Gemischte Gefühle

Alea stand an der Bug und blickte auf das kunterbunte Meer. Die Gischt schäumte, als vereinzelte Wellen gegen die Crucis schlugen und ein leichter Wind wehte Alea immer wieder ihre Haare ins Gesicht. Schon lange war nirgends mehr ein Landstreifen zu sehen.

„Glaubst du, dass wir hier eine Lafora finden könnten?", fragte Lennox, der neben ihr ihre Hand hielt. „Weit genug von den Landgängern sind wir ja entfernt."

„Womöglich", antwortete sie. „Wargebracht hatte gesagt, dass es immer noch welche in den Ozeanen gibt."

„Wenn wir Orion bei einem Emotions-Tribunal richten wollen, brauchen wir aber noch mehr Magische, die wegen ihm leiden mussten."

„Von denen leben bestimmt viele im Meer", murmelte Alea.

„Allerdings haben sie nie direkt wegen ihm gelitten. Nur durch den Müll und den Verlust der Meermenschen."

Alea sah ihn fragend an. „Du meinst, wir brauchen Meermenschen, die wegen des Virus ihre Familie und Heimat verloren haben?" Lennox nickte. „Aber wenn diese Meermenschen mit unter Wasser kommen, dann sterben sie!"

„Nicht alle", erwiderte er mit einem leichten Lächeln.

„Nelani!", fiel Alea ein.

„Wegen Orion musste sie dich und Thea abgeben, weil sie sich mit dem Virus infiziert hatte. Dann verlor sie dich auch noch in Brügge und Brighton. Wegen seinem Virus wurde sie von Keblarr getrennt. Wenn man also einen Meermenschen braucht, dann Nelani!"

„Aber wo könnten wir uns treffen? Sie ist ja gerade bei Keblarr und kann bestimmt nicht so schnell hier aufkreuzen." Alea beobachtete einen besonders bunten Fleck im Wasser. „Und sich noch einmal von Keblarr zu trennen, ist bestimmt auch nicht der Knüller."

Lennox fuhr sich mit seiner freien Hand durch die Haare und schwieg für ein paar Sekunden.

„Wenn sie sich heute oder morgen mit Keblarr auf eine Fähre begibt und den schnellsten Weg nach Norderney nimmt, dann sind wir zur ungefähr gleichen Zeit dort."

Ungefähr", wiederholte Alea.

„Oder sie wandert mit Walen und folgt einer Finde-Finja zu uns. Und Keblarr kann dann nach Norderney fahren", schlug Lennox vor.

„Mein Vater hat sich noch nicht sonderlich mit den Landgängersachen angefreundet, ich glaube nicht, dass er es mitmachen würde, allein auf einem Schiff auf dem Meer zu fahren."

„Oder er bleibt ein paar Tage lang allein, das wird er sicher aushalten." Da musste Alea zustimmen.

„Ich ruf sie mal an", sagte sie, nahm ihr Handy raus und wählte die Nummer ihrer Mutter. Es dauerte ein bisschen, bis sie abnahm.

Misch, Alea!", ertönte Nelanis Stimme.

„Hey Mama." Alea hielt sich mit einer Hand ihr Ohr zu, um ihre Mutter besser zu hören. „Bist du mit Keblarr immer noch auf Island?"

„Ja, warum?"

Alea erzählte es ihr und endete mit den Worten: „Wir bräuchten dich also dringend, damit das Tribunal wirksamer wird. Könntest du vielleicht in den nächsten Tagen zu uns schwimmen?" Es war still am anderen Ende der Leitung und sie befürchtete schon, dass Nelani nicht kommen wollte.

„Und wann soll ich da sein?", fragte sie dann nach einer gefühlten Ewigkeit. Alea atmete erleichtert aus.

„Sobald du kannst. Wenn du mit Walen wanderst und einer Finde-Finja folgst, bist du bestimmt schnell bei uns!"

„Moment, ich frage mal Keblarr." Es dauerte wieder ein bisschen.

„Sie wird kommen, oder?", flüsterte Lennox. Alea nickte.

„Dein Vater ist einverstanden", kam es vom anderen Ende der Leitung. „Ich kann gleich heute aufbrechen."

„Super, danke, Mama!", freute sich Alea und zeigte Lennox ein Daumenhoch-Zeichen.

„Und dir geht es gut? Orions Entführung war reibungslos verlaufen?", fragte Nelani.

„Alles bestens."

„Ich hätte wirklich zu gern sein Gesicht gesehen", sagte Nelani und man hörte sie leise lachen. „Ich freue mich schon darauf, euch wieder zu sehen. Und wenn alles klappt, könnten wir Keblarr gleich das Gegenmittel injizieren, sodass er auch kommen kann."

„Das wird schon", meinte Alea zuversichtlich.

„Also, passt auf euch auf, ja? Sag Lennox, dass er vorsichtshalber Skorpionfische rufen soll, falls Zeirus' Männer in eurer Nähe sein sollten."

„Mach ich. Vielen Dank noch mal. Es kann ja eigentlich gar nichts mehr schiefgehen!"

„Hoffentlich", erwiderte Nelani. „Also, bis bald!"

„Tschüss!" Sie legte auf und sah Lennox mit gehobenen Mundwikeln an. „Erzählen wir es den anderen", schlug sie vor. Zur Antwort bekam sie lediglich sein typisches, leicht schräges Lennox-Grinsen.

Alea lag in ihrer Koje und hörte dem leisen Rauschen des Meeres zu. Die Crucis schaukelte leicht und über ihr lag Tess, die immer wieder ihre Position änderte und sich wälzte. Sie konnte wohl genauso wenig einschlafen wie Alea.

Es folgte eine kurze Pause, in der das Bett nicht mehr knarzte.

„Tess?", fragte Alea leise und ohne viel nachzudenken.

„Hm?"

„Bist du sauer auf mich?"

„Bei einer Skala von eins bis zehn? Drei."

Alea wusste nicht so richtig, ob sie erleichtert sein sollte, da sie gedacht hatte, dass Tess wegen des Vorfalls immer noch enttäuscht und wütend sein würde. Sie beobachtete den Hubbel, der durch ihr Gewicht bei der Matratze entstand. „Ich habe ein bisschen nachgedacht", sagte sie dann. „Ich glaub, du hast recht. Wenn Orion sich nicht bei einer Lafora verändern wird, dann werde ich ihn mit Lennox dazu zwingen."

„Versprichst du das?"

„Ich versuch's", gab Alea zu.

„Na super", brummte Tess. „Jetzt haben wir ihn noch eine ganze Weile an der Backe, wenn Nelani wirklich kommen muss."

„Muss sie. Schließlich wären Lennox und ich nur zwei Personen beim Emotions-Tribunal und das reicht ganz sicher nicht, um das nötige Leid Orion spüren zu lassen."

Man hörte es noch einmal knarzen und im nächsten Augenblick lugte Tess' Kopf von oben aus dem Bett. „Ich weiß nicht, ob ich das noch erleben werde", sagte sie dann. „Schließlich holen mich meine Eltern bald ab... beziehungsweise nur ein Elternteil."

Alea war für einen kurzen Augenblick sprachlos, weil sie das völlig vergessen hatte. Für Tess begann wieder die Schule und somit konnte sie nicht länger bei der Alpha Cru bleiben. Und wenn sie zu Norderney segeln wollten, dann würden sie an Frankreich vorbei kommen.

„Aber das geht doch nicht!", protestierte Alea. „Wir stehen kurz vor unserem Sieg! Wenn wir Orion gerichtet haben, dann ist alles vorbei und wir können wieder ganz normal durch die Meere schippern, die Meerkinder können in ihre Heimat zurück und alles wird gut! Da kannst du nicht einfach verschwinden!"

Tess senkte betroffen den Kopf. „Ich wünschte auch, es wäre anders."

„Bleib doch noch zwei oder drei Wochen", bat Alea, obwohl sie wusste, dass das sinnlos war. Tess konnte das schließlich nicht entscheiden. Und die Schule zu schwänzen käme nicht infrage. „Vielleicht kannst du hier Unterricht bekommen, so wie Sammy."

„Wir sehen uns auf jeden Fall in den nächsten Ferien wieder. Zwei Wochen, die wir zusammen verbringen können!"

„Ich will nicht, dass du gehst!", erwiderte Alea verzweifelt.

„Ich versuch, nicht darüber nachzudenken. Dann kann ich die letzten Tage mit euch wenigstens genießen, anstatt Trübsal zu blasen, weil ich bald wieder gehen muss."

„Wenn du wirklich zurück zur Schule gehst", sagte Alea, „dann werden wir uns jeden Tag schreiben, ja? Ich werde dich immer auf den neusten Stand bringen."

„Bei mir wird es wohl nichts zu berichten geben", meinte Tess seufzend. „Aber bis zu den Herbstferien ist es ja nicht mehr so lang..."

„Hoffentlich." Alea versuchte, ihren Kloß im Hals herunterzuschlucken.

Es funktionierte nicht.

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