Orions Schachmatt

Alea hörte Sammy aufschluchzen. Es war das einzige Geräusch, das für kurze Zeit herrschte. Orion sah sie einfach nur an, jeden einzelnen von ihnen, drehte sich dann um und lief ein paar Schritte. Sofort schien die Sonne wieder in Aleas Gesicht und sie schloss reflexartig die Augen. Sie fühlte, wie der Elvarion-Modus abebbte, und eine Träne rann ihre Wange runter. Sie verharrte einen Moment lang an ihrem Kinn, dann fiel sie nach unten auf ihre Hand. Als Alea die Augen halb öffnete, sah sie bloß gelbe, zackige Angst in dem Wassertropfen. Er floss über ihre Finger und verschwand in der sandigen Erde des Bodens.

Alea starrte auf die kleine feuchte Stelle. Sie zuckte zusammen, als Orions Stimme erklang. „Wo sind die anderen Anschu? Sie sollten längst zurück sein."

Er stand inzwischen wieder vor der Sonne, sodass Alea erkennen konnte, was vor ihr war. Oder besser gesagt, wer vor ihr war. Da waren die Darkoner, allerdings zur drei von der Zahl, Zeirus und noch zwei andere, die Alea schon mal gesehen hatte. Und da waren Jinx, Rix und der Zweimetermann, die allesamt gut sichtbar eine Pistole am Gürtel befestigt hatten. Und daneben waren die Meerkinder.

Es waren viele, mindestens zwanzig. Alea versuchte, welche wiederzuerkennen, suchte nach Nexon. Aber sie erkannte nur Yasin und Isla, die anderen hatte sie noch nie gesehen. Mussten sie alle dem Doktor gehorchen? Alea sah einen Oblivion. Er war bestimmt durch den Herrenschwur an Orion gebunden, aber die anderen? Sie hatten kein Gen, welches sie hörig machen ließ, ausschließlich zwei Stämme, Oblivionen und Darkoner, konnte man an sich koppeln. Wieso also gehorchten die anderen Orion?

Alea erinnerte sich an Islas Worte. Es hatte zweifellos so geklungen, als wäre sie ihm hörig. Aber das konnte doch nicht sein!

Gerade erhob Yasin die Stimme. „Die Anschu sind auf dem Weg hierher, es hat... Komplikationen gegeben."

Orion sah ihn und die anderen Kinder an. „Komplikationen? Es sollte keine Komplikationen geben." Er wandte sich nun zur Alpha Cru um. „Aber das ist nun auch nicht mehr wichtig. Ich habe nicht vor, mich hier lange aufzuhalten." Er sah Siska an. „Und du bist also die Tochter von Zeirus. Besonders viel Ähnlichkeit habt ihr ja nicht."

Siska funkelte ihn an, konnte aber durch den Knebel nichts sagen. Alea sah, wie Zeirus zur Seite blickte und die Lippen zusammenpresste.

Orion sprach schon weiter. „Du hast mir wirklich einen großen Nutzen gebracht. Na ja, jetzt brauche ich dich nicht mehr."

Alea wunderte sich. Inwiefern hatte Siska ihm nutzen können? Sie war ihm gar nicht hörig, das war sie nie gewesen.

„Bevor ich euch beseitige, möchte ich nur noch eines wissen. Wie hast du es geschafft", sagte Orion und wandte sich an Lennox, „wie hast du es geschafft zu entkommen? Du musstest mir gehorchen, Alea hat es dir befohlen! Und stattdessen hast du dich mit Thea, der Darkonerin und Aleas Mutter aus dem Staub gemacht..."

Lennox hatte man den Mund gestopft und konnte daher nicht antworten. Er hätte es aber wahrscheinlich auch nicht getan, hätte er gekonnt. Diese Vermutung wurde bestätigt, als Jinx den Lappen entfernte und Lennox den Doktor nur angrinste. Alea war erstaunt, wie gefasst Lennox war, aber sie konnte auch die Feindseligkeit in seinen Augen erkennen.

„Sag es mir!", donnerte Orion und Sammy, der neben Lennox saß, zuckte zusammen. Lennox schwieg abermals, wodurch er einen harten Schlag ins Gesicht bekam, den auch Alea zurückschrecken ließ. Lennox' Lippe war aufgesprungen und er spuckte Blut. Dennoch antwortete er nicht. Diesen Sieg wollte er Orion nicht gönnen.

Orion drehte sich abrupt zur Seite, bedeutete Jinx, Lennox wieder zu knebeln und ging zu Alea. Thea hob ihren Kopf von ihrer Schulter und starrte ihren einstigen Ziehvater zornig an. „Aber du weißt es doch, nicht wahr?", fragte Orion Alea. „Dein Oblivion hat es dir doch bestimmt brühwarm erzählt." Auch Alea bekam den Lappen aus dem Mund gezogen und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann entschied sie sich für: „Die Meerkinder gehorchen Ihnen, oder? Sie haben sie hörig -" Orion schlug ihr ins Gesicht und Alea fühlte wieder, wie ihr Tränen hochstiegen. Der Schlag hatte weh getan, sehr weh getan, aber sie wollte Orion nicht den Sieg gönnen, auch noch eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Sie spürte, wie sie sich wieder in den Elvarion-Modus begab. Er gab ihr die Stärke, weiterzureden. „Aber wie haben Sie das geschafft? Der Schwur wirkt bloß bei -" Sie konnte nicht weitersprechen, denn nun wurde ihr wieder der Lappen in den Mund gestopft.

Orion sagte nichts. Er schien sowieso seine heiteren Sprüche wegzuwischen, die Späße, die er mit Jinx trieb, er gab sich keine Mühe mehr, sich vor der Alpha Cru zu beweisen. Er erläuterte ihnen nicht seine genialen Pläne und die Dinge, die er gemeistert hatte, wie er es sonst immer tat. Er hatte einfach nur ausdruckslos zugeschaut, wie Lennox ihm ins Gesicht gegrinst hatte, und ihn anschließend geschlagen. Obwohl er ja sonst keine Gewalt anwendete...

Alea zog die Stirn in Falten. Da änderte sich Orions Miene jedoch und er lächelte hinter seinen großen Brillengläsern, als sei nichts geschehen. „Oh, Zeirus' Tochter war wirklich ein Geschenk des Himmels." Er schaute Siska liebevoll an, als sei sie seine Tochter. „Ich habe es geschafft, das Gen, das sie als Darkonerin hat, zu duplizieren und es den anderen Meerkindern einzupflanzen. Somit funktionierte auch bei ihnen der Herrenschwur prima und bequem, sodass ich meine eigene kleine Armee aufstellen konnte, die alle durch das Gegenmittel ins Wasser können, das du, Alea, mir durch dein Blut ermöglicht hast."

Alea starrte ihn sprachlos an und erwartete, dass Orion nun Applaus oder so was bekommen wollte, dass sie ihn anerkennen sollten. Aber Orion setzte nur wieder seine ausdruckslose Fassade auf. „Ich könnte das natürlich noch viel ausführlicher erklären, aber dafür hab ich keine Zeit und – ehrlich gesagt – auch keine Lust." Das passte mal so gar nicht zu ihm.

Alea blickte zu den Meerkindern, die das nicht zu überraschen schien. Sie bekam eine Gänsehaut. Die Kids konnten nicht älter als fünfzehn Jahre alt sein und mussten zur Schule gehen. Sie sollten bei ihren Pflegeeltern wohnen und nicht als Marionetten Orion dienen.

Als sie ihren Kopf nach rechts wand, sah sie, dass auch Lennox, Siska und Ben schockiert waren. Sie hatten anders als Sammy und Tess dem Hajara folgen können. Alea fragte sich selbst, warum sie nicht aus allen Himmeln fiel. Aber irgendetwas an ihrer Situation war so klar, so unveränderlich und so ausgangslos, so entgültig, dass sie gar nicht mal richtig dazu fähig war. Sie wusste, dass heute ihr letzter Tag war, sie wusste, dass Orion sie töten würde, sie und den Rest der Alpha Cru. Es war unvermeidbar.

Orion ergriff wieder das Wort. Diesmal sprach er Thea an. Oder besser gesagt, er gebärdete. Alea verstand nicht alles, aber im großen Ganzen fragte er sie ebenfalls, wie sie entkommen konnten. Er schien wohl echt nicht locker lassen zu wollen.

Da fiel Alea erst auf, dass Thea's Hände gar nicht gefesselt waren, sondern dafür ihre Beine. Sie sollte also jeder Zeit etwas gebärden können.

Es war schwierig von der Seite zu erkennen, was sie antwortete. Jedoch sah Orion nicht zufrieden aus, was wohl bedeutete, dass Thea ihm nichts verraten hatte. Er schlug sie jedoch nicht wie Alea und Lennox, sondern tigerte auf und ab, als würde er nachdenken. Dann sah er Alea an. „Ihr habt es weit gebracht", sagte er gefährlich leise, sodass seine Stimme beinahe nur noch ein Flüstern war. „Aber heute soll eure Geschichte enden, hier und jetzt, denn ihr seid Kinder, bloß naive, törichte Kinder, die es mit mir aufnehmen wollten. Ich habe euch zu oft verschont, ich habe euch sogar euer Schiff gelassen, damit ihr weiter Piratenbande spielen konntet, nachdem Lennox eure Erinnerungen gelöscht hatte. Ich habe euch ermöglicht, ein normales Leben zu führen, frei zu sein, ohne irgendwelche Sorgen! Aber ihr habt die Chance nicht ergriffen." Sein Blick streifte nun den Rest der Cru. „Ihr wolltet euch ja mit mir anlegen, obwohl es von Anfang an hoffnungslos war. Ich muss zugeben, ihr konntet viel auf die Beine stellen, ihr habt vieles erreicht und es fast geschafft..." Orion schüttelte den Kopf. „Zeit, dem ein Ende zu setzen. Ihr habt euch lang genug gegen mich gestellt. Du hast lang genug gelebt, Alea. Die Meerwelt hat lang genug von einer Auferstehung fantasiert. Der magische Dreck hat sich zu oft gegen mich und meine Leute gestellt, das wird nun ein für allemal aufhören!"

Alea wartete darauf, dass er etwas zu seinem neuen Virus sagte, aber als dies nicht geschah, bat Alea ihre Schwester in Gedanken: Frag ihn, ob er tatsächlich einen Virus erschaffen hat, der die Magischen ausrotten soll. Alea wollte dieses Rätsel noch gelöst haben, was oder wen genau der Virus angriff. Bevor es zu spät war und sie...-

Der Elvarion-Modus wischte die Gedanken, die nun gefolgt hätten, beiseite und konzentrierte sich aufs Hier und Jetzt. Thea neben ihr machte auf sich aufmerksam, indem sie mit der freien Handfläche auf den Boden schlug. Orion blickte zu ihr und sie begann etwas zu gebärden.

Daraufhin verzog Orion das Gesicht leicht und sagte nur, während er gebärdete: „Der Virus ist leider etwas... mangelhaft. Er führt nicht ganz zu den gewünschten Ergebnissen."

Theas Hand griff nach der von Alea. Also sterben sie vielleicht doch nicht!, meinte sie und Alea hörte ein leichtes Lächeln heraus. Sie selbst hatte zwar nicht die Antwort auf ihre Frage bekommen, sie wusste immer noch nicht, was der Virus verursachte, aber es bestand die Möglichkeit, dass die Magischen zwar Teile ihre Magie verloren, aber nicht vollkommen starben.

Doch ihre Freude hielt nicht lange. Orion zog nun nachdenklich eine Pistole hervor und sagte: „Ich wünschte wirklich, es wäre anders gekommen. Du, Alea, wir beide hätten so viel gemeinsam erreicht. Lennox, es ist leider überaus tragisch, dass du letztendlich Alea den Herrenschwur geschworen hast, Nelani, Tochter der Annula und des Bilor, wer weiß, zu welchen medizinischen Erkenntnissen wir gekommen wären. Ihr drei, Tess, Ben und Knirps, könntet sorgenlos auf dem Meer herumschippern, hättet ihr euch nicht Alea angeschlossen." Er hatte den letzten Satz auf Deutsch gesagt.

Orion schüttelte den Kopf, als täte es ihm wirklich leid, sie alle umzubringen. „Ihr beide", schloss er dann und wies auf Thea und Mio, „ihr wärt mir durch eure Gabe, Stimmungsspiele zu erkennen, wirklich nützlich gewesen. Dich, Mio, werde ich auch noch gut gebrauchen können, aber du, mea Thea..." Orion lächelte sie an und sagte nichts weiter zu ihr. „Ich wünschte, es wäre anders gekommen." Alea hatte diesen Satz schon oft heute gehört.

Orion schaute nun wieder sie an, abwechselnd mit der Pistole in seiner Hand. „Du warst mir eine würdige Gegnerin, Alea, Tochter der Nelani und des Keblarr, aber jede Geschichte hört irgendwann auf. Und heute ist dein Ende gekommen, Elvarion der letzten Generation." Hinter seiner Fassade leuchtete wieder das alte Orion-Lächeln auf und er hob langsam den Arm. „Ich hoffe, du bist mir deshalb nicht allzu böse."

Mit diesen Worten drückte er ab.

Plötzlich geschah alles so schnell. Alea hörte einen Knall, einen lauten, ohrenbetäubenden Knall, im nächsten Augenblick schlug sie mit dem Kopf auf dem Boden auf. „Alea!", hörte sie jemanden schreien. „Alea!" Sie sah ein Gesicht über ihr, ein verschwommenes Gesicht, das sie nicht gut erkennen konnte. In ihrem Kopf hörte sie jemanden sprechen, sie verstand es nicht, sie fühlte sich taub, sie fühlte sich leer, alles in ihr schrie und verstummte und schrie...

Alea öffnete den Mund und versuchte etwas zu sagen, doch er blieb offen und brachte keinen Laut hervor. Da sah sie noch jemanden über ihr, Alea konnte ihn nur unscharf erkennen, aber die azurblauen Augen sahen ihr tief in die Seele und spiegelten ihren inneren Schmerz wieder. Lennox, dachte Alea. Es ist... Lennox.

Sie versuchte sich zu erinnern, zu erinnern, wer Lennox war und was sie mit ihm verband. Da war aber nur noch diese Leere in ihr, die den Namen verschluckte, die alles erbarmungslos verschluckte.

Weit entfernt, wie aus einem Traum, hörte sie Stimmen, doch sie verstand sie nicht. Sie verstand gar nichts mehr. Eine eiskalte Hand griff nach ihr, zerrte und zog, ließ nicht locker, trug sie fort, weit fort von dem Ort, wo sie sich befand, immer weiter und weiter.

Dann, plötzlich, wieder der Name. Lennox. Ein Gedanke, der sich ihr plötzlich zeigte, eine Erinnerung aus vergangener Zeit...

Ich... hab gedacht, du stirbst."

Es tut mir so leid." Lennox umschlang sie mit seinen starken Armen, und ihr Kopf fand in seiner Halsbeuge Halt.

Sag nicht, dass es dir leidtut", entgegnete sie. „Sag, dass du nicht vor mir sterben wirst."

Was?" Er schien sich losmachen und sie anschauen zu wollen, aber sie drängte sich noch enger an ihn.

Versprich mir, dass ich eines Tages, wenn es so weit ist, zuerst sterben darf", wisperte sie und meinte jedes Wort genau so, wie sie es sagte. „Ich will nicht ohne dich leben."

Lennox lag ganz still, und nun hätte Alea doch gern sein Gesicht gesehen. Sie wusste, dass ihr Wunsch egoistisch war. Sollte er in Erfüllung gehen, musste Lennox nach ihrem Tod ohne sie leben, und für ihn war das gewiss kein bisschen weniger schlimm als für sie. Doch sie gestattete sich diesen Augenblick der Schwäche, denn sie wollte, dass Lennox erfuhr, wie sehr sie ihn liebte.

Ich verspreche es", erwiderte er leise. „Eines Tages, wenn es so weit ist, darfst du zuerst gehen, Yavani."

Dass dieser Tag so früh kommen sollte, hatte Alea noch nicht geahnt.

Ich darf nicht sterben, dachte sie. Es war der letzte Gedanke, den sie hatte, die letzte Erkenntnis, der letzte Wunsch an sie, das Schicksal, das Leben, den Tod. Ich darf nicht sterben.

Ihr Herz schlug ein letztes Mal.

Dann versank Alea in tiefer Dunkelheit und die Welt um sie herum hüllte sich in Schweigen.


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