Lepus
Als der Zug langsam hielt, konnte Alea nichts mehr aufhalten, sofort nach draußen zu sprinten und nach der Alpha Cru zu schauen. Sie befanden sich bereits in Rom, einer netten Stadt mit vielen Leuten und Geschäften. Ihr Blick wanderte von der Ecke, zur anderen. Und dort! Dort waren Tess und Sammy!
Der Neunjährige hatte sie sofort bemerkt, so schnell entging ihm nie etwas. Er stürmte auf sie zu, die Arme weit von sich gestreckt.
„Schneewittchen!!!" Freudig sprang er zu ihr, und wenn Lennox sie nicht gehalten hätte, wäre sie umgekippt. „Hallo, Sammy!", rief auch sie und umarmte den Kuschelkönig. Dann klammerte er sich an ihren Freund, während auch Tess anmarschiert kam, ohne ihr Pokerface.
Zu ihrer mittelmäßigen Verwunderung umarmte Sammy auch Thea überschwinglich, die verdutzt aus der Wäsche schaute, aber sie kannte ihn ja von Aleas Erzählungen.
Daraufhin, als er sich gelöst hatte, begann er heftig zu gebärden, und er tat es so schnell, dass Alea nicht das Geringste verstand. Dann war Tess bei ihnen angekommen und begrüßte sie lässig, wenn auch nicht Lennox so stark.
Sammy stürzte wieder zu Alea, kramte etwas aus seiner Jackentasche und hielt ihr eine geschlossene Hand hin. „Rate mal, was da drin ist!" Es war anscheinend nicht so groß, denn die Faust war komplett geschlossen.
„Ein Souvenir?", mutmaßte Alea, doch er schüttelte heftig den Kopf. Dann öffnete er die Hand und drei kleine, unscheinbare Goldfäden lagen in ihr.
„Goldumhangsfusseln!", krakeelte er, was einige Touristen auf sie aufmerksam machte.
„Schließlich haben wir auch schon Silberfadenfusseln!" Alea nickte. Die Silberfäden hatten ihre Reise um einiges einfacher gemacht, da sie auch nicht mehr den Silberumhang hatten, und jetzt auch diese Fäden zu haben, war sicher keine schlechte Idee.
„Dann wache mal gut über deinen Schatz, Drache", sagte sie und wuschelte ihm durch seinen Rotschopf. „Mehr denn je!", stimmte er ihr zu und verstaute sie wieder in seiner Tasche.
„Wo ist eigentlich Ben?", fragte da Lennox.
„Auf dem Klo." Doch da kam er auch schon aus einem kleinen Häuschen, sah die Ankommer und lief gleich zu ihnen. Auch er umarmte die beiden, zu Thea gebärdete er etwas.
Alea strahlte von einem Ohr zum anderen.
Sie war jetzt wieder bei der Alpha Cru und sie würden Orion schnappen!
„Hast du deine Raffnarben eigentlich wieder?", wollte Tess wissen. Natürlich! Das hätte sie beinahe vergessen!
Schnell zog sie ihren linken Handschuh aus und schob ihre Haare beiseite. Die Knubbel waren gut sichtbar, doch zur Krönung spreizte sie ihre Finger auch noch weit auseinander.
„Wunderbärchen!", rief Sammy. „Ich hab doch gleich gesehen, dass deine Augen wieder klargrün sind! So märchenhaft!" Er nickte, als wollte er sich selbst beipflichten.
„Wir haben schon Abendessen gemacht!", sagte Ben. „Die Crucis liegt unsichtbar etwas weiter vom Hafen entfernt. Aber wir haben mit der Hercules so angelegt, dass wir einfach nur gerade aus rudern müssen, schon sind wir da."
Sie gingen nun zusammen zu ihrem Segelschiff, Sammy fragte Thea schon nach einer kurzen Weile, ob sie nicht Mitglied der Alpha Cru werden wollte. Alea wartete gespannt ihre Antwort ab. Aber ihre Schwester zögerte nicht lange und sagte mit etwas brüchiger Stimme auf deutsch: „Klar mag ich das!"
Sammy strahlte natürlich wie ein Weihnachtsbaum, seine Schritte beschleunigten sich und er war der erste, der bei ihrem Beiboot ankam. Thea zögerte etwas, sich so dem Wasser zu nähern, doch dann setzte sie sich entschlossen auf eine der kleinen Bänke, direkt dort hin, wo Cassaras einmal im Auftrag Orions hingeschossen hatte. Das schien auch sie zu bemerken, ihr Gesichtsausdruck wurde irritiert, aber sie fragte nicht nach.
Alea machte sich innerlich bereit, gleich gegen den Rumpf der Crucis zu stoßen, und es dauerte lange, bis ein Klonk! ertönte. Das Segelschiff wurde sichtbar und ihre Schwester riss die Augen weit auf. So ein altes, uriges, renovierungsbedürftiges Schiff war etwas besonderes. Vor allem dann noch, wenn vier Jugendliche und ein Achzehnjähriger ohne Eltern auf ihm lebten.
Gleich, als sie die Außenleiter hochgeklettert waren, ging Sammy in den Salon, um das große lateinische Buch zu holen, in dem alle möglichen Sternenbilder beschrieben waren. Alea hatte Thea in der Wandererbotschaft von dem Ritual erzählt, deshalb musste man ihr nicht erst noch erklären, was sie zu tun hatte. Schnell versammelten sie sich um den Tisch und schauten gebannt zu, wie sie die Augen schloss und durch die Seiten blätterte. Und schon nach kurzer Zeit hielt sie inne.
„Hier", sagte sie auf Deutsch und öffnete die Augen.
„Lepus", las sie vor.
„Die mythologische Bedeutung von dem Hasen ist nicht so toll", erwiderte Sammy tonlos. „Wieso? Wie ist sie denn?", fragte Alea, und auch Thea starrte auf die Seite.
„Lepus, der Hase, wurde einzig und allein an den Sternenhimmel gesetzt", begann Ben, „damit er von Orion und dem großen Hund, seinem Gehilfen gejagt wird. Orion soll es am meisten Spaß gemacht haben, ihn zu jagen."
Alea fiel die Kinnlade herunter und Lennox rief: „Was?"
„Es passt", meinte Tess trocken. „Und der große Hund ist bestimmt Jinx."
Sammy sprang auf.
„Ist doch egal! Wir sind jetzt sechs!"
Er wandte sich Thea zu.
„Anthea Lepus, von heute an bist du offiziell ein Mitgleid der Alpha Cru!" Und dann setzte er ein lautes: „Jaaaaa!!" hinzu. Sie lächelte leicht.
Tess erwiderte: „Sie ist nicht das sechste, sie ist das zehnte." Alea musste ihr Recht geben, auch wenn das jetzt nebensächlich war. Schließlich gab es da ja noch Fussel Fuhrmann, Kiara-Katharina Fornax, Nikaela Vela und Cassaras Capricorn, auch wenn dieser eher durch Zufall Bandenmitglied wurde. Schicksal, würde Sammy bestimmt korrigieren, wenn sie es nicht nur gedacht hätte.
„Ach, ich bin total verliebt in dich!", rief er und stürzte sich wieder in Theas Arme.
„Es gibt jetzt Essen", sagte Ben und ging in die Küche, um die Sachen, die Alea, Lennox und sie selber auch eingekauft hatten zu holen.
Es gab Brötchen, Marmelade, Gemüse, Chai-Tee mit Ingwer und noch Makrele, die Alea aber nicht anrührte. Wie alle Meermenschen ernährte sie sich ausschließlich von Rohkost, da es ja unter Wasser kaum Schweine oder Rinder gab, die geschlachtet werden konnten. Umso mehr verschlingte Sammy den Fisch, während er murmelte: „Bestessen wird zur Bestwampe!" Er schaute sie schief an.
„Apropos Bestwampe... Es gibt da ein Mittel, mit dem man die beste Bestwampe überhaupt bekommt... Wir haben übrigens auch wieder Zutaten für das Wundermittel gekauft. Und das brauch ich! Sonst sterbe ich... bis ich tot bin!" Er grinste sie mit voller Zahnlückenpracht an.
„Nachher backe ich welche"; versprach Alea stöhnend und machte sich weiter ans Essen dran.
„Bestschneewittchen", sagte er.
Thea bekam das Grundwissen über die Seefahrt von Ben erklärt.
Der Morgen war mild, Wolken standen keine am Himmel, als Alea die Augen aufschlug und aus dem Bullauge schaute. Die Wellen wogen umher, doch sie waren jetzt nicht nur einfach blau. Bunte Farbgemische sprudelten umher, Schleier, Formen, Zickzacks, alles Mögliche, das wollte, dass Alea ihre Geschichte las. Aber sie war noch zu müde, deshalb machte sie sich erst gar nicht die Mühe, etwas aus den Farben des Meeres herauszulesen. Stattdessen zog sie sich um, ging durch den Salon, vorbei an dem Sofa, auf dem Lennox gerade schlief.
Tess telefonierte gerade an Deck mit Kit, die vom Sonnenfleck aus anrief, dabei Lächelte sie, obwohl Alea auch die Traurigkeit aus ihrem Gesicht herauslesen konnte. Sie seufzte. Kit war ihretwegen geschnappt worden. Kit hatte sich für sie geopfert. Kit hat auf das ihr wichtigste verzichtet. Kit hat das getan, damit Alea Aquarius ihr Schicksal erfüllen konnte. Kit war eine wirkliche Heldin.
Alea ging zum Deckshäuschen, in dem Ben und Thea gerade waren und ihr von Ben erklärt wurde, wie man die Crucis steuerte. Auch wenn Alea nur ganz wenig verstand, was sie gebärdeten, war es dennoch schön, in ihrer Nähe zu sein. In der Nähe ihrer Schwester.
Sie griff sich in die Tasche ihrer rosa Seidenjacke, wollte das Gegenmittel von Nelani herausholen, einfach so. Denn dieses Fläschchen hatte sie wieder zurück verwandelt. Zu einer Walwanderin.
Sie zog die Brauen zusammen. Wo war es nur? Sie schaute auf der anderen Seite nach, in ihrer Hose. Nirgends war es zu finden. Bestimmt hatte sie es auf dem Weg nach Rom verloren und es gar nicht bemerkt, so eine Katastrophe war es ja auch nicht.
Das Glasfläschchen hatte seinen Job erfüllt. Nur gut, dass sie es ihr nicht vor dem Loreleyfelsen aus der Tasche gefallen war.
„Misch Lateyna", hörte sie da eine Stimme hinter sich. Es war eine vertraute, wunderschöne Stimme. Lennox umarmte sie von hinten. „Misch Lateyna", erwiderte Alea und lächelte. Lennox roch nach Weite, Wärme und Wasser.
Zu lange hätte sie hier stehen können um seine Anwesendheit zu genießen. Doch dann kam Sammy angewuselt, mit zwei Keksen in jeder Hand und auch allem Anschein nach im Mund.
„Morgen, Schneewittchen. Morgen, Scorpio", nuschelte er mit vollem Mund. Alea hatte sie noch gestern gebacken, vor dem Schlafengehen. „Morgen, Sammy." Lennox löste sich nun von ihr. „In vier Tagen werden wir Orion schnappen", sagte er, was ein wirrer Themawechsel war. Alea nickte. Ja, das war der erste große Schritt, die Meere zu retten. Ihre Bestimmung zu erfüllen.
„Wir müssen übrigens noch nach Venedig!", mischte sich Sammy ein. „Wegen den Silberfusseln!"
„Könnte ich sie noch einmal haben?", fragte Alea perplex. Er nickte. „Komm aber nach unten." Sie erinnerte sich noch daran, wie ihr der dritte Faden einmal an Deck aus der Hand geweht wurde, im Wasser landete und die Nixe Shiro auftauchte. Lennox hatte sie damals retten können, indem er meinte, dass es Schicksal gewesen wäre, dass ihr der Faden aus der Hand gefallen war, denn sonst wäre die Magische nicht aufgetaucht. Somit war der Wächter des Schatzes nicht mehr so böse gewesen.
Sie folgte Sammy in die Jungenkajüte. Dort stand er schon bereit, hielt ihr die Schachtel entgegen.
„Walte deines Amtes, Madame Aquarius. Oder will Scorpio auch? Oh, und vielleicht auch noch Thea!" Klar, das war eine klasse Idee! Lennox sprintete an Deck, wenig später kam er mit ihrer Schwester zurück. Sie war anscheinend schon informiert.
„Schneewittchen beginnt!" Sie lächelte und nahm einen der kleinen Fäden entgegen. Schon schossen ihr die ersten Bilder entgegen, dieses Mal waren sie etwas klarer, als das andere Mal, als sie kein Meermädchen war. „Zeig mir Orion", flüsterte sie.
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