Der schlafende Teufel in dir
Warum gefällt mir dieser Anblick? Wie kann meine Psyche solch eine widerliche Reaktion hin mir hervorrufen?
Ich sollte doch schreien. Mich fassungslos abwenden und den Würgereiz unterdrücken, den jeder normale Mensch bei solch einer brutalen Schandtat heimsuchen würde.
Aber das tue ich nicht. Meine Augen bleiben wie von selbst an der blutüberströmten Leiche kleben. Es fasziniert mich.
Die Art und Weise, wie der Mörder hier gearbeitet hatte. Die langen, blonden Haare wurden dem Mädchen aus dem Gesicht gestrichen und gaben den Blick auf zarte, rosafarbene Kratzer frei, die der Täter ihr sorgfältig über die Wangen gezogen hatte.
Fast so, als hätte er versucht, ein Koordinatensystem auf die Stirn des Mädchens zu zaubern. Es gefällt mir; auf merkwürdige Art und Weise.
Aber warum? Warum kann ich meine Augen von dem faszinierenden Anblick nicht losreißen? Warum bin ich nicht dazu in der Lage, Bestürztheit für diesen Mord zu zeigen?
Jeder normale Mensch würde sich mit verzerrter Miene abwenden und um das arme Mädchen beten, dass hier qualvoll aus dem Leben gestiegen war.
Ich aber nicht. Die geschundene Leiche bringt etwas in meinem Magen zum Kribbeln. Als würden dort hunderte von Hubschraubern ihre Kreise ziehen.
Hör auf! Hör auf, hör auf, hör auf! Ich will nicht so fühlen! Ich will nicht, dass mich solch ein verstörender Anblick erregt und die Schmetterlinge in mir zum Fliegen bringt.
Ich will schreien. Weinen. Brüllen. Einfach irgendetwas, was mir zeigt, dass ich durchaus ein rechtes Herz besitze. Das ich kein Psychopath bin. Das ich dazu in der Lage bin, Falsch von Richtig zu unterscheiden.
Widerwillig lasse ich meine Augen über den, mit Hämatomen gezierten, Körper wandern.
Am liebsten würde ich mich einfach umdrehen und davon gehen. Einfach so tun, als hätte ich die Leiche niemals gesehen. Als hätte die Reaktion meines Körpers mich nicht verstört und verunsichert.
Ich könnte einfach so weitermachen, wie zuvor. Wie ein normaler Mensch, der nicht durch den Anblick eines geschändeten Mädchens erregt wurde.
Aber ich konnte mich dem Willen meines Körpers nicht widersetzten. Er hatte mich in der Hand und sorgte dafür, dass sich Abscheu und Befriedigung in mir aufbäumten und meine Seele spalteten.
Ich weiß, dass es falsch ist, so zu fühlen. Dass ich mich eigentlich dafür hassen sollte, dass ich kein Mitleid hervorbringen kann. Das ich mir insgeheim denke, dass es das Mädchen vermutlich verdient hat, so zu sterben. Dass es eine Ehre für sie ist, als Kunstwerk für einen Mörder zu dienen.
Ja, sie war ein Kunstwerk; das dickflüssige Blut eine Farbe und die zahlreichen Verletzungen die Fantasien des Künstlers.
Ein wahres Meisterwerk und doch würde keiner seine Kunst zu schätzen wissen. Keiner außer ich.
Ich sehe die feinsäuberlichen Arbeiten, die der Täter hinterlassen hatte. Die Gefühle und Emotionen, die er mit diesem Werk ausdrücken wollte. Die Liebe, die er auf ihrem Körper hinterlassen hatte.
Ja, er hatte sie eindeutig geliebt. So, wie jeder sein erschaffenes Kunstwerk zu lieben wusste. Doch keiner würde es verstehen.
Meine Gedanken erschrecken mich und vor allem der dazukommende Drang, dem Mörder nachzueifern. Das ist doch nicht wirklich mein Wille, oder? Bin ich wirklich von solcher Bosheit getrieben?
Warum konnte ich nicht einfach normal sein? Warum musste ich in dieser grauenhaften Tat eine Kunst erkennen? Warum schaffte ich es nicht, Wut oder Angst zu empfinden?
Ich will nicht so fühlen, wie ich es gerade tat. Am liebsten würde ich gar nichts mehr fühlen. Keine Reue, aber auch keine Zufriedenheit. Einfach gar nichts.
-Geschrieben am 06.01.2019-
568 Wörter
Januar-Gewinner der goldenen Feder vom Federaward
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