Der Anruf

Sie fuhren eine Dreiviertelstunde lang. Alea hatte ihren Kopf die ganze Zeit über in Lennox' Halsbeuge gebettet, doch als das Taxi zum Stehen kam, hob sie den Blick. Die Sonne war dabei unterzugehen und sie verließen den Wagen. „Scorpio, du bist dran", raunte Ben Lennox zu und dieser nickte. An den Fahrer gewandt sagte er: „Sie vergessen, dass Sie uns mitgenommen und wir nichts bezahlt haben. Sie vergessen, dass wir Sie jemals angerufen haben." Der Mann blickte Lennox verwirrt an und Lennox erwiderte den Blick mit ebenso großer Verblüffung. Er wandte sich kurz nach links und rechts, bevor er ausholte und dem Fahrer einen harten Schlag ins Gesicht verpasste.
Der Mann sackte bewusstlos in seinem Auto zusammen.

„Scorpio!", riefen Ben und Sammy wie aus einem Munde.

Alea sah ihn sprachlos an. Auch Lennox konnte wohl kaum glauben, was er soeben getan hatte. „Er hat nicht vergessen", verteidigte er sich. „Er muss ein halber Meermensch ohne Raffnarben sein."

Alea brauchte einen Moment, um diesen Satz zu verarbeiten. Dann fiel ihr Blick auf den Fahrer. Er hatte weder Knubbel zwischen den Fingern noch hinter den Ohren, so wie Lennox, bevor er Alea den Herrinnenschwur geleistet hatte. An seinem Gesicht konnte sie nichts ungewöhnliches feststellen, aber das musste noch lange nichts heißen! Hatten sie es hier tatsächlich mit einem halben Meermann zu tun, der ihnen womöglich helfen konnte?

„Wieso musstest du ihn gleich k.o. schlagen?", verlangte Ben zu wissen.

Lennox zuckte mit den Schultern. „Wenn er über seine Herkunft Bescheid gewusst hätte, dann hätte er Alea, Siska und mich viel früher als verschollene Meerkinder erkannt und nicht so ein Gesicht gezogen. Er hat also keine Ahnung von nichts und nach dem Schlag kann er sich hoffentlich nicht mehr an meine Worte erinnern."

Siska nickte, als wäre diese Erklärung für sie durchaus plausibel.

Ben seufzte, als könnte er eh nichts mehr ändern. „Das nächste Mal fragst du aber erst, okay?"

Lennox grinste leicht. „Alles klar. Dann lasst uns mal vom ‚Tatort' verschwinden."

Sie hievten den Mann, der ein halber Meermensch war, ins Auto und schlossen die Tür. „Jetzt sieht es aus, als würde er schlafen", fand Sammy. „Irgendwie seltsam, ihn hier einfach liegen zu lassen. Ich mein, immerhin ist er ein Meermann!"

Auch Alea hätte ihn zu gerne ausgefragt, aber vermutlich hatte er wirklich keine Ahnung von nichts. Sie entfernten sich also von dem Auto und gingen zwei Straßen weiter.

„Okay, also wo sollen wir hin?", sagte Sammy und zupfte seinen Petticoat zurecht. „Es ist ja noch nicht Schlafenszeit." Als niemand antwortete, fügte er hinzu: „Wir können nicht ewig von der Crucis fernbleiben. Orion hat ja auch Besseres zu tun als die ganze Zeit an Deck zu chillen und Ausschau nach uns zu halten. Immerhin will er noch den Magischen-Virus und den DNA-Wandler für Thea machen." Er versuchte die Worte leichthin zu sagen, aber die Angst war ihm zwischen den Zeilen geschrieben. Auch Alea wollte sofort zu ihrem Schiff – aber höchstwahrscheinlich „chillten" da wirklich Orion oder seine Darkoner, die sie sofort dingfest machen würden.

Alea grübelte im Elvarion-Modus und versuchte dann Thea zu erreichen. Aber wie erwartet klappte es nicht, also kam sie zu einem anderen Schluss. „Ich rufe jetzt Cassaras an", teilte sie den anderen mit. „Er sucht doch nach Thea und hat garantiert schon bei den Anzeigesäulen gelesen, dass sie mit dem Gretzerkönig in Richtung Süden geflogen ist. Er hält sich daher irgendwo in der Nähe der Crucis auf und könnte uns sagen, ob Orion uns da auflauert."

Siska nickte und gab Alea ihr Handy. Zuerst erschrak Alea, weil dort ja vermutlich nicht seine Nummer eingespeichert war, aber wieder überraschte Siska sie mit ihrem phänomenalen Gedächtnis. Sie diktierte ihr die Nummer.

„Gut, hoffentlich ist er nicht gerade irgendwo im Wasser."

Sie versammelten sich um das Handy herum und warteten, bis jemand abnahm. Es dauerte eine Weile lang, doch dann hörte Alea, wie jemand am anderen Ende der Leitung „Ja?" sagte.

Sammy hob die Faust und formte mit den Lippen „Yes!" Alea war plötzlich auch ganz aufgeregt und sagte schnell: „Ähm, ja, hallo! Hier ist Alea."

Es war kurz still. „Aha. Was willst du?"

Alea fragte ihn, ob er in Rom nach Thea suchte. „Natürlich", antwortete Cassaras. „Bei allen Anzeigesäulen wurde genachrichtet, dass sie dort mit Orion hingeflogen ist."

„Und... haben Sie sie dort auch gesehen?"

„Nein, von Thea ist hier keine Spur. Ich bin auch weder Darkonern noch sonst irgendwelchen Leuten von Orion begegnet."

„Wo sind Sie genau?", hakte Alea nach.

Cassaras schnaubte. „Hattest du einfach mal Lust mich anzurufen oder gibt es sogar einen Grund dafür?"

„Wir denken, dass Orion bei der Crucis auf uns wartet und können deshalb nicht zurück." Alea holte tief Luft. „Wir wurden in Rom von Darkonern und zwei Hubschraubern verfolgt. Es ist also wahrscheinlich, dass Orion immer noch irgendwo dort ist und uns auflauert."

„Und jetzt willst du, dass ich zu eurem Schiff gehe und nachschaue?"

„Ähm, ja."

Sie hörte Cassaras leise lachen. „Ich soll also den ganzen Weg zum Meer zurückgehen, nur um euch dann zu sagen, ob Orion da ist oder nicht? Wenn er da ist, dann werden mich seine Darkoner bemerkt haben, bevor ich überhaupt beim Schiff angekommen bin. Ich würde sofort von ihnen geschnappt werden, und das kann Thea gerade überhaupt nicht gebrauchen."

Alea biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. „Ich hatte in Rom Kontakt zu Thea. Sie sagte, dass sie nach uns suchen würde. Höchstwahrscheinlich ist sie gerade auf dem Weg zum Wasser und ruft eine Finde-Finja, die sie zur Crucis bringt."

„Thea ist Orion entkommen?", wiederholte Cassaras und eine leise Hoffnung schlich sich in seine Stimme.

„Das wissen wir nicht genau. Aber es ist gut möglich! Wenn sie nun also bei der Crucis ankommt, dann findet sie niemanden vor – außer vielleicht Orion, aber ob er überhaupt da ist, ist nicht sicher. Wir müssen zurück zu unserem Schiff, Cassaras, ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Was glauben Sie, was Thea denkt, wenn sie uns nicht findet? Wir sind gerade an Land, also kann ihr eine Finde-Finja nicht aushelfen. Aber sie braucht uns!" Und ich brauche sie, fügte Alea in Gedanken hinzu.

Wieder herrschte für eine ganze Weile lang Stille. Alea konnte leise Stimmen von Menschen hören, die wohl gerade an Cassaras vorbeiliefen. Schließlich seufzte er tief. „Also gut. Ich ruf dich morgen noch mal an."

„Super, danke!", rief Alea und kurz darauf legte Cassaras ohne ein Wort des Abschieds auf.

„Er hat Ja gesagt?", wollte Sammy sofort wissen.

Alea nickte erleichtert. Im Grunde war es wirklich eine seltsame Bitte an ihn gewesen, aber wenn es um Thea ging, wurde Cassaras immer gleich zugänglicher. „Wir können nur hoffen, dass Orion nicht bei der Crucis ist", sagte Siska. „Und natürlich, dass Thea entkommen ist. Wenn Cassaras erfährt, dass alles für die Katz war... na ja."

„Und was machen wir, wenn wir nicht zurück können?", fragte Tess.

Alea hob die Schultern. „Dann sehen wir weiter."


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