I

Eine berückende Schönheit


,,Sind wir bald daaa?", fragt die kleine Sophie.
,,Ja gleich", antwortet die Mutter leicht genervt und sieht aus dem Fenster.
,,Sind wir bald daaaaaaa?" Sophie rutscht aufgeregt in ihrem Kindersitz hin und her. Sie hat bereits einige Male nachgefragt, ob sie bald da seien. Der Vater konzentriert sich die gesamte Fahrt über nur auf das Fahren des Autos und sprach kein Wort. Die Drei; die Mutter, der Vater und die kleine Sophie sind auf dem Weg zu den Eltern väterlicherseits. Sie wohnen weit weg von den dreien, weshalb es nicht oft vorkommt, dass sie sie besuchen.
,,Sind wir bald daa-haaaa?"
,,Ja, Schatz. Schau mal aus dem Fenster", antwortet Sophies Mutter. Eine rote Strähne wischte sie sich aus dem Gesicht. Schnell sieht Sophie auch hinaus. Ihre blauen Augen erblicken Berge so hoch, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Berge, die über den Wolken hinausragen. Auf diesen riesigen Bergen liegt eine weiße Schicht, die aussieht, wie Zuckerglasur auf Kuchen. Sophie weiß nicht, wie sie das nennen soll - schließlich kennt sie es nicht. Deswegen beschließt sie, direkt nachzufragen: ,,Mami, das Weiße auf dem Hügel, was ist das?"
,,Liebes", erklärt die Mutter, ,,das Weiße ist Schnee." ,,Schnee", spricht die kleine fasziniert nach. ,,Es ist schön", sagt sie leise und schaut weiterhin aus dem Fenster. Die Mutter lächelt leicht. Sie sieht zu ihrem Mann, der aber keinen Blick für sie übrig hat.

Ein paar Minuten später halten sie vor einer Holzhütte an. ,,Wir sind da", sagt der Vater und sieht das erste Mal nach hinten.

,,Willkommen bei Oma und Opa."

Das Haus liegt abgeschieden von den anderen Häusern. Es ist umgeben von Bäumen und Bergen. So viel Natur hat Sophie noch niegesehen. Doch sie interessiert sich gerade nicht für die Schönheit der Natur, sondern möchte unbedingt Oma und Opa wiedersehen. Schnell will sie die Autotür öffnen und zum Haus rennen, doch die Tür lässt sich nicht öffnen. Erwartungsvoll und voller Vorfreude siehtSophie ihre Mutter und ihren Vater an. Beide steigen aus. Während die Mutter die Tür von Sophie öffnet, holt der Vater die Koffer. Während sie aussteigt, lässt der Wind ihre Haare fliegen. Fröstelnd sprintet die blonde Sophie zur Holztür. Bevor Sophie dort ist, wird sie bereits von einem grauhaarigen Mann mit vielen Falten geöffnet. Das Lächeln, mit dem er alle drei begrüßt, lässt Lachfalten an seinen Augen erscheinen. Schnell umarmt die kleine Sophie ihren Opa. ,,Hallo", sagt der alte Mann und erwidert die Umarmung, ,,schön euch zu sehen. Kommt doch herein." Widerwillig lässt Sophie ihn los. Sie ist so nervös, dass sie gar nicht an ihren rosaroten Rucksack mit dem Hellokitty Aufdruck denkt, der noch immer im Auto liegt.

Von Innen scheint das Haus viel größer zu sein, als Sophie zuvor dachte. Im langen Flur stehen ein paar Schränke mit komischen Vasen drauf und auf der rechten Seite steht eine große Vitrine mit Geschirr drin. Ihre blauen Augen sehen viele neue, unbekannte Dinge, doch ihr Kopf verarbeitet das Meiste noch nicht.
Sie gehen in das Wohnzimmer, wo Sophies Oma bereits auf sie wartet. ,,Hallo Oma", sagt Sophie und stürmt auch auf sie zu. Die Oma legte ihr Buch zur Seite und setzte sich aufrecht auf die Couch. Sie lacht und streicht sich kurz durch ihre weißen, lockigen Haare. ,,Hallo Sophie. Gefälltes dir hier?",,Ja, es ist schön warm hier drin. Draußen ist es total kalt." ,,Ja, da hast du recht. Aber der Kamin macht es hier drin schön warm." Erst jetzt erkennt Sophie den Kamin, der mit roten Steinen gemauert ist. ,,Ja, der ist schön. Hier ist alles so groß", dabei dreht sie ihren Kopf in Richtung der Decke.
,,Ja,du wirst auch irgendwann so groß, wie wir. Irgendwann kannst du dieses Haus haben, wenn du willst. Dein Opa hat es mit deinem Vater gebaut."
,,Waaas? Echt?", fragt Sophie mit großen Augen. Ihr Vater hatte ein Haus gebaut? ,,Ja", lacht ihr Opa und klopft seinem Sohn dabei auf die Schulter, der direkt neben ihm steht.

,,Kommt, wir wollen essen" sagt ihre Oma, während sie bereits auf dem Weg in das Esszimmer ist. Schnell stürmt Sophie hinterher und hätte dabei fast eine hässliche und wahrscheinlich wertvolle Vase umgestoßen. ,,Pass auf Sophie!", wird sie von ihrer Mutter ermahnt.
Während des Essens redet Sophie kaum. Sie kann bei den meisten Themen nicht mitreden, teilweise versteht sie auch nicht, was gesagt wird. ,,Aber das ist normal", das sagt ihre Mutter immer zu ihr, wenn Sophie sagt, dass sie das nicht versteht, ,,wenn du älter bist, verstehst du es." Bockig antwortet sie dann immer: ,,Ich will es aber jetzt verstehen!", und stampft kräftig mit ihrem Fuß auf dem Boden.

Während dem Essen fragt ihr Opa, ob sie schon einmal einen Schneemann gebaut hat. ,,Nein", antwortet sie, ,,Was ist das?" ,,Heinz, bei uns liegt kein Schnee. Schon lange nicht mehr", sprach die Mutter dazwischen.
,,Na, dann solltest du dir deine Schuhe anziehen und nach Draußen gehen." Geschockt sieht die Mutter ihren Schwiegervater an. ,,Wir essen doch noch!" ,,Ja, aber das Essen wartet auf uns, der Schnee nicht... Na los, Sophie."
Verwirrt steht sie auf, zieht sich ihre Schuhe an und wartet. ,,Jacke auch", ruft ihre Mutter vom Ende des langen Flurs. Als sie auch die an hat, macht ihr Vater die Tür auf. Ein kalter Wind weht ins Haus, doch es ist allen egal. Jeder wartet auf die Reaktion von der kleinen Sophie. Und sie steht dort, mitten in der Tür, regt sich kein Stück und bewundert die glitzernde Glasur auf dem Fußboden. Erst, als sie versteht, was das ist, ruft sie laut und voller Begeisterung: ,,Schnee!"
Sie rennt nach Draußen und hüpft durch die Gegend. Mutter, Vater, Oma und der Opa kommen auch hinaus. ,,Während des Essens hat es geschneit", erklärt die Oma ihrem Sohn, der verwirrt dreinschaut. Anscheinend war er beim Essen in Gedanken versunken. Als sie zwei Stunden zuvor aus dem Auto gestiegen sind, lag da noch nichts. Lautlos taumeln die Schneeflocken zur Erde und in die Haare der Vier. Sophie lacht vor Freude auf. Lächelnd zeigt der Vater ihr, wie man einen Schneeengel macht, während Mutter und Oma mit einem Schneemann beschäftigt sind. Schnell geht die Oma eine Karotte aus dem Kühlschrank holen. Der Opa zeichnet alles mit einem Fotoapparat auf - schließlich will er diesen Moment nie wieder vergessen.

Die Mutter zettelt eine Schneeballschlacht an, die aber Opa und Oma nicht mitmachen. Sie zittern vor Kälte und sind sich sicher, dass sie Rückenschmerzen bekommen, wenn sie das auch noch mitmachen. Als Sophie nicht verstehen will, warum Oma und Opa nicht mehr mitmachen wollen, erklärt der Opa: ,,Wir sind nun auch nicht mehr die Jüngsten." ,,Ja, ihr seid alt", erklärte Sophie sich selbst. Und als sie Abends alle gemeinsam am Kamin sitzen, kalt und erschöpft und einen Kaffee oder Kakao mit Sahne trinken, lässt jeder für sich den Tag Revue passieren. Es war ein schöner Tag, stellte Sophie fest. Schnee ist so schön!

Das am heutigen Tag aufgenommene Bild hängt bereits an einer Wandgegenüber eines großen Fensters. Mit einem Lächeln sehen sie alle nach draußen. Und es scheint, als sehen sie die, vom Himmel taumelnden, Schneeflocken im Mondschein glitzern. Eine berückende Schönheit.

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