Abschied
Am nächsten Morgen wurde Alea von einem zarten Kuss geweckt. Sie lächelte, noch bevor sie die Augen öffnete. „Misch Lateyna", sagte sie. „Misch Lateyna", erwiderte auch Lennox. „Es ist halb fünf", erklärte er. „Zeit, sich auf den Weg zu machen." Sie hätte zwar noch ewig so liegen bleiben können, aber der Gedanke, Thea dadurch zu finden, ließ sie hellwach werden. Langsam schlug sie die Augen auf und blickte direkt in Lennox' azurblaue Iris. „Komm", sagte er sanft und Alea ließ sich von ihm hochziehen. „Auf zu neuen Abenteuern."
Die restliche Alpha Cru war schon an Deck versammelt. Es war noch dunkel, trotzdem konnte Alea eine Küste erkennen. „Madina di Grosseto." Ben gab ihr ihren Rucksack. „Von dort aus fährt ein Zug nach Loreley." Sammy rannte zu ihr und klammerte sich wie ein Äffchen an sie. „Echt doof, dass wir uns ein paar Tage lang nicht sehen können", murmelte er. „Und doof, dass die Kekse schon zur Hälfte leer sind."
„Wir sehen uns doch bald wieder", ermutigte sie ihn, doch insgeheim fand sie es auch schade, die Alpha Cru für eine Zeitspanne lang nicht zu sehen. „Dann besiegen wir Orion, du ziehst zur de Wafelfabriek, kaufst dir einen Swimmingpool mit Jarias und bekommst eine schöne Wampe." Er grinste. „Das machen wir!" Dann ließ er los und drückte auch noch Lennox an sich. „Tschüss, Krieger des Vergessens." Auch die anderen kamen noch, umarmten sie. Selbst Tess, die eigentlich nicht so der Typ dafür war. Schließlich ließen sie die Hercules runter und Ben stieg mit ihnen ein, um sie zur Küste zu fahren.
„Möge euch stets guter Wellenschlag begleiten", sagte Alea einmal auf Deutsch und einmal auf Hajara. Dann schulterte sie ihren Rucksack und gab Ben das Zeichen, loszufahren.
Sie erreichten schon wenig später die Küste. Noch einmal sagten sie Tschüss zu Ben, dann drehten sie sich um und gingen ihres Weges.
„Der Bahnhof müsste ungefähr einen Kilometer von hier entfernt sein", sagte Lennox und blickte in die schroffe Landschaft. Dann zeigte er in eine Richtung. „Da lang." Sie liefen eine Gasse entlang und begegneten keiner Menschenseele.
„Anscheinend soll es einen Zug geben, der ziemlich früh fährt." Er blickte kurz auf eine Uhr, die an einem Haus hing, was Alea ziemlich ungewöhnlich fand. Es war ungefähr fünf Uhr. So früh sollte einer fahren? Nach und nach trafen sie ein paar wenige Leute, sie alle sprachen italienisch. „Wir sind gleich da."
Tatsächlich kamen sie auch schon nach ein paar Minuten an einem Bahnhof an. Es gab noch drei andere Personen; ein Mädchen und ein junges Paar. Sie kauften zwei Fahrkarten (Alea bestand darauf, dass Lennox auch eine haben sollte) und warteten, bis der Zug kam. Es dauerte ziemlich lange, doch dann fuhr er in den Bahnhof ein. „Komm." Lennox zog sie ein wenig am Ärmel und stieg ein. Drinnen waren wieder nur ganz wenige. Sie setzten sich auf zwei freie Plätze (die fanden die schnell) und beobachteten, wie die Landschaft an ihnen vorbeizog. Sie unterhielten sich über dies und das, über die Zukunft, was wohl wäre, wenn der Virus unschädlich gemacht wurde, und Alea genoss jeden Moment aus vollen Zügen, ganz allein mit Lennox zu sein. Das änderte sich jedoch, als das Mädchen von vorhin sich gegenüber von ihnen hinsetzte. Es hatte schwarze, dichte und kurze Haare, genauso schwarz waren auch ihre Augen. Außerdem ein Stirnband und ihre Hände waren dicht in ihre Jackenärmel verkrochen. Alea wunderte sich kurz, wieso sie sich nicht auf die anderen freien Plätze setzte, doch dann lächelte sie ihr kurz zu und lauschte weiter Lennox' Fantasiegeschichte. Jetzt sprach er aber Hajara, klar, denn was sollte das Mädchen denken, wenn sie sich über Meerwelten, einen Virus oder Stämme und Magische unterhielten? Auf Deutsch hätte sie sie sicherlich auch nicht verstanden, aber sicher war sicher. Es schaute sie nur kurz verwundert an, in ihren Augen spiegelte sich die Frage Was ist das für eine Sprache? wieder, doch dann schaute es einfach aus dem Fenster.
„Jedenfalls", fuhr Lennox seine Geschichte auf Hajara fort, „Würde ich dann mit Xenia lauter Wanderer begleiten, und dann komme ich euch – Thea und dich – ganz oft besuchen, wenn nicht, dann seid ihr beide schon die Wanderer, die wir begleiten. Natürlich würde ich auch bei den Meerkindern, die wir gefunden haben, nachschauen, bei Nexon und den anderen. Mensch, die Magischen fänden das bestimmt ein Wunder, wenn unser Volk wieder zurückkommt. Und wenn die Landgänger von dieser Unterwasserwelt wissen, dann laden sie vielleicht auch nicht mehr so viel Müll in die Meere. Wenn schon, dann würden die Darkoner oder Oblivionen ihnen ganz schön einheizen. Ach, Alea. Wenn, wenn, wenn... Ich hoffe wirklich, dass du, die Elvarion, die Meere retten wirst."
„Nicht nur ich", widersprach sie. „Wir alle zusammen. Die Alpha Cru, du, bestimmt auch Thea. Und wer weiß, es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht auch Cassaras."
„Ja, das ist unwahrscheinlich."
„Was wohl der Prinz denkt, wenn wir bei ihnen aufkreuzen."
„Es ist immer noch unglaublich, dass er es zu seiner Aufgabe gemacht hat, Thea zu beschützen. Ich mein... bei dir war es ja nur wegen dem Silberumhang, aber bei Thea... ich wusste nicht, dass Cassaras so etwas wie Selbstlosigkeit kennt."
„Das hätte wohl niemand von uns erwartet, oder?"
„Nein", stimmte er ihr zu. „Ich hätte das niemals gedacht."
„Vielleicht findet Nelani auch eine Möglichkeit, dich zu einem ganzen Oblivion zu machen!", seufzte Alea. Lennox horchte auf. „Wie meinst du das? Wie soll das gehen?"
„Nelani hat ja auch ein Gegenmittel erfunden, mich zur Walwanderin zu machen. Wieso sollte es bei dir nicht auch gehen?"
„Da bleibt immer noch das eine Problem."
„Welches?"
„Wenn ich wirklich mal ein ganzer Meerjunge sein würde... na ja... wäre ich ein ganzer Meerjunge."
„Und?"
„Und Rofus würde mich nicht mehr schützen." Alea biss sich auf die Lippe. Daran hatte sie nicht gedacht. „Aber wenn Orion es schafft, ein Mittel gegen das Virus herzustellen, dann schafft Nelani das auch! Sie kann sich in Harf... Hanarf... Harfanarf..."
„Hafnarfjörður", half Lennox ihr auf die Sprünge.
„Ja, genau. Jedenfalls kann sie sich dort bestimmt Ausrüstung kaufen, um experimentieren zu können. Damit würde sie ein Gegenmittel finden!"
Auf seinem Gesicht bildete sich ein Lächeln. „Das wäre klasse."
„Wunderbärchen", lächelte Alea, in der Vorstellung, dass Sammy sie jetzt nicht hören konnte. Sonst müsste sie ihm wieder Kekse backen, ob sie genügend Zutaten hatte oder nicht.
Die Fahrt verlief ruhig. Der Zug fuhr durch die Landschaft auf Bäumen, Wiese und ein wenig Wasser vorbei und Alea und Lennox unterhielten sich, bald über ihr Leben vor der Alpha Cru, bald über Anthea, über Orion, Cassaras und noch andere Dinge, Alea war es ganz egal, über was, sie fand es schon schön genug, seine warme Stimme zu hören, wie er sprach, wie das Hajara aus ihm kam. Die Meeressprache klang einfach wunderbar von seinen Lippen.
Manchmal schwiegen sie eine Zeit lang, doch sonst redeten sie. Es war so schön und unbeschwerlich, dass sie fast nicht merkten, als sie da waren. Hier mussten sie umsteigen, das Mädchen vor ihnen anscheinend auch. Schnell hasteten sie aus dem Zug und Alea war froh darüber, nicht dieses Mal aus dem Fenster springen zu müssen. Insgeheim stiegen sie noch oft aus und wieder ein, wechselten den Zug und Alea bewunderte Lennox, sie er bei all den Gleisen und Haltestationen überhaupt noch den Überblick behielt.
In Domodossola übernachteten sie.
Sie taten dies aber in einer kleinen Herberge, nicht auf der Straße oder irgendwo anders illegal. Auch am nächsten Morgen liefen sie wieder zum Bahnhof, stiegen in Züge, wechselten sie. Doch schließlich kamen sie bald in Oberwesel an und nahmen dort die Fähre zur Loreley.
Es dauerte ca. zwei Stunden, in dieser Zeit stand Alea an Deck und schaute auf das Meer. Dann erreichten sie eine schroffe Landschaft, der Halt zum Felsen. Ein paar Besucher stiegen vom Schiff, sie taten es ihnen gleich.
Da es aber schon bald Abend war und sie noch etwas laufen mussten, beschlossen sie, noch in der Wildnis zu übernachten.
Alea wurde es immer unbehaglicher, je mehr Schritte sie machte und wie sie Thea so immer näher kam. Lennox studierte immer wieder die Karte, sagte, wo sie lang müssten und sie liefen, Hand in Hand.
Alea kam immer wieder die erste Silberfadenvision in den Kopf, der Gedanke, Orion hätte sie erwartet, ließ sich einfach nicht abschütteln. Doch Lennox schien optimistisch, obwohl er eigentlich fast immer etwas zu befürchten hatte, nicht sie. Aber die positivere Vision kam häufiger, die andere überhaupt nicht, deshalb fragte sich Alea selber, wieso sie eigentlich noch etwas befürchtete. Vielleicht lag es an der Elvarion in ihr, die Angst um die anderen und die Fürsorge, doch als Oblivion hatte man eigentlich eher den Beschützerinstinkt.
Sie seufzte.
Alles war gut. Sie würden Thea finden, sie würde wieder ein Meermädchen werden, sie würden Orion gefangen nehmen, Nelani würde bestimmt ein Gegenmittel finden, vielleicht sogar eines, das Lennox zum ganzen Meerjunge machte, außerdem würde ihre Mutter Keblarr treffen, die Meerkinder würden wieder ins Meer zurückkehren.
Eigentlich war sie auf dem besten Wege, die Prophezeiung wahr zu machen. Sie, die Elvarion der letzten Generation, Alea Aquarius, Walwanderin, sie würde mit ihren Landgängerfreunden die Ozeane retten.
Und heute wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass ihr Ziel wahrscheinlich gar nicht mehr so weit entfernt war, erfüllt zu werden.
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