Kapitel 21 - Weder Mama- noch Papakind
"Wo zur Hölle bist du die ganze Nacht gewesen?", rief meine Mutter als ich am frühen Morgen von Pepe zurückkam.
Zwischen uns war nicht viel mehr als Küssen passiert und doch hatte ich die Nacht bei ihm verbracht. EInfach nur, um Zeit miteinander zu verbringen. Ich wollte nichts überstürzen und er hatte vollstes Verständnis dafür. Trotzdem hatte ich bei ihm sein wollen und so hatten wir die gesamte Nacht auf seiner Couch verbracht und einfach nur geredet.
"Kann dir doch egal sein", motzte ich.
Ich hatte genug davon, mich ständig rechtfertigen zu müssen. Ich war erwachsen und konnte tun und lassen, was ich wollte.
"Ist es nicht! Du hast ganz offensichtlich viel nachzuholen. Anstatt also die Nächte wegzubleiben, solltest du dich hinsetzen und lernen."
"Nein", widersprach ich. "Denn ich werde mein Abi nicht nachholen. Ich habe einen Schulabschluss und der reicht mir."
Man sah Mama an, dass ihr diese Option nie in den Sinn gekommen war. Vor Schreck stand ihr der Mund offen und sie gönnte sich einen kurzen Moment der Schockstarre.
"WAS?"
"Ich will nicht noch ein Jahr länger zur Schule gehen."
Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
"ACH JA! Was ist denn dein Plan B?"
"Ich geh nach Australien."
Mamas Augen wurden noch größer.
"Australien? Das ist doch ein Scherz!"
"Nein, ist es nicht."
Ich sah ihr an, dass sie mich nicht ernst nahm. Das hatte sie noch nie getan.
"Also ob du dich traust nach Australien zu gehen. Mal ganz davon abgesehen, dass du es dir gar nicht leisten kannst."
Ich verschränkte wütend die Hände vor meiner Brust. Kein Wunder, dass ich nie an mich selbst glauben konnte, wenn nicht einmal meine eigene Mutter an mich glaubte.
"Ich geh arbeiten, um es mir leisten zu können und ich werde mich trauen! Es hat bei mir endlich Klick gemacht. Ich komme im Leben nicht weiter, wenn ich mich ständig von euch runterziehen lasse. In mir steckt mehr! Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht, aber ich werde nach Australien gehen!"
Mama lachte und das auf eine sehr gehässige Art.
"Du traust dich doch kaum Kaugummis an der Supermarktkasse zu kaufen und dann willst du nach Australien?! Das glaube ich erst, wenn ich es sehe."
Wie konnte man als Mutter sein eigenes Kind so sehr entmutigen?
"Ja, das wirst du sehen!"
Mama presste ihre Lippen fest zusammen. Ganz offensichtlich ertrug sie es nicht, dass ich innerhalb der letzten Wochen selbstbewusster geworden war.
"Gut, dann schmeiß halt dein Leben weg, wenn du das für richtig hältst!"
Mittlerweile kochte ich ebenfalls vor Wut.
"Das sagst ausgerechnet du! Offenbar kann man ja auch mit Studium im Plattenbau landen", feuerte ich in die Richtung und deutete mit einer Handbewegung auf die trostlose Wohnung, in der wir uns gerade befanden.
Ich sah ihr an, dass der Spruch gesessen hatte. Und zwar so richtig, denn ihre Hand klatsche flach gegen meine Wange.
Noch nie zuvor war sie handgreiflich gegen mich geworden. Dementsprechend schockiert taumelt ich zurück und sah sie befremdlich an. Das war nicht mehr meine Mutter!
Meine Wange feuerte, was mir sagte, dass sie durchaus mit Kraft zugeschlagen hatte. Empfand sie wirklich so viel Hass für mich?
Ich hielt es hier nicht mehr aus. Nicht jetzt und auch nicht in Zukunft. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Zu lange hatte ich all das mit mir machen lassen. Jetzt war Schluss. Sie war zu weit gegangen.
"Du solltest dich schämen", sprach ich mit vorwurfsvoller Stimme.
Dann ging ich in mein Zimmer, holte den großen Rucksack aus dem Schrank und begann das Nötigste dort hineinzustopfen.
"Lilly, es tut mir leid. Bitte bleib hier!", erklang nun die reumütige Stimme meiner Mutter.
Ich ignorierte sie. Sie war zu weit gegangen. Ich ließ mich nicht schlagen. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich schon mit Worten erniedrigen lassen, doch jetzt war Schluss.
"Wo willst du denn hin?", fragte sie weiter, ohne eine Antwort zu erhalten.
Als der Rucksack voll war, drängte ich mich an meiner Mutter vorbei. Sie versuchte mich noch am Arm festzuhalten, doch ich schüttelte sie ab. Ich warf ihr einen letzten bösen Blick zu.
Dann knallte ich die Wohnungstür laut hinter mir zu.
"Lilly?", fragte Onkel Thomas überrascht, als ich vor seiner Tür auftauchte. "Was machst du denn hier?"
"Ich will zu Papa."
"Okay", sprach er zögerlich. "Aber warum bist du dann hier bei mir?"
Ich kniff meine Augen zusammen und sah ihn prüfend an.
"Er wohnt doch hier."
Onkel Thomas schüttelte mit ahnungslosen Blick den Kopf. Ich begann zu ahnen, dass dieser Tag nicht besser werden würde.
"Nein, ich habe deinen Vater schon ewig nicht mehr gesprochen, um ehrlich zu sein. Ich habe momentan viel zu tun."
"Was?", fragte ich, während ich langsam begann vom Glauben abzufallen. Das dürfte doch alles nicht wahr sein. "Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?"
Onkel Thomas zuckte mit den Schultern und schien kurz nachzudenken.
"Ich denke, dass wir uns an Weihnachten das letzte Mal gesehen haben."
Wir hatten Juni. Papa war also ganz offensichtlich nicht bei Onkel Thomas untergekommen, so wie man es mir erzählt hatte. Papa hatte mich belogen.
"Ist alles okay bei euch?", erkundigte sich mein Onkel besorgt.
Tapfer nickte ich.
"Ja, tut mir leid. Das war wohl ein Missverständnis."
"Kein Problem, willst du trotzdem reinkommen?"
"Das ist nett, aber heute ist es ungünstig. Gern ein anderes Mal."
Ich konnte es nicht glauben. Er hatte uns von vorne bis hinten belogen. Ich war mir sicher, dass Mama auch der festen Überzeugung gewesen war, dass Papa bei Onkel Thomas untergekommen war und nicht bei seiner Neuen.
Wütend tippte ich die Nummer meines Vaters ins Handy.
"Hallo Lilly!", ging er sofort ran. "Was gibts?"
"Können wir sprechen?"
"Klar, was ist denn?"
"Ich meine in Person. Unter vier Augen. Können wir uns sehen?"
"Ja klar, wir können uns in einem Café treffen."
"Nein, ich wollte bei dir vorbeikommen. Bei Onkel Thomas. Da können wir in Ruhe reden."
Für einen kurzen Moment herrschte Stille und er schien wohl abzuwägen, was er jetzt am besten sagte.
"Das ist schlecht. Thomas ist krank braucht momentan viel Ruhe."
Vor fünf Minuten sah er noch sehr munter aus, du Lügner!
Während ich den Hörer am Ohr hielt, liefen mir die Tränen über meine Wangen. Er log mich an. Ich versuchte mir jedoch nichts anmerken zu lassen.
"Bitte Papa, ich wollte heute bei dir schlafen."
Ich hörte ein lautes Seufzen.
"Lilly, das geht nicht. Onkel Thomas kann nicht noch jemanden aufnehmen."
"Warum nicht? In seinem Gästezimmer stehen zwei Betten. Ich halte es bei Mama nicht mehr aus. Bitte!"
Ich spürte, wie mein Papa um Worte rang. Ich war äußerst gespannt darauf, was er nun sagen würde.
"Lilly, es ist für uns alle momentan schwer. Jeder muss ein bisschen zurückstecken. Also versuch wenigstens mit Mama klar zu kommen. Dort hast du ein Zimmer und das musst du jetzt erst einmal so akzeptieren. Es geht im Moment leider nicht anders."
Dieser verdammte Lügner. Er wohnte schon bei seiner Neuen. Dessen war ich mir sicher. Eine andere Erklärung gab es nicht für seine Lüge.
"Papa, Mama hat mich geschlagen!"
Meine Stimme brach vor Schmerz ab. Es auszusprechen, war schmerzhafter als gedacht.
Wieder war es für einen Moment still.
"Das kann ich mir nicht vorstellen. Deine Mutter liebt dich doch."
Davon spürte ich aber nichts mehr.
"Das heißt, du glaubst mir nicht?"
Er räusperte sich.
"Lilly, wenn es so war, dann war es sicher ein Ausrutscher. Bitte mach die Situation nicht noch komplizierter, als sie eh schon ist. Ich weiß, dass du bei Mama gut aufgehoben bist."
Dieses Arschloch! Nun hasste ich nicht nur meine Mama, sondern auch meinen Papa.
"Ja, genau", zischte ich wütend. "Und du scheinst ja bei deiner Neuen auch so gut aufgehoben zu sein, sodass du sehr schnell vergessen hast, dass du eine Tochter hast, die ihren Vater braucht."
Mit diesen Worten legte ich auf.
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