„Ich hab den Umriss vom Konzert genau aufgezeichnet", offenbarte Siska ihnen zwei Stunden später beim Frühstück. „Ich kenne jeden einzelnen Winkel und habe schon über die Positionen der Kameras nachgedacht, die ich verteilen werde, sodass wir jeder Zeit das ganze Gebäude akribisch im Blick haben können."

„Hast du die Kameras denn schon gekauft oder so?", fragte Sammy zwischen zwei Bissen.

„Ich hab sie immer dabei." Siska holte eine schwarze Box aus ihrer Jackentasche und öffnete sie. Darin waren zwanzig kleine Mini-Kameras, die sie alle mit dem Handy überwachen konnte.

„Die haben bestimmt viel gekostet...", sagte Ben und Siska zuckte bloß mit den Schultern.

„Alea und ich wollten heute auch noch Ocean's heart produzieren." Lennox räusperte sich kurz, bevor er fortfuhr. „Die Instrumental Version ist soweit fertig, ich brauche nur noch Aleas Stimme."

„Kann ich euch dann zuhören?", fragte Sammy. „Gestern hat mir Schneewittchen brühwarm erzählt, wie sagenhaft phänomenal dein neuer Song ist, jetzt, wo du ein wahrer Poet bist und beinahe Konkurrenz für mich sein könntest, und ich muss mich ganz unbedingt selbst davon überzeugen!" Gestern hatte Sammy bei Alea geschlafen und Lennox in der Jungenkajüte, damit Siska das Sofa im Salon allein für sich haben konnte.

Lennox nickte. „Ihr könnt alle zuhören, wenn ihr wollt." An Alea gewandt meinte er: „Wenn das kein Problem für dich ist?"

„Natürlich nicht." Sie würde das Lied allein beim Konzert singen! Fünf Personen waren da ein ziemlich beschränktes Minimum, außerdem hatte sie vor der Alpha Cru schon längst alle Scheu abgeworfen.

„Danach sollten wir auch noch eine Bandprobe machen und die genaue Reihenfolge der Lieder feststellen, die wir vortragen werden", sagte Ben.

Alea seufzte und musste an die riesigen Menschenmassen denken, vor denen sie singen würde. In den letzten Tagen war ziemlich viel los gewesen und sie hatte das Konzert erfolgreich verdrängen können, aber zurück auf der Crucis dachte sie an nichts anderes mehr. Dabei war das Konzert womöglich noch das kleinere Übel! Denn am Tag darauf würden sie Orion in Rom begegnen und ihn bestenfalls zu der Lafora Grarmathacht bringen. Aber zwischen Theorie und Praxis lagen unendliche Weiten...

„Was, wenn sich die Silberfadenvision verändert hat?", sprach sie dann ihren zweiten Hauptgedanken aus. „Die Magischen haben Orion mit Thea in einem Hubschrauber nach Süden fliegen sehen, ihr Ziel war ganz bestimmt Rom! Und da konnten wir schon nicht nachprüfen, ob die Vision dieselbe bleiben würde. Was, wenn uns die Silberfäden nun etwas ganz anderes zeigen würden?"

Schweigen legte sich über sie und Alea konnte in den Gesichtern der anderen erkennen, dass sie sich ebenfalls schon Gedanken darüber gemacht hatten. Schließlich ergriff Siska das Wort. „Wir müssen vorsichtig sein und die Stadt die ganze Zeit über im Auge behalten. Sobald wir einen Darkoner oder Doktor Orion sehen, werden wir mit dem Auto fliehen. Dazu kann ich auch noch ein Sicherheitskonzept ausarbeiten."

„Das... wäre nicht schlecht." Lennox zog die Brauen zusammen. „Vielleicht sollten wir das mit dem Konzert auch wirklich lassen und -"

„Nein", schnitt Ben ihm das Wort ab. „Dieses Konzert ist wichtig. Alea hat schon seit langem immer dieselbe Vision gesehen und das Schicksal hat unseren Auftritt ganz sicher mit eingeplant. Außerdem – falls wirklich etwas schiefgehen sollte, haben wir immer noch Siska, die uns da sicher rauslotsen kann."

Siska nickte und damit war das Thema beendet.

Eine Stunde später übten Lennox und Alea im Salon Ocean's heart ein, während die anderen ihnen zuhörten. Lennox erklärte Alea, wann sie wo einsetzen musste, und obwohl die Keyboard -Untermauerung des Songs ungewohnt für Alea war, kriegte sie sich immer besser ein. Nachdem sie zweimal alles richtig gesungen hatte, erschien ein verschmitztes Lächeln auf Lennox' Lippen. „Dann nehme ich jetzt mal auf." Er ließ das Keyboard leise beim Laptop laufen und hielt Alea dicht das Handy vor die Nase. „So hörst du die Instrumente, das Handy aber nicht", erklärte er und bedeutete den anderen, mucksmäuschenstill zu sein.

Alea nahm tief Luft und nickte Siska zu, die einen Knopf beim Laptop drückte. Kurz darauf erklangen die ersten Töne und Alea musste schon früh einsetzen.

Here, here's where it lies

The magnitude of life

Deep, deep in the sea

Is where we came to be

Take me down to the ocean's heart

The deep blue sea holding silently all that once was sacred

Take me down to the ocean's heart

Where water bright revel in their light

As if they weren't dying ...

Als der letzte Ton verklungen war, erklang stürmischer Beifall. Als Alea sich grinsend umdrehte, sah sie, dass in Bens Augenwinkeln eine Träne glitzerte und Sammy ganz rote Wangen bekommen hatte. „Du hattest Recht", flüsterte er gerührt, „dieser Song ist einfach nur skandalös pompös..." Zwar hatten sie die Male zuvor auch schon zugehört, aber Alea hatte es selbst bemerkt: Sie sang das Lied zugleich mit einer Zärtlichkeit und einer Wucht beim Refrein, die die Wichtigkeit und den Inhalt des Songs perfekt wiedergaben und beinahe greifbar machten. Sie hatte ganz klar das Gefühl, dass Ocean's heart ebenfalls ein Schritt in die richtige Richtung war, dass außer ihr noch unzählige Leute davon inspiriert werden könnten. Es bestand kein Zweifel: Sie musste das Lied beim Konzert singen.

„Cru!", übernahm Ben da das Wort. „Machen wir eine Bandprobe! Auf dass wir morgen die Herzen aller Zuschauer zum leuchten bringen!"

Alea nickte und schluckte für diesen Moment ihr schlechtes Bauchgefühl herunter. Schon stimmte sie in den wilden Freudenstanz von Sammy ein.