Die blutigen Brüder
Die Welt war verschwommen, der Blick getrübt und der Kopf des jungen Dunkelelfen wie mit Blei gefüllt. So würde er untergehen, in den Fluten versinken, aber da war ein Gedanke, flüchtig zwar, aber wichtig, soviel wusste er in seinem Dämmerzustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Die letzten Fetzen der Traumwelten, durch die er in seinem tiefen Schlaf gezogen war, verblassten bereits vor seinem inneren Auge. Mehr und mehr fand er in seine Gegenwart zurück. Kein Ozean war es, der ihn umgab, keine Wassernixe mit feixendem Lachen und blondem Haar, sondern eine Höhle war es, in der er zu Bewusstsein kam. Dieses Territorium war mehr sein Revier, als es das kühle Nass je sein konnte, dennoch kratzte etwas am Rand seiner Erinnerung. Etwas Wichtiges. Etwas, das er nie vergessen durfte.
"So müde", lallte er mit schwerer Zunge und versuchte, sich zu konzentrieren
Jemand lachte. Es war kein gutmütiges, humorvolles Lachen, soviel verstand er in seinem Zustand. Das Geräusch half, ihn ein wenig mehr ins Hier und Jetzt zu tragen.
"Hat unser Prinz etwa schon ausgeschlafen?", höhnte eine weitere Stimme. Er kannte beides. Die Wesen, zu denen die Stimmen gehörten und die Umgebung, in der er allmählich ganz zu Bewusstsein kam.
Endlich gelang es ihm, den Kopf zu heben. Seine Augen fokusierten für einen Moment die mit Furchen und Schlieren überzogene Tischplatte, auf der seine Unterarme noch immer ruhten. Ein paar Mal blinzelte er und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
Jemand saß auf einem Schemel vor dem überfüllten Regal und wippte leicht auf und ab, eine Hand haltsuchend auf das mit allerlei Krimskrams gefüllte Bücherregal gelegt. Nur ein wenig Pech oder Unachtsamkeit und die meist handgebundenen Seiten, Töpfe, Schüsseln, Vasen und Gefäße würden zu Boden kullern.
Dorchadas zuckte zusammen, als sein Gegenüber das Stuhlbein krachend auf den gestampften Boden poltern ließ. Aber nichts ging zu Bruch.
Sein Blick huschte zu dessen Doppelgänger, der ihm direkt gegenüber auf einem niedrigen Hocker aus einem alten Baumstumpf saß. Er war eindeutig der Ruhigere der beiden Gesellen, aber deswegen nicht weniger furchteinflößend.
"Die blutigen Brüder", flüsterte er.
"So nennt man uns. Wir haben schon Bekanntschaft geschlossen, aber verzeih, dass wir uns bei der Gelegenheit nicht gebührend vorgestellt haben", antwortete der Schwarzgekleidete vor dem Regal. "Pisaca", er deutete auf seinen Bruder, dann auf sich. "Banpiroa." Jeder der beiden verneigte leicht den Kopf. Im nächsten Moment hatte Dorchadas ihre Namen bereits vergessen. Seine royale Erziehung völlig außer Acht lassend, gedachte er nicht im Entferntesten daran, sich selbst vorzustellen. Erstens wussten die Blutsbrüder, mit wem sie es zu tun hatten und zweitens, wirbelten unzählige andere Gedanken durch seinen Kopf und wollten alle gleichzeitig an die Oberfläche schwimmen.
"Die Nebelhexe?", versuchte er einen davon zu greifen. "Cahaya!", einen weiteren, noch wichtigeren.
Sein Gegenüber nickte, aber wieder war es der andere Bruder, der antwortete. "Sie will sich mit dir unterhalten. Wir stellen nur sicher, dass du noch hier bist, wenn sie zurückkehrt." Dorchadas zog eine Grimasse. "Gräme dich nicht, sie ist bei deiner Gefährtin, so wie du es von ihr verlangt hast." Sein Unbehagen war keinem der beiden entgangen.
"Sie hat mich verhext!", stellte der junge Dunkelelf fest. Die Phiole mit den letzten Tropfen einer Flüssigkeit, das Beweisstück ihrer Heimtücke, stand auf dem niedrigen Tischchen mitten zwischen ihnen.
"Verhext?" Der Blutsbruder ihm gegenüber hob eine Augenbraue und zum ersten Mal erhob er seine Stimme. "Wer wird denn gleich solch unschöne Worte in den Mund nehmen. Sie stellt sicher, dass die Dinge zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt werden. Und sie schöpft alle Mittel aus, die ihr dafür zur Verfügung stehen. Einen Trank. Ein paar geräucherte Kräuter. Uns."
Dorchadas nahm die Worte zur Kenntnis, ohne darauf einzugehen. Sie passten zu dem, was er von der Hexe auf der Siebenwetterspitze gehört hatte. Die mächtige Nebelhexe. Gutmütig zu denen, die Gutes im Sinn haben, aber nicht leichtfertig mit ihrer Güte. Wer von ihr sprach, tat es mit Respekt und Ehrfurcht. Die meisten berichteten aber nur von Dingen, von denen sie gehört hatten, dass man sie sich über sie erzählte. Von ihren beiden blutrünstigen Wachposten sprach jeder mit Furcht und Schrecken in der Stimme. In ihrem Fall gab es noch wenigere Wesen, die eine Begegnung unbeschadet überstanden hätten, um davon zu berichten. Dergestalt waren auch die Schauermärchen, die man sich unter vorgehaltener Hand über sie erzählte, beinahe so, als würde man ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn man es laut und offenkundig tat.
So unauffällig wie möglich tastete Dorchadas nach seinem Hals und begutachtete seine Fingerspitzen und die blassen Lippen der blutigen Brüder. Farblose Lippen, bleiche Haut. Pupillen, die sich kaum von dem Weiß ihrer Augäpfel abhoben, aber Haare und Gewand so dunkel wie die Nacht. Ihm selbst nicht unähnlich, aber niemand war jemals so vor ihm zurückgeschreckt, wie er bei seiner ersten Begegnung vor ihnen - nicht einmal Cahaya, das Nixenmädchen und seit nun mehr vielen Monden seine Geliebte. Wie anders sein Schicksal sich erfüllt hätte, wäre sie ihm nie begegnet oder diese Begegnung anders verlaufen. Er seufzte leise. Er wusste noch immer nicht, ob er sich das wirklich wünschen sollte und ob es besser für alle Beteiligten wäre, aber auf Grund der Umstände war er nun einmal wo er war.
Die blutleeren Lippen seiner Aufpasser verzogen sich zu einem Lachen. Weiße Zähne kamen zum Vorschein und wirkten beinahe harmlos.
"Wie lange habe ich geschlafen?", fragte Dorchadas zögerlich.
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