In einem Jahr

Im fahlen Mondschein sah Alea eine Silhouette auf sich zukommen und sie duckte sich hinter dem Container. Sie harrte einen Moment aus, hörte etwas auf dem Boden schleifen und gedämpfte Männerstimmen, die sich immer wieder entfernten und näherkamen.

Alea hob ihren Kopf und warf einen Blick über den Containerrand. Gut drei Viertel der ganzen Last waren aufs Schiff verladen worden, es würde also nicht mehr lange dauern, bis...

„Ich hab einen", hörte Alea Lennox hinter sich flüstern. Er machte keine Anstalten sich zu verstecken, niemand würde ihn sehen. „Die Luft ist rein, kommt."

Alea, Sammy, Ben, Tess und Siska duckten sich hinter den Containern und beeilten sich, Lennox zu folgen. Er führte sie sicher zum Schiff, wartete aber, bevor er es betrat. Einhalt gebotend hob er die Hand und die Cru kam zum Stillstand. Alea konnte den Grund erst nicht ausmachen, aber da sah sie, wie ein paar Männer über die Gangway kamen und mit denen an Land redeten.

Lennox winkte sie weiter. Als Alea ihren Fuß auf die Gangway setzte, befürchtete sie kurz, es könnte ein Geräusch abgeben. Aber es blieb vollkommen ruhig. Sie folgte Lennox auf das Oberdeck und von dort aus an unzähligen Containern vorbei.

Vor einem großen Container blieb Lennox stehen und öffnete die Tür. „O Mann", flüsterte Sammy, als er als erstes hineinging. „Wie lange müssen wir hier drin bleiben?"

„Nicht lange", versicherte Lennox ihm und ging ebenfalls rein.

Im Container war es stockdunkel, nachdem Lennox die Tür schloss, aber Siska fand schnell ein kleines Loch, durch das sie nach draußen blicken konnte. „Wir setzen bald ab", sagte sie.

Ein paar Minuten später spürte Alea, wie das Schiff sich in Bewegung setzte.
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr", murmelte Ben.

„Lass mich mal." Alea kroch zu dem Durchguckloch und versuchte etwas zu erkennen. Sie hatten bereits einen guten Abstand vom Ufer gewonnen und niemand hatte bemerkt, dass hier blinde Passagiere mitfuhren.

Alea sah eine Weile lang nach draußen, bis sie sich den anderen zuwandte. Sie konnte Siskas Augen sehen, sonst fand sie bloß erdrückende Schwärze vor. „Ich frage mich, ob es gut war, dass Thea bei Nelani und Keblarr geblieben ist", sagte sie in die Stille hinein.

„Ich glaub, sie braucht etwas Zeit mit ihren Eltern allein", hörte sie Bens stimme von rechts. „Außerdem hätte es Cassaras bestimmt nicht gut gefunden, ihr wieder in einem Containerschiff zum Festland zu folgen."

„Irgendwann muss er das eh machen." Alea lächelte, was aber natürlich niemand sah. „Sobald Nelani fertig ist, werden die drei das Gegenmittel verteilen. Dann ist es Cassaras' Aufgabe Thea zu beschützen."

Es war wieder für eine Zeit lang vollkommen ruhig in dem engen Raum. Da ergriff Sammy das Wort. „Ich schlage vor, wir spielen irgendetwas, bis wir da sind."

„Und was?", fragte Siska.

„Zum Beispiel... wir erzählen uns allen, wo wir mit wem in einem Jahr sind und was wir da machen."

Überraschenderweise machte Tess den Anfang. „Okay, also... In einem Jahr werde ich bei euch sein", sagte sie mit ernster Stimme. „Wir werden auf der Crucis reisen und Alea, Lennox und Siska machen immer wieder Abstecher zum Meeresgrund. Ich bin dann mit Kit im Salon und wir unterhalten uns und hören Musik und lachen, wir... sind zusammen für immer und ewig. Weil wir eine Lösung gefunden haben, wie wir zusammen sein können. Daran glaube ich fest."

Siska war die nächste, die etwas erzählte. „Ich werde in einem Jahr im Wasser sein. Mit meinem Vater. Wir werden zusammen auf Gretzerjagd gehen und Typen wie Orion verfolgen. Aber wenn ihr meine Hilfe braucht, dann werde ich immer zur Stelle sein. Egal wo ich bin und was ich gerade mache. Wenn ihr mich braucht, dann werde ich da sein. Mit allem was ich bin und mit allem, für das ich stehe."

„In einem Jahr werde ich euch immer besuchen", übernahm Ben den Faden. „Immerhin gibt es in den Unterwasserstädten Luftbronnen – ihr müsst sie nur für uns Landgänger öffnen und schon bekommen wir auch Luft. Und ich werde die Schulen besuchen. Ich denke, unter Wasser lernt man nie aus. Es gibt immer Neues zu entdecken und so viele unbekannte Orte, die noch nie jemand betreten hat! Leider würde ich mit meiner Taucherflasche nicht so weit kommen, aber vielleicht finden wir ja eine Lösung."

„Ich hab mir schon oft überlegt, wie es mit der Alpha Cru weitergehen könnte", sagte Sammy. „Wisst ihr, ich hatte da so eine Idee."

„Was für eine Idee?", wollte Lennox wissen.

„Eine Idee, bei der wir alle gemeinsam leben können! Unter Wasser!"

„Da bin ich aber mal gespannt", sagte Alea und war wirklich gespannt, was jetzt kam.

„Nachdem das mit der Lafora und Orion nicht geklappt hat", offenbarte Sammy ihnen, „dachte ich: Wieso mussten wir uns so sehr anstrengen, wenn es am Ende doch nicht geklappt hat? Ich hab mich in den Lotussitz gesetzt und mich ganz meiner Meditation hingegeben, als mir ein hochgradig genialer Einfall kam."

„Und der wäre?", fragte Tess.

„Dass uns Laforas in der Zukunft noch nutzen werden", entgegnete Sammy. „Sie sind doch gemacht, um etwas zu tauschen – sowie gefühlsmäßig als auch körperlich. Und da dachte ich: wenn es Meerkinder geben würde, die lieber an Land leben wollen bei ihren Pflegeeltern, dann könnten wir doch ganz einfach unsere Landgängerseite gegen ihre Meermenschenseite tauschen. Dann hätten auch wir Kiemen und Schwimmhäute."

Der Gedanke stand eine lange Zeit im Raum. Bis Ben fragte: „Glaubst du, es gibt wirklich Meerkinder, die tauschen würden?"

„Natürlich. Wenn ich da über zehn Jahre von Pflegeeltern großgezogen wurde, würde ich vielleicht nicht mein ganzes altes Leben hinschmeißen und auf Nimmerwiedersehen im Meer verschwinden."

Siska räusperte sich.

„Oh. Sorry. Jedenfalls... Es gibt hundertpro welche da draußen, die lieber an Land leben. Und da wir lieber auf, beziehungsweise im Meer leben wollen, wäre es doch eine Win-Win-Situation, würden wir tauschen!"

„Möglicherweise treffen wir ja Meerkinder, die einverstanden wären", sagte Lennox. „Vierundvierzig haben schon zugesagt."

„Vierundvierzig!", rief Alea ein bisschen zu laut. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und wiederholte leise: „Vierundvierzig!"

„Das muss zwar nicht heißen, dass auch alle kommen, aber die Zahl ist auf jeden Fall mal ein Anfang."

Alea griff nach Lennox Hand und drückte sie. „Das ist unglaublich", brachte sie hervor. „Innerhalb so kurzer Zeit haben so viele zugesagt."

Lennox erwiderte den Druck. „Das hast alles du erreicht."

„Nein", sagte Alea. „Wir. Wir zusammen haben es so weit gebracht."

Etwas in ihrer Stimme ließ Lennox schmunzeln.

„Schneewittchen hat recht. Ohne Wind unter den Flügeln kommt der Vogel nirgends hin, auch wenn er noch so prächtige Schwingen hat." Durch die schwache Morgensonne, die durch das Guckloch schien, konnte Alea sehen, wie sich Sammys Gesicht nachdenklich verzog, als würde er den Vergleich in Frage stellen.

„Ja, das stimmt", sagte Alea. „Und genau so ist es gut. Ich will es gar nicht anders haben."

„Ich auch nicht!", bekräftigte Sammy. Und dann streckte er die Hand aus. Alle anderen legten ihre darauf und sahen sich an.

„Wir schaffen das." Alea holte tief Luft. „Gemeinsam."

Und dann riefen sie alle: „Alpha Cru!"

Obwohl sie nur leise sprachen, konnte jeder von ihnen die Feierlichkeit in ihren Stimmen hören und die Verbundenheit, die darin lag. Nur zusammen konnten sie das, was vor ihnen stand, bewältigen. Jeder von ihnen war anders, besonders, ein Teil des Gesamtwerkes, und darum brauchten sie einander – Benjamin Libra, Samuel Draco, Tess Taurus, Sista Siska, Lennox Skorpio und Alea Aquarius.


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