte, sie war aufgewacht, wieder nach oben geschlichen und hatte sich in ihre babyblaue Bettwäsche gekuschelt. Hatte sich eingeredet, dass das aufhören würde. Hatte vielleicht auch ein bisschen geweint und war dann eingeschlafen. Und es hatte tatsächlich aufgehört. Bis jetzt.

Lunas unruhige Träume quälten sie nach über zehn Jahren wieder und es fühlte sich an wie Stunden, da fand sie sich in der Mitte ihres Schlafzimmers wieder, auf dem bunten Webteppich, den Leander vom Flohmarkt angeschleppt hatte. Und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, weil sie dieses drängende Gefühl hatte, irgendetwas erledigen zu müssen. Doch da war nichts zu erledigen, außer für Leander da zu sein. Doch auch das fühlte sich nach so verdammt wenig an.

Dieser Leander aus Ton hatte auch einen Namen und der lautete nicht Leander. Lunas geheimer Name für ihn war der Rächer. Er trug ein Halstuch, aber nicht nur, weil das Gesicht vom echten Leander gelitten hatte, sondern auch, um unerkannt zu bleiben, wenn er loszog und das personifizierte Urteil derer wurde, die dachten, einfach so mit ihren Taten davonzukommen. Zwei Täter und eine Frau, laut Zeitung. Zwei Täter und eine Frau? Nein, zwei Täter und eine Täterin. Wobei die Frau nicht mehr aufgetaucht war, denn man hatte nur die beiden Kerle festnehmen können und die waren aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen worden. Lunas Verstand konnte das alles nicht verarbeiten. Wie konnte das sein – Mangel an Beweisen? Hatte denn niemand etwas gesehen? Wie konnten Menschen zueinander nur so sein? Und was war der Preis für ein zerstörtes Leben? Nicht einmal ein paar Jahre im Bau, nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Oh, wenn Luna nur könnte ...

Sie wollte nicht so sein, doch vergeben würde sie nie können. Vielleicht war dieser Rächer auch bloß eine Wunschfigur. Er verkörperte das, was Luna nie würde tun können: den Tätern das zurückgeben, was sie selbst erlebt hatte. Am liebsten doppelt und dreifach. Sie stand wieder auf und wischte sich mit dem Unterarm die dunklen Strähnen aus dem Gesicht und wurde wieder von einer Erinnerung erschlagen. Leander, wie er ihre Haare küsste und dann grinste, sodass sich die kleinen Grübchen in den Wangen zeigten. Oh, Leander.

Die Haare. Luna musste den Rächer noch zu Ende bringen. Sie nahm sich etwas Ton und fuhr mit sanften Bewegungen seinen Kopf entlang, machte den frischen Ton zum Teil des alten, formte die wirren Locken, die aussahen wie ungekämmt. Und sie war glücklich damit, wie er aussah. Sie stellte ihn in den Brennofen, denn morgen würde sie dem Rächer bei gut tausend Grad eine Festigkeit geben, die der echte Leander auch gut vertragen hätte. Aber nicht mehr jetzt, sondern morgen. Morgen, nachdem sie sich wie halbtot zu ihrer Vorlesung geschleppt hatte. Dann, wenn der Mond den Himmel küsste, dann würde sie da sein.

Sie warf einen letzten Blick auf ihren Rächer, verloren und einsam in dem grauen Kasten, die Tür leicht geöffnet. Er sah ein bisschen so aus, als würde er mitten in einem großen alten Fernseher mit vier langen Füßen stehen. Luna meinte, in seinen Augen einen Funken enttäuschter Anklage zu sehen. Warum lässt du mich allein ...? Das konnte aber nicht sein. Dieser Leander würde nichts sagen und ihr keine Blicke zuwerfen. Sie durfte nicht daran denken, dass das der echte Leander möglicherweise auch nicht mehr tun würde, denn das zerriss sie. Schnell schob sie die Tür des Brennofens ein wenig weiter zu. So einfach konnte man Gedanken also aussperren. Oder eher einsperren. Luna konnte den Rächer nicht mehr sehen. Was gut war, für den Moment.

*

Leander war nicht mehr da. Wie ein eiskalter Pfeil schoss es erst durch Lunas Herz und brachte dann ihren Verstand zum Platzen wie einen Ballon. Sie stand vor dem Ofen und schaute hinein wie in einen gähnenden Rachen. Da hatte sie ihn doch hingestellt, sie war sich zu einhundert Prozent sicher. Oder doch nicht? Wie sehr hatte die Müdigkeit gestern Abend ihren Verstand verätzt, dass sie sich nicht mehr mit Sicherheit daran erinnern konnte? Er war nirgends, der Holztisch war wie leergefegt und der Ofen sowieso. Müde rieb sie sich die Augen, auch wenn sie nicht erwartete, dadurch etwas anderes zu sehen zu bekommen. Nein, es war bloß so ein Reflex, der davon kam, dass Luna zu wenig Schlaf am falschen Ort bekommen hatte.

Sie war doch tatsächlich im Atelier eingeschlafen! Doch irgendwo musste er ja stehen und er war nirgends. Leander war nicht mehr auffindbar. Als der erste Schock überwunden war, schlich sich die Panik langsam von hinten an, sprang Luna schließlich mit einer gewaltigen Wucht in den Rücken und biss ihr ins Genick, wie ein Panther, der seiner Beute aufgelauert hatte. Sie wehte durch das Atelier und schaute in jede Ecke. Da waren ein paar Schubladen, die verschlossen waren oder klemmten – bei dem alten Krempel konnte man das nicht so genau sagen –, doch da brauchte sie auch nicht nachzusehen, denn wie sollte der Rächer dort hineinkommen?

Luna setzte sich auf den Boden, wie sie es immer tat, wenn sie intensiv nachdenken musste. Dann hockte sie sich in den Schneidersitz, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und das Kinn auf die ineinander verschränkten Finger. Und dann starrte sie ins Leere und versuchte, die Antwort irgendwie aus den Weiten ihres Hirns zu empfangen. Es fühlte sich jedes Mal so an, als würde die ganze Energie aus ihren Beinen in ihren Kopf fließen – sie musste sich einfach setzen, um nachdenken zu können.

Wie sie so auf dem Boden hockte, fiel ihr plötzlich etwas in den Blick, das unter dem blassen Wachstischtuch hervorschaute. Ein ockerbraunes Bein. Ihr Herz hüpfte. Der Rächer! Wann hatte sie ihn denn unter den Tisch gestellt? Und vor allem: warum? Vorsichtig holte sie ihn hervor, um keine wohlgeformte Stelle zu verdrücken. Auf den ersten Blick war er heil. So unversehrt wie sie es sich für den echten Leander gewünscht hätte. Als sie ihn wieder zurück in den Rachen des Ofens stellte, fiel ihr auf, dass an seinem rechten Bein ein ganzes Stück Ton fehlte. Der Ärger lief mit einer unbestimmten Angst Hand in Hand über Lunas Unterarme und hinterließ eine Spur aus brennend kalter Gänsehaut. Das war so nicht gewesen.

Als ob das nicht genug wäre, fiel ihr auf, dass in der ordentlichen Reihe an Adlern und Falken in verschiedenen Größen und Formen einer fehlte. Wer war hierher gekommen? Etwa Leanders Freund, der ihnen erlaubt hatte, das Atelier zu benutzen? Ansonsten hatte ja keiner einen Schlüssel zu dem Keller. Der Gedanke, dass jemand hier gewesen war, während Luna ins Land der schlechten Träume gesegelt war, gruselte sie. Aber noch viel grausiger war die andere Idee, die Luna in den Sinn kam: Sie war schlafgewandelt. Und das Allerschlimmste: sie wusste nicht einmal, von wo nach wo sie gelaufen war. Die Erinnerung an den letzten Abend war wie ausgelöscht, sie war doch auch so müde gewesen. War sie nicht doch nach Hause gelaufen? Oder war sie tatsächlich im Atelier eingepennt? So sehr sie sich auch anstrengte, da war nichts, nur Leere.

Sie hatte den Rächer fertiggestellt und dann? Nichts mehr. Bestand die Möglichkeit, dass sie hier eingeschlafen war und ihn aus dem Brennofen genommen hatte? Dabei musste sie ihn hart angepackt haben, denn er war nun versehrt. Die Hose war so perfekt modelliert, sie wusste noch, wie sie den Faltenwurf bewundert hatte. Wie faszinierend sie es fand, dass ein Material so tun konnte, als sei es etwas anderes. Und jetzt sah es aus, als hätte jemand grob ein Stück aus dem Hosensaum gerissen. Das musste sie wieder richten.

Aber nicht jetzt. Die erste Vorlesung würde sie sowieso verpassen, aber bei dem Seminar am Mittag herrschte Anwesenheitspflicht und sie hatte schon zu oft unentschuldigt gefehlt. Selbst wenn die Dozentin beide Augen ganz fest zudrücken würde, ging das nicht so weiter, denn Luna hatte schon viel zu viel verpasst und würde mit Pauken und Trompeten durch die Klausur rasseln, wenn sie nicht mächtig aufholte. Auf dem Weg zur Uni beförderte ein silber-blauer Blitz Luna dann um ein Haar direkt in die Sphären zwischen Leben und Tod, in denen sich Leander sich seit viel zu langer Zeit aufhielt.

Obwohl die Sirene des Einsatzwagens heulte und das Blaulicht den diesigen Morgen durchschnitt, hatte Luna schon einen Schritt auf die Straße gesetzt, als eine feste Hand sie zurückzerrte. Erschrocken wandte sie sich um und sah in ein Gesicht, das so viel Gefühlsausdruck hatte wie eine verputzte Wand. Eine junge Frau, deren Ohren von riesigen Kopfhörern bedeckt waren und die so aussah, als würde die Welt sie nichts angehen – sie war Lunas Retterin? Lunas Blick sank an ihrem Arm herab zu dem Handgelenk, um das sich die Hand des Mädchens schloss, als wäre die Gefahr noch nicht gebannt.

„Ich habe den Wagen sogar mit den Dingern hier bemerkt. Pass nächstes Mal besser auf. Es gibt bestimmt jemanden, der dich braucht." Bevor Luna etwas antworten konnte, setzte das Mädchen über die Straße. Die Ampel war wieder grün und der Strom an trottenden Menschen floss an ihr vorbei. Einzig sie stand da und war nur noch dazu in der Lage, hinter der jungen Frau zu starren. Was sie gesagt hatte ... Eine allgemeine Aussage wie aus einem Glückskeks und doch hatte sie den Nagel schmerzhaft genau auf den Kopf getroffen.

Nicht weit von der Uni entfernt leuchtete das nun stumme Blaulicht unter dem Schutz einer Trauerweide. Dort stand die Bank, auf der Luna die meisten ihrer Mittagspausen hatte verbringen dürfen, in denen Leander seine Bandprobe der Vorlesung vorgezogen hatte. Es war nun ein Tatort, der mit flatternden Bändern abgesperrt war. Luna konnte nicht viel erkennen, denn der Notarztwagen und mehrere Polizeiautos umringten den Ort des Geschehens und schirmten alles vor neugierigen Blicken ab. Aber das war auch richtig so, dachte sie. Da war jemand verletzt oder schlimmeres. Sie würde auch nicht wollen, dass man sie in so einem Zustand sah. Hilflos, ausgeliefert, versehrt ...

Ihre Gedanken drifteten unweigerlich in andere Richtungen ab, wie eine Murmel, die man über die Tischplatte rollen ließ und die genau dorthin kullerte, wo sie nicht hin sollte, um dann schließlich über die Kante zu fallen. Leander. Da war er wieder, der Hammer, der Lunas Herz zerschmetterte. Und jedes Mal fanden die Teile wie magnetisch angezogen wieder zusammen, nur um erneut kaputtgeschlagen zu werden.

Hatte nicht ein junger Mann eine Stunde lang auf dem kalten Boden gelegen, bis ihn jemand gefunden hatte? Wie war sein Name? Ein großer Junge, der sich über das Kopfsteinpflaster nicht weit weg von einem Pub gestreckt hatte, Arme und Beine weit von sich, als würde er versuchen, die ganze Welt zu umarmen. Er hatte da gelegen wie eine Alkoholleiche und das in der Nähe eines Pubs, na klar. Hatte ihn deswegen keiner bemerken wollen? Es war dunkel gewesen, aber hatten denn die Straßenlaternen und das blinkende Licht der Spielhalle auf der anderen Straßenseite nicht genug Licht abgegeben, um sehen zu können, dass etwas mit ihm nicht stimmte? Das etwas mit seinem Gesicht nicht stimmte?

Lunas Verstand sendete Bilder an ihr Herz, das sich sofort zusammenzog. Sie wandte sich ab. Wieder einmal war Leander kaputtgegangen. Dieser zerbrechliche junge Mann war dazu auserkoren, kaputtgemacht zu werden. Ein behütetes Kind, das außerhalb der schützenden Haustür immer nur auf die Mütze bekommen hatte und das zum Schluss dann einmal zu viel. Das war sie, die Geschichte von Leander und sie hatte geendet auf dem kalten Kopfsteinpflaster irgendwo auf dem kurzen Weg zwischen Zuhause und dem Atelier.

*

„Du siehst aus, als würde dir das von vorhin noch nachhängen ..." Luna bemerkte erst, dass sie beim Starren auf die Präsentationsfolien in eine leichte Trance gefallen war, als sie leise von der Seite angesprochen wurde. Es war eine geschwätzige Kommilitonin mit der sie sich sporadisch unterhielt, deren Namen sie aber nicht mit Sicherheit wusste. Das war seltsam, aber offensichtlich hatte keine der beiden die Notwendigkeit gesehen, sich der anderen vorzustellen. Eigentlich hatte Luna mit niemandem sehr viel zu tun. Leander und sie waren eine kleine Einheit gewesen, in die niemand hatte eindringen können.

Sie hatte niemanden gebraucht außer ihn und andersherum auch. Deshalb hatte sie auch niemandem erzählt, was mit ihrem Freund passiert war, schließlich hatte irgendwie auch keiner danach gefragt. Manchmal kam Luna das ganze Treiben an der Uni ziemlich anonym vor. Wenn ein Student mal eben wochenlang nicht zur Vorlesung kam, war es am wahrscheinlichsten, dass er einfach nicht mit dem Stoff hinterher gekommen war und das Modul auf das nächste Semester verschob.

„Du hast das mitbekommen?", fragte Luna und es war ihr peinlich, dass sie beinahe vor ein Polizeiauto gerannt war, das in voller Fahrt auf dem Weg zu einem Tatort über die Straße geprescht war. Sie hätte es ja kommen sehen müssen.

„Klar doch. Die haben ja alles abgesperrt ...", gab die Kommilitonin erstaunt zurück und zog ihren Schreibblock aus der Tasche.

„Wie meinst du ...?" Jetzt kam Luna in den Sinn, dass die Studienkollegin und sie über zwei verschiedene Dinge sprachen.

„Ich habe das auch nur so am Rande mitgehört, also sind meine Angaben ohne Gewähr, okay? Also, hör mal: Das ist ein Typ, den sie vor gar nicht langer Zeit haben laufen lassen. Da war doch diese Sache mit der Schlägerei hier am Stadtrand und den Täter, also mutmaßlich, hat es jetzt erwischt. Irgendwie war das doch klar, oder? Kaum ist so einer draußen, passiert wieder was. Nur diesmal andersrum ..."

„Andersrum?" Egal, dass die Dozentin gerade von Techniken zur Bearbeitung von Marmor redete. Jetzt war Lunas Fokus nur auf die Lippen ihrer Kommilitonin gerichtet, denn die gaben Informationen preis, die sie brennend interessierten. In diesem Moment fühlte sie gar nichts, außer die heiße Neugier auf das, was sich da zugetragen hatte.

„Ja, der Kerl ist wohl bewusstlos aufgefunden worden. Da muss echt jemand wütend gewesen sein, denn da lagen lauter Scherben." Die Studentin stützte ihr Kinn auf die Hand und tat, als würde sie den Ausführungen der Professorin folgen. In den paar Momenten ließ Luna das Gesagte wirken.

Ein Verletzter ... Scherben? Sie stellte sich vor, wie jemand rasend gewesen sein musste, schrecklich rasend und eine schwere Glasflasche erhoben hatte, die innerhalb von wenigen Sekunden zu einer gefährlichen Waffe gemacht worden war. Scherben und ein Verletzter. Als sie nach dem Seminar das Universitätsgelände verließ, war da nichts mehr. Nur die Trauerweide, die sich schützend über die Bank beugte. Ein paar Erdbrocken, als sei jemand über feuchten Boden gelaufen. Sonst nichts.

*

Der Abend und die Nacht waren reserviert für das Atelier. Außerdem musste Luna ihren Rächer reparieren und endlich brennen. Nachdem sie die Stelle an seinem Bein wieder heil gemacht hatte, stellte sie ihn in den Ofen, hielt dann aber doch inne, bevor sie die Tür schloss. Irgendwie kam es ihr komisch vor, dass der Rächer über Nacht unter den Tisch gekommen war. Sie hatte doch im Schlaf noch nie den Standort von irgendetwas anderem geändert außer von sich selbst. War also doch jemand hier gewesen?

Morgen war Samstag, also eigentlich der Tag, an dem sie gewöhnlich den verpassten Schlaf der ganzen Woche nachholte. Diesmal nicht. Luna beschloss, die Nacht hier zu verbringen und wach zu blieben. Den Rächer würde sie im Ofen platzieren, Tür geschlossen. Was auch immer im Atelier vor sich gehen würde, sie würde es nicht verpassen. Und so machte sie es. Der Rächer kam in den Ofen, Türe zu. Im Schneidersitz setzte Luna sich neben den alten Holztisch und lehnte sich mit dem Rücken an die nackte Wand. Die Berührung des grauen Betons fühlte sich rau an durch ihr hauchdünnes rosa Top. Von hier unten sah das Atelier anders aus, irgendwie größer.

Es war unglaublich still, sodass es Luna vorkam, als sei sie der letzte Mensch auf der Welt. Das kaltweiße Licht der Neonlampe verstärkte seltsamerweise die Stille noch zusätzlich. Die Violine blieb heute stumm. Es war so ruhig und Luna so müde. So müde, dass sie beinahe ... Bevor sie in die kalte Dunkelheit wegdriften konnte, klopfte es. Reflexartig sprang sie auf die Beine und schaute zur Kellertür. Die hielt sie stets verschlossen, weil in dem Haus auch Leute wohnten und sie kein Interesse an unangekündigten Besuchen hatte. Sie ging vor dem Schloss in die Hocke und linste durch das Schlüsselloch. Da war niemand, nur die stille Dunkelheit.

Aber da war es wieder, ein seltsam hohles, dumpfes Klopfen. Wahrscheinlich ein Heizungsrohr, wollte Luna sich einreden, doch dann kam ihr der absurdeste Gedanke plötzlich am logischsten vor: der Brennofen. Wie ferngesteuert schlich sie hin und ihre Augen klebten an der grauen Tür des Ofens, der da auf seinen vier Füßen thronte, groß und schwer wie ein alter Fernseher. Sie streckte ihre Hand aus und beobachtete sich gleichzeitig dabei, als wäre es gar nicht sie, die die Tür zu dem Rachen des Ofens öffnete.

Und als sie in das weiß ausgekleidete Innere schaute und ihr der lehmige Geruch nach feuchter Erde entgegenkam, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Der Rächer stand nicht da, er hockte im Schneidersitz. Er schaute sie an, hob dann eine Hand und winkte zurückhaltend. Luna wich zurück und hielt sich die Hände vor den Mund. Beinahe hätte sie losgeschrien. Der Mann aus Ton machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen. Sie starrte ihn an und wusste nicht, was sie fühlen oder denken sollte.

„Was stimmt nicht mit mir?", sprach sie mehr zu sich selbst und fasste sich an die Stirn. Kein Fieber. Was war das hier also?

Der Rächer deutete auf seinen Mund, der unter dem Halstuch verborgen war und schüttelte den Kopf. Er konnte nicht sprechen. Er konnte sich verständigen, aber nicht sprechen. Na gut, die Tatsache, dass er überhaupt gestikulieren konnte, war ungewöhnlich genug. Hatte die ganze Angst um Leanders Leben kombiniert mit viel zu wenig erholsamem Schlaf Lunas Verstand jetzt derart vernebelt, dass sie glaubte, ihre Skulpturen würden leben? War womöglich der fehlende Vogel aus Ton auch einfach durch das Schlüsselloch davon geflattert ...? Sie entschied, es für den Moment einfach hinzunehmen. Einfach mitspielen, denn hinterher war es sowieso nur wieder ein schlechter Traum und sie würde im Atelier aufwachen.

„Warum kannst du sprechen?", wollte sie wissen. Die Frage aller Fragen. Der Rächer deutete auf Luna.

„Ich?"

Nicken.

„Ich habe dich geformt. Nicht mehr, nicht weniger. Ich habe keine Zauberkräfte, um Ton zum Leben zu erwecken. Ich glaube auch, dass das alles nicht echt ist. Also, beweise mir, dass ich nicht träume." Trotzig verschränkte Luna die Arme vor der Brust. Der Rächer hatte die ganze Zeit aufmerksam genickt, um ihr zu signalisieren, dass er zuhörte. Nun hob er beide Hände, als würde er vorsorglich jede Schuld von sich weisen wollen. Dann hielt er den Zeigefinger links neben seinen Hals, ungefähr auf der Höhe, wo der Zipfel des Halstuchs unter sein Kinn endete und fuhr eine Linie quer über seinen Hals nach. Lunas Augen weiteten sich.

„Was? Du willst mich doch nicht ..."

Eifriges Kopfschütteln.

„Nicht mich ... nicht mich, sondern ...", dachte sie laut nach. Und da ging Luna ein Licht auf. Der Rächer drehte sich um und Luna sah, dass ein Stück Ton an seinem Hinterkopf fehlte. Und da verstand sie. Die Scherben waren Tonscherben. Der Erdklumpen ein Tonklumpen. Der Vogel war nicht davongeflogen, er war zum Gehilfen ihres Rächers geworden. Blitzschnell knallte sie die Tür des Brennofens zu. Das wilde Klopfen darin ignorierte sie. Eilig riss sie die Kellertür auf und lief hoch ins Treppenhaus, immer zwei Treppen auf einmal nehmend. Die Kellertür schloss sich quietschend und da kam die Erinnerung zurück. Sie riss Luna mit der Wucht einer Lawine von den Füßen.

Und sie sah Leander, wie er auf dem Weg war. Wie sie ihn schon von weitem gesehen hatte, wie er aus der Haustür geschlüpft war. Leichtfüßig wie eine Spinne über den Gehweg schleichend, Ausschau haltend. Nach ihr. Doch irgendwie blass, sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Aber da kam noch mehr. Wie plötzlich zwei Kerle aufgetaucht waren und Luna näher gekommen waren als ihr lieb war. So nah, dass sie den Alkohol hatte riechen können. Alles nur verschwommen. Wie Leander gerannt war.

Und sie sah, wie er zum ersten Mal in seinem Leben versucht hatte, jemanden zu beschützen. Sein Versuch, auch einmal der Held zu sein. Wie alles irgendwie unklar und verschwommen war, weil Luna gar nicht gewusst hatte, wie sie auf die Straße gekommen war. Und schließlich sah sie, wie sie am nächsten Morgen im Atelier aufgewacht war, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, der Nacken verspannt. Und wie sie einen Anruf auf ihrem Handy sah. Und auf einmal wurde aus der verschwommenen Erinnerung ein klares Bild. Erschrocken blickte sie auf ihre Hände, an denen ockerbrauner Lehm klebte. Wie ferngesteuert trat sie vor die Tür des Hauses, das so verloren im Industriegebiet sein Dasein fristete, und hörte Sirenen. Irgendwo weiter weg schnitt pulsierend ein blaues Licht durch das Schwarz der Nacht.

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