Die Wellen der Zeit
Es war eine enorme Macht, die Alea mit sich riss, fort, ins Jenseits, ins Dunkel. Eine eisige Kälte durchfuhr Alea, die Schmerz mit sich brachte, und sie unfähig machte, irgendetwas zu tun oder zu denken. Sie wurde umher geschleudert, von allen Seiten zerrte die Leere an ihr, Sekunden, Minuten, Stunden, und Alea verlor jegliches Zeitgefühl.
Bis es mit einem Mal aufhörte.
Alea erwachte in einer ihr fremden Welt. Sie war kurz wie betäubt und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da erinnerte sie sich plötzlich an alles wieder. An Orion, an die Meerkinder, an die Alpha Cru, Thea, Lennox... Es war schwierig, zu denken. Ihr Kopf war vernebelt und schon verschwanden die Gesichter wieder. Je mehr sie sich anstrengte, desto ferner wurden sie, als versuchte Alea, sich an einen Traum zu erinnern.
Sie war gestorben. Und hier war sie also, im Jenseits. Sie richtete sich wankend auf.
Alea war in einem runden Raum aufgewacht, eher in einer Art Kuppel, die aus Glas zu bestehen schien, das an mehreren Stellen Sprünge und Risse hatte. Durch das Glas hindurch sah man zu allen Seiten hin eine Art Galaxie; Millionen von kleinen Lichtern, die alle unterschiedlich hell leuchteten und die einzige Lichtquelle in der ganzen Kuppel war. Alea hatte das schon einmal gesehen – im Raum der Ahnen, bei der Loreley, war ebenfalls überall diese Galaxie gewesen. Im Zentrum dieser Kuppel war eine Art Springbrunnen – nur ohne Wasser. Er bestand aus hellem, weißen Material, das Alea nicht zuordnen konnte, aber an vielen Stellen dunkle Flecken hatte. Über dem Brunnen war eine spiralförmige Öffnung im Glas, wie ein Schneckenhaus, aus dem ab und an eine kleine, leuchtende Kugel, die Alea an Jarias erinnerte, in den Brunnen tropfte. Unterhalb des Brunnens verliefen im Boden kleine Tunnel in alle Richtungen, bis hin zum Ende der Kuppel, wo die Kugel in die unendlichen Weiten der Galaxie entlassen wurde. Alea trat vor, bis sie in den Brunnen blicken konnte. Sie sah bloß ein tiefes Schwarz, das nie aufzuhören schien und schier ewig war.
Alea wollte hineinfassen – da bemerkte sie, dass sie es gar nicht konnte. Sie hatte keine Hände, keine Arme, und als sie an sich herunterblickte, konnte sie keinen Körper erkennen. Sie selbst war eine von den Lichtkugeln.
Da fiel eine eben solche Kugel in den Brunnen, erhellte die darin enthaltene Dunkelheit und floss in einem Tunnel fort. Alea folgte ihm und sah, dass die Kugel, als sie in die Galaxie geleitet wurde, zu einem der unzähligen Sterne wurde.
Alea starrte auf den leuchtenden Punkt, der reglos verharrte. Da sah sie, wie sich etwas weiter eine Lichtkugel in Bewegung setzte. Sie sank nach unten, zu einem der unterirdischen Tunnel hin, dort gelang sie zurück zum Brunnen und schwebte von dort aus nach oben. Die Öffnung im Glas verschluckte das Licht, und mit einem mal war es wieder ganz dunkel im Brunnen.
Alea wartete darauf, dass die Kugel zurückkam. Sie wartete ein paar Minuten, da kam ein neues Licht in den Brunnen gefallen und nahm seinen Platz in der Galaxie ein. Alles fing wieder von vorne an.
Alea erschrak furchtbar, als sie in der Stille plötzlich hinter ihr jemanden sprechen hörte. „Hier gelangen die Seelen der Verstorbenen in das Reich der Toten." Alea drehte sich um und suchte den Raum nach der Ursache für die Stimme ab. Sie konnte erst nichts erkennen, da schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit und trat auf sie zu.
Alea konnte nicht recht sagen, was sie vor sich sah. Das Wesen schien jede Sekunde seine Gestalt zu wechseln, und blieb doch bestehen. Mal glich sein Aussehen einem Menschen, mal einer Art Tier, das Alea nicht kannte. Einmal, so kam es Alea vor, nahm das Wesen die Gestalt eines Tasfaren an, doch dann sah es wieder anders aus und sie konnte nicht beschwören, was sie gesehen hatte.
Das Wesen sprach abermals. „Durch die Schächte nimmt jede einzelne Seele seinen gerechten Platz ein, genau den, der ihm zusteht, und lebt fortan dort weiter. Bis sie gerufen wird, bleibt sie dort, körperlos, und mit nichts weiter als Erinnerungen."
Alea hatte das Wesen lange schweigend beobachtet, aber nach einer Weile musste sie blinzeln und wegsehen. „Wer bist du?", fragte sie schließlich.
Es nahm nun die Gestalt einer großen Schildkröte mit spiralförmigem Panzer an, und blieb ein paar Sekunden so, bis es wieder wechselte. Alea fiel auf, dass das Gesicht immer dasselbe war, alles andere veränderte sich.
Das Wesen lief an Alea vorbei zu dem Brunnen. „Ich bin die Wächterin der Welten", antwortete es nach einer Weile, in der es in das tiefe Schwarz geblickt hatte. „Ich sorge für Ordnung, sowie in diesem, als auch im Reich der Lebenden. Ich sorge dafür, dass die Wellen der Zeit erhalten bleiben und alles seinen Lauf nimmt, dass die Zukunft nicht ins Ungewisse hinausläuft. Ich sorge dafür, dass niemand hier eindringen kann, dass niemand die Ruhenden stört, ich sorge dafür, dass die Grenze zwischen den beiden Reichen erhalten bleibt. Ich", sagte das Wesen und richtete seine Augen wieder auf Alea, „bin die Talassiopa."
Alea hatte dieses Wort schon mal gehört. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich erinnern konnte. Damals, als sie im Rhein vor Orion und seinen Darkonern geflüchtet waren, hatte einer der Tasfaren, auf denen sie geflohen waren, gemeint, er müsse sich mit der Talassiopa verbinden, um an Weisheiten und Prophezeiungen zu gelangen. Davor hatte die Loreley auch einmal die Talassiopa erwähnt, aber was genau sie zu ihr gesagt hatte, wusste Alea nicht mehr.
Die Talassiopa sprach schon weiter und ihre dunklen, traurigen Augen blickten die ganze Zeit auf Alea. „Du bist seit vielen Jahren die einzige, die dieses Reich innerhalb der Grenze betritt. Es ist lange Zeit her, dass das jemand vor dir geschafft hat. Die Loreley hat mir von dir erzählt, Alea Aquarius, Elvarion der letzten Generation." Bei der Erwähnung der Loreley hellte sich ihr Gesicht etwas auf. Alea fragte sich jedoch, wie die Talassiopa sie hatte erkennen können. „Aber die Grenze ist instabil geworden. Sowie die Wellen der Zeit, als auch das Portal wurden beschädigt, und die Zerstörung breitet sich immer weiter aus."
Sie schüttelte traurig den Kopf und wechselte wieder für einige Zeit in die Schildkröte mit dem spiralförmigen Panzer. Alea wagte zu fragen: „Was sind die Wellen der Zeit?"
„Die Wellen der Zeit sorgen für die Existenz der Meerwelt", antwortete die Talassiopa. „Nur mit ihnen können die Meermenschen und die Magischen fortbestehen. Die Wellen der Zeit sehen Dinge, die in der Zukunft passieren werden. Dadurch können sie mögliche Vorkehrungen treffen – etwa neue Stämme für die Meermenschen erschaffen, wie die Brim oder die Oblivionen..." Die Talassiopa berührte das zersprungene Glas, hinter dem die Galaxie lag. Ein paar Seelen leuchteten kurz auf. „Ohne Zeit kann nichts bestehen. Was wäre, wenn sie plötzlich anhielte? Wenn der Lauf der Dinge plötzlich unterbrochen würde? Ein Stillstand und die absolute Auslöschung aller magischen Wesen, die noch existieren..."
Alea fröstelte und blickte zu dem hellen Licht, das im nächsten Moment durch die Öffnung in den Brunnen fiel. Es blieb deutlich länger dort, bis es durch einen der Schächte in die Galaxie geleitet wurde. Dort leuchtete er als hellste Seele weit und breit.
Alea zog die Augenbrauen zusammen und mit einem mal wurde ihr noch kälter, als ihr sowieso schon war. Die Seele – bedeutete sie ein neuer Toter? Ein toter Magischer – oder ein Meermensch? Lennox, dachte sie und starrte den Punkt an. Das konnte nicht sein, nein, nein, nein, nicht Lennox! Sie ging zu der Seele, die frisch und hell leuchtete. Das durfte einfach nicht Lennox sein, das durfte nicht wahr sein... Alea wandte sich zur Talassiopa um. Vielleicht war es auch nicht Lennox. Vielleicht... Thea, Mio, Siska und Nelani sind auch Meermenschen, dachte Alea wie betäubt.
„Wer ist das?" Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. Die Talassiopa drehte sich zu ihr um und lief sie zu ihr. „Wer ist das?", wiederholte Alea und hatte Angst vor der Antwort.
„Es ist mir nicht gestattet, dies zu sagen", entgegnete die Talassiopa ruhig und nahm für kurze Zeit die Gestalt eines Seh-Saffiers an. „Aber sei unbesorgt, es ist niemand deiner Freunde."
Alea fiel ein riesiger Felsbrocken vom Herzen und sie starrte erleichtert auf das Licht. Vermutlich war es ein Magischer, einer der Völker, die ausstarben, wie die Wribbels, die man nicht mehr brauchte. Also lebten die anderen der Alpha Cru noch?
„Noch ist die Grenze intakt", sagte die Talassiopa und richtete ihren Blick wieder auf Alea, „aber sie ist schon so instabil, dass sie jederzeit zu zerbrechen droht. Die verstorbenen Seelen finden dann ihren rechten Weg nicht... das Portal zerbricht und die Wellen der Zeit werden nach und nach zerstört..."
„Aber warum?" Sie hatte Alea erzählt, welche entscheidende Rolle die Wellen der Zeit spielten, und was geschehen würde, wenn sie nicht mehr existierten. Aber warum wurden sie nach und nach zerstört?
„Eine Krankheit hat sie überfallen", lautete die Antwort. „Eine Krankheit, die die Grenze angreift, die das Portal angreift, die mich und die Wellen der Zeit angreift. Eine verheerende Krankheit, und der Mann, der sie ausgesetzt hat, weiß nicht, was für Folgen sie hat..."
Alea schaute sie perplex an. Die Talassiopa musste von Orions Virus sprechen. „Aber sind denn nicht bloß die Magischen davon betroffen?"
„Die Magischen sind nur die kleinste Folge." Sie strich über das zersprungene Glas. „Die Wellen der Zeit können ebenfalls als Quelle genutzt werden – unter anderem als Quelle für Informationen, sowohl über die Gegenwart, als auch die Zukunft." Alea hörte ihr verwundert zu. „Viele Magische greifen über mich auf ebendiese Informationen zu. Tasfaren erhalten Prophezeiungen, die sie weitergeben können. Gilfenmagie, die Anzeigesäulen nachrichtet, greift ebenfalls auf mich zu, damit Informationen bestehen und verbreitet werden können. Bei Skorpionfischen", fuhr sie fort, „ist es gerade andersrum – sie tarnen Informationen, sowie sichtbare, als auch unsichtbare. Der Silberumhang des Nixenvolkes und der Goldumhang der Schweige-Schamire wären nur einfache Gewänder, wären sie nicht direkt mit den Wellen der Zeit verbunden. Aber nicht nur Informationen geben sie preis."
Alea dachte darüber nach, was sonst alles Magische nicht funktioniert hat. Die Minutenringe, die Finde-Finjas, die nicht mehr finden konnten. „Und Wandererbotschaften?", fragte sie. „In letzter Zeit kamen auch keine Botschaften mehr an."
„Für Meermenschenmagie bin ich nicht zuständig." Die Talassiopa blickte sie bewegungslos an. „Sie müssen vorzeitig erloschen sein, oder jemand hat sie abgefangen."
„Abgefangen?", wiederholte Alea verwundert. Sie wusste nicht, dass man Wandererbotschaften abfangen konnte. Der Weg über das Wasser war jedoch so kurz gewesen, dass die Botschaften in der Zeit unmöglich erloschen konnten. Also kamen sie nicht an, weil jemand sie daran gehindert hatte... nur wer?
Alea blickte auf die leuchtenden Seelen und dachte nach. Dann fiel ihr eine andere Frage ein. „Warum bin ich hier? Warum bin ich nicht auf der anderen Seite... hinter dem Glas?"
„Glas? Was soll das sein?" Die Talassiopa blickte sie verständnislos an und Alea fragte sich, wie ein so mächtiges Wesen nicht wissen konnte, was Glas war.
Sie wies auf das Nicht-Glas, das die Galaxie von ihnen trennte. „Du bist in der Grenze geblieben", sagte die Talassiopa. „Du hattest einen starken Willen, am Leben zu bleiben, wusstest du das? Aber das kann nicht alles sein..." Sie schloss die Augen, wurde wieder zu der Schildkröte. Vermutlich war dies ihre eigentliche Form. „Ich spüre, dass du dem Tod bereits begegnet bist", murmelte sie nach einer Weile. „Du bist schon einmal mit ihm in Berührung gekommen, gerade, als er eingetreten ist."
„Marianne...", flüsterte Alea.
„Es muss dir geholfen haben, nicht von den Wellen der Zeit erfasst zu werden.", sagte die Talassiopa, „aber da die Grenze zwischen den Reichen durch die Krankheit instabil geworden ist, war es sicherlich auch leichter, hierher zu gelangen."
Die Galaxie schien also nichts anderes zu sein als die Wellen der Zeit. Alea blickte noch einmal hinein und konnte nun ein paar Bewegungen ausmachen. Die Seelen schienen immer an derselben Stelle zu sein, aber das Dunkel um sie herum wiegte stets hin und her.
Aleas Blick fiel wieder auf die Seele, die immer noch am hellsten leuchtete. „Und... komme ich jetzt auch dort hin?"
Die Talassiopa sah sie schweigend an und sie sagte eine ganze Weile nichts mehr. Sie schritt durch den Raum und blieb bei dem Brunnen stehen. Sie sah einer Seele zu, die durch die Öffnung in das Dunkel fiel und durch die Schächte in die Wellen der Zeit geleitet wurde. Sie leuchtete aber nicht ansatzweise so hell wie die vorherige.
Alea dachte schon, dass sie gar nichts mehr antworten würde, da sagte die Talassiopa: „Dieses Reich liegt im Sterben. Und sobald es vollkommen verblasst ist, wird kein magisches Wesen mehr existieren, kein Meermensch, und die Ozeane werden vollends aufgegeben." Sie blickte zu Alea. „Ich greife eigentlich nicht in das Geschehen ein, ich habe nichts unternommen, als Aquilius Orion eine Krankheit ausgesetzt hat, die die Meermenschen dahinraffen lässt, ich habe nichts gegen die neue Krankheit ausgesetzt, als ich noch nicht wusste, welche Konsequenzen sie mit sich tragen würde. Die Zeit schreitet voran und jedes Eingreifen könnte ein Risiko darstellen, den Wellen der Zeit zu schaden." Alea wusste nicht, worauf sie hinauswollte. „Aber das Risiko, der Zeit ihren Lauf zu lassen, ist noch viel höher. Es bedarf jemanden, der die Krankheit hindert, weiter vorzudringen. Die Wellen der Zeit müssen bestehen bleiben, sonst..." Die Talassiopa stockte kurz. „Du bist eine Elvarion. Du musst dafür sorgen, dass die Krankheit eliminiert wird, und außer dir weiß nur die Loreley davon. Sie wird jedoch im Raum der Ahnen gebraucht."
„Aber wie soll ich das schaffen?", fragte Alea und wieder lastete das schwere Gewicht auf ihren Schultern, das sie wie sooft als Elvarion verspürte.
„Du musst leben", lautete die Antwort. „Aber nur, wenn du das möchtest. Ich kann dich zu nichts zwingen, es muss deine Entscheidung sein. Also frage ich dich: Möchtest du in das Reich der Lebenden zurückkehren und der Krankheit ein Ende setzen, oder möchtest du hier bleiben und in die Wellen der Zeit untertauchen?"
Alea musste nicht lang überlegen. „Ich möchte zurückkehren und mein Bestes versuchen, die Krankheit aus dem Weg zu schaffen."
„Versuche nicht nur dein Bestes. Du musst das hinkriegen."
Alea versuchte, sich nicht von der Verantwortung niederdrücken zu lassen. Wie konnte sie Orions Virus aufhalten? Gab es womöglich auch ein Gegenmittel dazu? Sie nickte jedoch und sagte: „Ich verspreche, die Zerstörung aufzuhalten."
„Versprich es nicht, schwöre!"
„Ich schwöre." Die Talassiopa blickte Alea eine Zeit lang an, und Alea dachte schon, dass sie sich umentscheiden würde, dann brachte sie Alea zu dem Brunnen.
„Es wird nicht schmerzfrei sein, wieder zurückzukehren. Und du wirst auch nicht komplett unter den Lebenden weilen, jedenfalls vorerst nicht. Es wird lange Zeit brauchen, bis du dich erholt hast." Sie hielt Alea, die nach wie vor in Form einer kleinen leuchtenden Seele war, in der Hand unter die schneckenhausartige Öffnung.
„Möge dich stets guter Wellenschlag begleiten", sagte die Talassiopa, und bevor Alea etwas erwidern konnte, hatte sie schon losgelassen.
Die Kälte ergriff Besitz von Alea und im nächsten Moment hatte die Dunkelheit sie verschluckt.
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