II. Übers Ziel hinausgeschossen
„Hast du die gesehen?"
„Klar, was sonst? Als ob man die übersehen könnte."
„Stolzieren herum und meinen, die können sich hier breit machen. Hast du deren Smartphones gesehen? Ich schwör' dir, der da hat ein neueres Modell als ich. Aber meinst, mir wird das Geld in den Arsch geschoben, so wie denen? Nein, ich muss arbeiten gehen und mir mein Zeug selbst bezahlen. Bin ja auch kein Scheiß-Schmarotzer so wie die da!"
Schwerfällig wende ich den Kopf um zu sehen, wen die Männer am Nachbartisch meinen. Dabei macht sich mein steifer Nacken bemerkbar und ich halte mitten in der Bewegung inne, bevor ich mir wieder irgendetwas verrenke und tagelang nur noch geradeaus schauen muss. Trotzdem habe ich nun den richtigen Sichtwinkel.
Selbst mit Brille sehe ich nur verschwommene Umrisse. Die zwei jungen Männer am Tisch neben mir haben wohl über die gesprochen, die gerade gemächlich am Schaufenster vorbeispazieren. Mit Mühe kann ich zwei bunte Kopftücher ausmachen und vier kurze, schwarze Haarmähnen.
Ach so.
„Gestern hat meine Schwester herumgejammert, dass sie für ihren Xaver keinen Kindergartenplatz kriegt. Und weißt, was diese Idioten von der Leitung für einen Grund gesagt haben? Die müssten eine beschissene Quote erfüllen und nehmen für Xaver einen von denen. Das musst dir mal geben!"
Als der andere krachend die Faust auf den Tisch fallen lässt, spüre ich mehr, wie sich die wenigen anderen Cafébesucher nach den Beiden umwenden als dass ich es sehe.
„Die reine Verarsche ist das!", zischt der andere. Die Verachtung in seiner Stimme macht Platz für unterdrückten Hass. „Letztens hat mir ein Bekannter erzählt, dass er die Wohnung in diesem neuen Sozialbau nicht gekriegt hat, auf die er schon ewig wartet. Dreimal darfst du raten, wer da jetzt einziehen darf!"
„Das haben die echt so gesagt?"
„Nee, aber ist doch klar! Die kriegen alles, was uns gehört. Selbst die Steuer, die uns abgezogen wird."
„Sauerei! Irgendwelchen dahergelaufenen Schmarotzern stopfen sie die Mäuler und die eigenen Leute lassen sie im Stich. Ich sag dir, wir haben nur Idioten in der Regierung! Keiner von denen traut sich, das Maul aufzumachen und mit der Faust auf den Tisch zu hauen."
Wieder höre ich einen Schlag gegen den polierten Holztisch. Wahrscheinlich will der Jüngling seine Rede klangvoll verdeutlichen.
Der andere gibt einen zustimmenden Laut von sich, der mich an das Muhen eines Jungbullen erinnert. „Weißt, woran ich denken muss, wenn ich sowas hör'?" Verschwörerisch senkt er die Stimme. Doch im Vergleich zu den Augen tun meine Ohren immer noch tadellos ihren Dienst. Ich kann jedes Wort verstehen. „An ihn. Freilich, er ist so'n bisschen übers Ziel hinausgeschossen. Aber seine Ideen waren im Grunde gar nicht so falsch. Hätten wir ihn immer noch hier gehabt, wär's gar nicht erst zu solchen Zuständen gekommen. Bei ihm stand der eigene Volksmensch immer an erster Stelle."
Unwillkürlich greife ich nach dem Messingknauf meines Gehstockes und drücke ihn zusammen. Was allerdings mit Schwierigkeiten verbunden ist, angesichts der fortgeschrittenen Arthrose.
„Wen meinst du?", fragt der Tischraufbold. Der ist wohl schwer von Begriff.
„Na ihn", zischt der andere ungeduldig und wird noch leiser, damit es ja keiner mitbekommt. „Den Führer."
Langsam schließe ich die Augen und öffne sie wieder. Es nützt nichts. So viele Jahre – Jahrzehnte – später sehe ich die Bilder immer noch vor mir. Als wäre es gestern erst geschehen.
***
„Links! Links! Rechts! Links!", ertönte die gleichgültige Stimme des Mannes in grauer Uniform.
Die meisten starrten ihn verständnislos an. Niemand wollte wahrhaben, was das bedeutete.
„Solange wir zusammen sind, ist alles gut", hatte Vater zu mir gesagt. Immer und immer wieder. „Solange wir nur zusammen sind." Er hatte es gesagt, es gebetet und einmal, da hatte er es, von Weinkrämpfen geschüttelt, herausgeschluchzt. Dieser eine Satz hatte uns Kraft gegeben. Alles bedeutet.
„Links! Rechts! Rechts!" Der Mann wiederholte auch immer dasselbe, wie Vater. Nur, dass es ihm egal war. Dass er uns damit das Letzte und Einzige nahm, was zählte, war ihm egal.
Ich spürte, wie Mutter mir einen Kuss auf den Scheitel drückte und „Geh weiter! Wir sehen uns bald." murmelte, bevor sie sich den Menschen in ihrer Schlange anschloss. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Das letzte Mal, bevor sie ermordet wurde.
Ich selbst ging weiter, und später fragte ich mich immer wieder, ob ich in der richtigen Schlange gelandet war. Welche Macht hatte beschlossen, dass ich nicht mit Mutter mitgehen sollte? Wer hatte sich ausgedacht, dass ich gesehen hatte, was niemand auf dieser Welt zu sehen bekommen sollte?
Ich sah Menschen hungern, leiden und sterben. Ich sah unendliche, grausame Gewalt, zu der kein Tier fähig gewesen wäre. Nur ein Mensch war zu so etwas fähig. Ich sah ganze Zugladungen von Sinti und Roma-Kindern mit ihren Eltern, die zu dem einzigen Zweck „angeliefert" worden waren: medizinische Experimente. Nacht für Nacht verfolgen mich die Schreie der gefolterten Mutter, die mit wahnsinniger Stimme immerzu schrie, man solle ihre Kinder verschonen. Sie starb, während sie den Schreien ihrer gefolterten Kinder horchte. Das hatte man so arrangiert.
Ich sah Vater sterben, nachdem er einen der grauuniformierten Männer bespuckt und beschimpft hatte. Er wusste, er würde bald sterben und als ich ihn das letzte Mal sah, war er sogar ein bisschen stolz darauf, dass er nicht sang- und klanglos gehen würde. Er war ihm wichtig, dass er sich auf seine Weise gewehrt hatte.
Bis heute weiß ich nicht, wie ich das überlebt habe. Überleben konnte. Doch jahrelang habe ich mir die Frage gestellt, wer das entschieden hatte. Wer hatte mich aus Hunderten, Tausenden, ja, Millionen dazu auserwählt, zu überleben? Und war es nun eine milde Tat oder ein grausamer Scherz, mich nach alledem am Leben zu lassen?
Irgendwann im Laufe der Jahre habe ich aufgehört, mit dem Schicksal oder mit Gott zu hadern, denn die Antwort ist viel einfacher, als ich es auf meiner Suche nach Sinn je angenommen hatte. Es waren Menschen, die über mich bestimmt hatten. Junge Männer, genau wie ich einer gewesen bin. Nur dass sie zufällig auf der Seite standen, die ihnen die Macht verlieh, über das Leben anderer zu entscheiden. Über mein Leben.
Sie waren auf der Seite desjenigen gestanden, der so'n bisschen übers Ziel hinausgeschossen war.
***
Schwerfällig erhebe ich mich von meinem Stuhl und bahne mir langsam einen Weg zu den beiden jungen Männern. Erst als ich vor ihrem Tisch stehe, kann ich die vielen Biergläser erkennen, die das Mädchen noch nicht abgeräumt hat. Und zwei angebrochene Zigarettenschachteln.
Mit ungeschickten Händen krame ich in meinem Geldbeutel und hole den Zwanzig-Euro-Schein heraus. Er ist gut verstaut, denn es ist der Rest meiner Rente für diesen Monat. Stumm lege ich sie den Männern vor die Nase.
„Was wird denn das, Alterchen?", fragt mich der Jungbulle. Hohn und Spott umhüllen seine belustigte Stimme.
„Eine Spende", sage ich freundlich. „Weil doch die Herren anscheinend ihre letzte Hose an die Fremden abgeben müssen."
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