V


V) Die Prophezeiung

»Worte sind die blassen Schatten vergessener Namen. Und wie Namen Macht innewohnt, wohnt auch Worten Macht inne. Mit Worten kann man im Geist der Menschen Feuer entfachen. Mit Worten kann man selbst dem hartherzigsten Menschen Tränen entlocken. Es gibt sieben Worte, die einen Menschen dazu bringen, dich zu lieben. Und es gibt zehn Worte, mit denen man den Willen selbst des stärksten Mannes brechen kann. Aber ein Wort ist weiter nichts als die bildliche Darstellung eines Feuers. Ein Name ist das Feuer selbst.«
― Patrick Rothfuss '
The Name of the Wind'

꧁ ꧂ ꧁ ꧂ ꧁ ꧂


»Endlich ausgeschlafen? Wie fühlst du dich?«

Er fühlte sich besser. Die Schmerzen waren auszuhalten, aber die Sonne blendete. Sie stand auf der anderen Seite des Himmels und spiegelte sich in der Oberfläche des Wassers. Ein neuer Morgen war angebrochen.

Sie berichtete von ihren Erkundigungen: Im Tempel der Sonnengöttin wusste man von einer Schriftrolle der Waldelfen, in der man neue Hinweise auf den Aufenthaltsort der Prophezeiung gefunden hatte. Die Lichtelfen kannten nur Bruchstücke davon, die sie aber dennoch in große Aufregung versetzten.

»Nicht dort unten im dunklen Reich und auch nicht oben im Licht, sondern dort, wo sich die Fluten im Ring des Verborgenen treffen. Wo sie nur von dem gefunden werden kann, der kein Blut vergießt.«

Laut Cahaya bereiteten sich die Elfen auf eine Expedition vor.

»Wo treffen sich die Fluten im Ring des Verborgenen?«, überlegte Dorchadas und schaute die Wassernixe fragend an. Ein nachdenklicher Blick trat in ihre meergrünen Augen.

»Es gibt einen kleinen See in den Wäldern südlich des Waldelfenreichs. Zumindest die Waldelfen sind dorthin aufgebrochen und die Lichtelfen folgen. Und wenn ich richtig informiert bin, haftet ihnen ein Spähtrupp Dunkelelfen an den Fersen.« Sie grinste. »Dort hat das Wasser eine Felsformation ringförmig ausgehöhlt. Wenn das Wasser niedrig steht, könnt ihr sie sehen. Meistens liegt sie jedoch unter der Oberfläche. Ich kenne die Stelle.«

»Und dort ist die Prophezeiung versteckt?«

»Das meinen zumindest eure Gelehrten.« Sie schüttelte ihren Kopf, so dass Wassertropfen aus ihrem feuchten Haar stoben. »Wir kennen diesen See. Dort ist nichts außer Fels und Geröll. Keine Verstecke. Unwahrscheinlich, dass eure Prophezeiung sich dort befindet.« Ein schelmisches Grinsen trat auf ihr Gesicht.

»Du weißt etwas?«, mutmaßte Dorchadas.

»Schon möglich. Wo sie nur von dem gefunden werden kann, der kein Blut vergießt. Klingt nicht, als wäre eure wertvolle Prophezeiung für einen von euch bestimmt. Ihr liefert euch ständig blutige Scharmützel. Fällt dir ein Volk ein, das etwas finden könnte, das irgendwo in den Fluten verborgen ist und das sich aus dem Krieg heraushält?«

Ein Grinsen schlich sich auf Dorchadas Gesicht. »Du meinst, einer von euch?«

»Oder eine.«

»Aber wo könnte dieser Ort noch sein?«, überlegte der Dunkelelf.

»Überlass mir die Suche und ruh dich aus. Ich habe eine Idee.« Noch bevor Dorchadas nachfragen konnte, worin ihre Idee bestand, war sie in den Fluten verschwunden. Kein Kuss, nur ein Wink ihrer Schwanzflosse zum Abschied und weg war sie.

Selbst schuld, wenn man sich mit einem Mädchen der Meere einließ. Sie waren unberechenbar und wild. Er wusste, dass ihre Liebe keine Zukunft hatte. Wie auch? Er lebte an Land und sie im Wasser. Er war ein Dunkelelfenprinz und sie eine Nixe aus dem Reich unter dem Meer. Wohin sollte es führen? Wenn er nur daran dachte, wie er sich seiner Familie erklärte – das höhnische Gelächter und Gefeixe seiner Brüder wäre sicher noch das Harmloseste dabei. Seine Mutter wäre tief enttäuscht und sein Vater würde all seine Vorbehalte gegenüber seinem jüngsten Sohn bestätigt sehen.

Dorchadas schüttelte die Vorstellung von sich. Es brachte nichts, über Unmögliches nachzudenken. Vorsichtig bewegte er Kopf, Arm und Beine. Er spürte die Prellungen und die gebrochenen Rippen beim Einatmen. Viel blieb ihm nicht zu tun, außer in seinem Versteck liegenzubleiben und auf Cahayas Rückkehr zu warten. Sie würde ihn schon nicht verlassen. Er hatte sie einmal darum gebeten und sie hatte es nicht getan. Er hatte Wasser und die Reste seines Proviants. Da nachdenken nicht in Frage kam, schlief er erneut.

Die Sonne versank hinter den Bäumen, als er wieder erwachte. Er war immer noch alleine. Der Abendstern leuchtete am Himmel und der Mond gesellte sich bald hinzu. Die halbe Nacht suchte er die Wasseroberfläche ab und wartete auf das Auftauchen eines blonden Haarschopfs, aber sie kam nicht. Auch nicht mit Hereinbrechen des Morgens. Er schloss die Augen zu einem leichten Dämmerschlaf, aus dem ihn niemand wachküsste, während die Sonne über das Firmament wanderte. Am Abend und in der Nacht wiederholte er seine Suche, aber vergebens. Sie blieb wie von der Wasseroberfläche verschluckt.

Sorgen schlichen sich in Dorchadas Herz. Soweit er wusste, tolerierten die Wald- und die Lichtelfen das Wasservolk, aber wenn sie einem Dunkelelfen über den Weg geschwommen war – er wollte diesen Gedanken gar nicht erst zu Ende denken.

Vielleicht hatte man die beiden toten Wachposten entdeckt und Fallen aufgestellt? Ihr konnte alles Mögliche widerfahren sein, während er unter dieser Trauerweide festsaß und zum Nichtstun verdammt war.

Gerade als Dorchadas glaubte, die Ungewissheit und Untätigkeit keinen Herzschlag länger ertragen zu können, tauchte sie wenige Meter von ihm entfernt aus dem Wasser auf. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie war unverletzt. Noch nie hatte er sich so gefreut, seine Geliebte zu sehen. Aber als sie auf ihn zu schwamm, erkannte er, dass irgendetwas nicht stimmte. »Was ist passiert? Geht es dir gut? Was hast du herausgefunden?«

Sie schwang sich aus dem Wasser, setzte sich neben ihn ans Ufer und lehnte sich vorsichtig an seine Seite. „Langsam«, presste sie atemlos hervor, „eines nach dem anderen.« Er legte seinen gesunden Arm um sie und bemerkte den kleinen Gegenstand, den sie fest umklammert hielt. Es fiel ihm schwer, aber er wartete, bis sie wieder einigermaßen bei Atem war.

»Ich habe sie gefunden.« Sie schaute auf den runden Stein in ihrer Hand. Er hatte die Größe ihres Handtellers und schien tief aus dem Inneren heraus zu leuchten.

»Was ist das?«, fragte Dorchadas, obwohl er es in seinem Herzen wusste.

»Die Prophezeiung«, flüsterte Cahaya und legte ihre Hand über den Stein, ehe sie sich umschaute.

»Du hast sie gefunden. Wo? Und wie?«

Cahaya lächelte gequält, hob die Hand und strich ihm über die Wange. Langsam und zärtlich, dann griff sie nach seiner Hand und legte sie sich auf den Bauch. »Das sind die falschen Fragen. Willst du nicht eher wissen, was sie besagt?«

Dorchadas verharrte in seiner Position. »Das auch.«

Cahaya blickte sich um, lauschte in alle Richtungen, ehe sie sanft über die glatte Struktur des Steines strich. Das Leuchten veränderte sich, wurde stärker und begann zu pulsieren. Die Farbe erinnerte Dorchadas an alle Blautöne des Himmels und des Meeres – hellblau, eisblau, grünblau, nachtblau.

Dann ging ein Glühen durch den Stein und er musste seine Augen abwenden. Es war grell wie die Sonne selbst. Cahaya stieß ihn in die Seite. »Schau«, flüsterte sie.

Er öffnete die Augen und las die Worte, die sich in goldglühender Schrift über den Stein zogen.

Erst wenn ein Sohn der Dunkelheit und eine Tochter des Meeres sich vereinen, wird ein neues Königreich entstehen. Das Kind dieser Liebe wird Herrin über eine neue Welt, denn kein Einziger von Euch ist weise und rein genug. Eure Herzen sind verdorben von Kampf, Neid und Missgunst und werden es ewig sein.

Eine Weile saß Dorchadas still da und schaute auf den Stein in Cahayas Hand. Das Leuchten war verblasst. Seine Hand verweilte noch immer auf ihrem Leib. Er verstand nicht. Dann spürte er ihren Blick auf sich ruhen. Sie wirkte besorgt.

»Was stimmt nicht?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Was nicht stimmt?« Sie schleuderte ihm seine Frage entgegen. »Du hast die Prophezeiung doch gehört? Sie spricht von unserem Kind, das ich unter dem Herzen trage.«

Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zu seiner Hand auf ihrem Bauch. »Du trägst unser Kind?«

Sie stöhnte, ob seiner Begriffsstutzigkeit. »Das wollte ich dir sagen, als du mich so entschlossen fortgeschickt hast. Sag bloß, der Sturz hat deinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wie kann das sein?«, stammelte er, während sich eine Flut von Liebe in seinem Herzen ausbreitete. Sein Kind, Herrin über eine neue Welt.

[ - - - ]

Anmerkung: Eine der Kritikerinnen hätte sich schon an dieser Stelle das Ende der Kurzgeschichte gewünscht. Was meint ihr?

Wie würde das wirken und euch gefallen, wenn hier Schluss wäre?

Mir ging es von vorneherein um den Beginn einer Reise, die ich plane, als Langprojekt auszugestalten. Deswegen geht bei mir die Kurzgeschichte erst einmal noch etwas weiter.

[ - - - ]

»Du weißt gut genug, wie das sein kann.« Cahaya klang wütend. »Aber sie werden unser Kind nicht zum Herrscher machen. Das werde ich nicht zulassen. Diese Macht, dieser Druck, all die Intrigen und Ränkespiele auf den Schultern eines unschuldigen Kindes. Haltet mich, haltet unser Volk aus eurem Krieg heraus und vor allem mein Kind.«

Ihre Hand strich über ihren flachen Bauch. Wie oft hatte Dorchadas die weiche Haut um ihren Bauchnabel liebkost?

»Was willst du tun?«

»Ich verschwinde und diesen unsäglichen Stein nehme ich mit. Komm mit mir. Wir gehen dorthin, wo uns niemand kennt. Irgendwohin, wo wir neu anfangen und unser Kind in Frieden aufziehen können.« Sie nahm seine Hand und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Komm mit mir«, bat sie sanft und er nickte. Er würde ihr bis ans Ende der Welt folgen.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top