IV.
Daleth, 9. Juli 2156
Es war ein heißer Sommertag, nur vereinzelte flauschige Wolken zogen über den Himmel. Von überall her hörte man aufgeregte Stimmen. Es war ein ganz besonderer Tag.
Jedes Jahr fand er nur ein bis zweimal statt, der Tag des ersten Fluges und heute war ich endlich an der Reihe! Schon seit ich denken konnte, stellte ich mir vor, wie es wohl war, zu fliegen.
„Bist du bereit?" Papa legte mir fürsorglich die Hand auf die Schulter und sah aus, als würde er mich gar nicht loslassen wollen. Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals und konnte nicht antworten. Ich hab so lange darauf gewartet und jetzt ist es endlich soweit. Wieso würde ich nun am liebsten einen Rückzieher machen?
Entschlossen schluckte ich den Kloß hinunter und nickte tapfer. Es würde schon alles gut gehen. Unter der Stadt bildeten unzählige Geflügelte einen Kreis um die ganze Stadt, die mich auffangen würden, sollte etwas passieren. Ich konnte also gar nicht fallen, bis ich mir auf dem Boden alle Knochen brach.
Außerdem habe ich immer brav meine Flügelübungen gemacht, erinnerte ich mich. Mit Mamas genauer Anweisung und Papas unablässiger Ermutigung hatte ich trainiert, bis mir die Flugmuskeln schmerzten. Nun schaffte ich es sogar schon, ein paar Meter abzuheben.
Ein Sturz in scheinbar unendliche Tiefe? Das war doch ein Klacks! Meinte zumindest meine optimistische Seite, der Rest war sich da nicht so sicher.
„Tief durchatmen, mein Vögelchen, du schaffst das", sprach mir Mama Mut zu, wenn auch mit leichter Besorgnis in der Stimme. Lonan drückte mich ganz fest und sah von uns allen am zuversichtlichsten aus. Er glaubte an mich, bedingungslos. Ich war schließlich seine große Schwester, natürlich schaffte ich das.
Schade, dass ich Snow zuhause lassen musste. Durch sein flauschiges Fell zu streicheln, hätte mir bestimmt geholfen. Ein lautes Hupen lenkte mich jedoch von dem Gedanken an ihn ab. Es ging los!
„Bitte alle Nestlinge an ihre Position, Eltern und andere Zuschauer bitte nur bis zur Begrenzung!" Die Durchsage wurde ein paar Mal wiederholt und Menschen sowie Geflügelte drängten sich an die Ränder der Stadt.
Ich war nicht die einzige, die heute fliegen lernen würde. Alle, die in den letzten Monaten ihren zwölften Geburtstag gehabt hatten und deren Federn weit genug ausgebildet waren, würden heute ihren Status als „Nestlinge" verlieren.
Mit hämmerndem Herzen verabschiedete ich mich von meinen Eltern und bewegte mich wie in Zeitlupe auf den Abgrund zu. Wir befanden uns in einer Art Hafen, mehrere Stege streckten sich in den Himmel und weiteten sich zu einer Art Plattform. Von jedem dieser Stege würde ein geflügeltes Kind starten.
In dem Leben eines Geflügelten gab es viele besondere Momente, die in der Familie, oft auch mit Verwandten und Freunden, groß gefeiert wurde, wie der erste Flaum und die ersten Federn.
Doch der erste Flug war mit Abstand das größte Ereignis von allen, denn die ganze Stadt versammelte sich, um daran teilzuhaben. Hunderte Augen ruhten auf mir, der Gedanke daran machte mich noch nervöser.
Du schaffst das, du schaffst das, du schaffst das. Wie ein Mantra wiederholte ich diese Worte, so lange, bis ich daran glaubte. Die kleine zweifelnde Stimme in meinem Kopf schob ich einfach beiseite.
Endlich stand ich am Ende des Stegs. Ein prüfender Blick über meine Umgebung verriet mir, dass genug Abstand zwischen den Stegen war, um nicht mit anderen Kindern zu kollidieren, hoffentlich.
Zu meiner rechten entdeckte ich Corbins rabenschwarze Flügel, für ihn war das hier bestimmt ein Kinderspiel, er war der Älteste unter uns. Ich war die jüngste und hatte nur gerade so die Erlaubnis bekommen, jetzt schon teilzunehmen.
Eine weitere Durchsage folgte, deren Worte ich jedoch nicht verstand, zu sehr rauschte das Blut in meinen Ohren. Da sah ich, wie Corbin absprang. Ah, es ging los!
Wer nicht von selbst sprang, bekam von einem Erwachsenen, der hinter uns stand, einen Stoß versetzt. Es gab kein Zurück, nur nach vor oder besser gesagt, nach unten, ging es. Herzlos klang das, ja, aber nur auf diese Weise konnten wir lernen, wie man fliegt, indem wir auf unsere Instinkte vertrauen und unseren Verstand ausschalten.
Kurz bevor ich aufgrund meines Zögerns ebenfalls runtergestoßen werden konnte, sprang ich ab. Wie ein Pfeil schoss ich in die Tiefe, der schneidende Wind ließ mich meine Augen zusammenkneifen und nahm mir die Luft zum Atmen.
Für einen Augenblick vergaß ich alles um mich herum, die Zuschauer, die Angst, alles. Ich fühlte mich so frei und lebendig, wie ich mich noch nie in meinem ganzen Leben gefühlt hatte.
Dann setzte mein Instinkt ein und übernahm die Oberhand. Wie automatisch breitete ich meine Flügel aus und bremste meinen Fall. Es schien, als würde ich schweben, nur vom Wind getragen.
Nun konnte ich auch endlich meine Augen öffnen und sah die Welt unter mir. Durch einen dünnen Wolkenschleier ragten Berggipfel, eine große Wasserfläche glitzerte im Sonnenlicht. Es war atemberaubend schön.
Die Zeit schien stillzustehen und ich genoss diesen Moment in vollen Zügen. Doch dann regte eine Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich. Große Flügel tauchten in meinem Augenwinkel auf.
Ein Mann, er müsste so alt wie mein Papa sein, flog in mein Blickfeld und deutete nach oben. Ach ja, ich sollte wieder aufsteigen und zurück zum Steg fliegen.
Ich bedeutete ihm, dass ich verstanden hatte und bewegte meine Flügel gleichmäßig auf und ab. Der Weg nach oben war erwartungsgemäß viel anstrengender und verlangte mir alles ab.
Über die Fliegerkluft, die ich zum Geburtstag bekommen hatte, war ich nun heilfroh, denn ein besonderes Merkmal war der Temperaturausgleich. In kühleren Lagen wärmte sie einen, bei Hitze, so wie heute, wirkte sie kühlend und absorbierte zudem jeglichen Schweiß.
So enganliegend, wie sie war, störte sie mich auch nicht beim Fliegen und fühlte sich an, wie eine zweite Haut. So konnte ich mich ganz auf meine Flügel konzentrieren.
Die Sekunden und Minuten zogen sich ins Unendliche, auch wenn ich den Steg schon sehen konnte, schien er unerreichbar zu sein. Langsam ging mir die Kraft aus, doch ich wollte nicht aufgeben.
Ich kratzte meine letzten Kraftreserven zusammen und streckte meine Schwingen, bis sich die dunklen Spitzen fast berührten. Noch ein paar Flügelschläge und ich hätte es geschafft.
Mit zusammengebissenen Zähnen und schweißnasser Stirn erreichte ich meine Plattform. In dem Moment, als meine Füße festen Boden berührten, versagte mir meine Knie und ich knickte zusammen.
Jubel schallte um mich herum auf, doch ich verstand kein einziges Wort. Galt er mir oder jemand anderem? Hatten es die anderen auch geschafft?
So erschöpft, wie ich war, konnte ich nicht mehr selbst aufstehen, geschweige denn meine schmerzenden Flügel heben. Irgendjemand zog mich hoch und half mir über den Steg, ich kann nicht sagen, wer es war.
Mit vor Freude und Stolz feuchten Augen umarmten mich meine Eltern und Lonan, zerquetschten mich fast. Auch ich war unglaublich stolz auf mich, ich hatte es geschafft! Endlich konnte ich fliegen!
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