Kapitel 2 - Triff mich unter dem Kirschbaum

Unser Dachboden war nicht wie die üblichen rumpligen Abstellkammern, die Familien dort im Laufe einrichteten. Stattdessen hatte mein Vater hatte daraus seine persönliche Bibliothek gemacht. Wenn er mal Freizeit hatte, was in letzter Zeit immer seltener vorkam, sah man ihr nur selten ohne Buch in der Hand. Während meine Sucht der Schokolade galt, war er den Büchern verfallen. Und so hatte sich eine beachtliche Sammlung unter unserem angehäuft, die er hegte und pflegte. Das war vermutlich auch der Grund, warum unser Haus wohl das einzige auf dieser Welt war, wo man nicht ein Staubkorn auf dem Dachboden finden konnte. Von Spinnweben ganz zu schweigen.

In der hintersten Ecke des Raumes lagerten meine Bücher. Es waren nicht viel, denn eine große Leseratte war ich nie gewesen. Doch Klassiker wie "Die Kinder aus Bullerbü", "Emil und Detektive", "Harry Potter" und "Der Struwelpeter" hatte selbst ich mir nicht entgehen lassen. Auch wenn letzteres bei mir diverse Alpträume mit abgeschnittenen Daumen ausgelöst hatte.

Ich ging das Regal entlang und ließ meinen Finger über die Buchrücken streifen. Manche Einbände glänzten im Lichte der Sonne, die durch das Fenster schien. Andere waren schon abgegriffen und matt. Dann ließ ich meinen Finger innehalten

Der glückliche Prinz von Oscar Wilde

Ich hatte es gefunden. Glücklich nahm ich das Buch aus dem Regal. Die goldene Statue des Prinzen prangte auf dem Cover. Es war lange her, dass ich die Geschichte gelesen hatte, doch ich konnte mich noch zu gut daran erinnern, dass mich das Ende jedes Mal zu Tränen gerührt hatte.

Ich schlug das Buch auf und sofort flatterte ein Papierschnipsel aus dem Buch. Ich hob ihn vom Boden auf.

Triff mich unter dem Kirschbaum: 15. April, 12.00

Ich musste über den grammatikalischen Fehler des 8-jährigen Bela schmunzeln. Gleichzeitig bewunderte ich seine damals schon sehr erwachsene Schrift. Ich konnte mich noch erinnern, wie er damals immer versucht hatte die Handschrift seiner Mutter nachzuahmen.

Es gab nur einen einzigen Kirschbaum, der für dieses Treffen in Frage kam, denn tatsächlich hatten Bela und ich viele gemeinsame Stunden unter diesem Baum verbracht. Wir hatten dort die Punkte auf Mariechenkäfern gezählt, Gänseblümchen die Blütenblätter einzeln ausgerissen, vierblättriger Kleeblätter gesucht und natürlich Kirschkerne so weit gespuckt, wie wir nur konnten. Ich hatte durchweg positive Erinnerungen an diesen Kirschbaum. Doch er gehörte meiner Kindheit an und ich war mir nicht sicher, ob ich mich 10 Jahre später dort noch immer so wohlfühlen würde.

Die Vorstellung Bela gegenüberzutreten war seltsam. Es war so viel seitdem geschehen und ich hatte mich verändert. Ich war nicht mehr das kleine Mädchen, das ausschließlich rote Socken trug. Und er war sicherlich auch nicht mehr der Junge, der Latzhosen über alles liebte.

Der 15. April war schon morgen. Immerhin ein Sonntag. Ich war mir nicht sicher, ob wir bei der Wahl der Uhrzeit das schon als 8-jährige eingeplant hatte.

Vermutlich würde Bela nicht einmal auftauchen. Schon seit Jahren hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Wahrscheinlich war er längst weggezogen und hatte die E-Mail mit einem Augenverdrehen sofort gelöscht.

So ein Kinderkram, hat er sich wahrscheinlich gedacht.

Neugierig war ich trotzdem. Ich steckte mir den Zettel in die Hosentasche und beschloss, es zumindest in Erwägung zu ziehen morgen dort hinzugehen. Immerhin sollte schönes Wetter werden und ich hatte eh keine anderen Pläne.

Ich kletterte die Leiter nach unten und gab dabei Acht keine Stufe zu verpassen. Meine Oma war erst letztes Jahr bei einer ähnlichen Aktion die Leiter heruntergefallen und hatte sich zwei Wirbel gebrochen. Bei meiner kalziumarmen Ernährung war dieses Szenario für mich gar nicht so abwegig, wie man im ersten Moment vermuten würde.

"Was machst du denn auf dem Dachboden?", hörte ich die Stimme meiner Schwester fragen. Dann sah sie mich musternd an. "Und noch wie viel wichtiger: Warum zur Hölle hast du meinen Pullover an?"

Ich sah an mir und den Pullover in Regenbogenfarben hinab.

"Sorry", entschuldigte ich mich, auch wenn sie sich ebenfalls ständig an meinem Kleiderschrank bediente. "Habe vergessen zu fragen."

Ava verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. Ich setzte derweil meine Füße wieder auf festen Boden.

"Ich will nicht, dass du dir meine Sachen ausleihst", begann sie nun zu tottern.

"Du nimmst dir meine Sachen doch genauso", hielt ich sofort dagegen.

Sie lachte hämisch.

"Ja, aber im Gegensatz zu dir, leiere ich deine Sachen nicht aus!", zischte sie und wusste ganz genau, wie verletzend ihre Worte waren.

Das hatte gesessen. Schlagartig wälzte ein Tsunami durch meine Augen.

"Das stimmt gar nicht", wehrte ich mich wenig schlagfertig.
"Natürlich. Du hast mindest zwei Kleidergrößen mehr als ich."

Aber auch nur, weil du am Rande der Magersucht bist, dachte ich insgeheim, wagte es aber nicht, es auszusprechen.
"Das hier ist ein verdammter Hoodie!, erwiderte ich. "Den könnte selbst Papa anziehen und der würde nicht ausleiern!"

Ava sah mich herausfordernd an und schien mein Argument nicht gelten zu lassen.

"Mein Pullover und ich entscheide, wer ihn trägt. Und du gehörst nicht dazu!"
"GUT!", patzte ich sie an. "Dann wage es aber auch nicht, dich noch einmal an meinen Sachen zu bedienen."

Sie lachte gehässig, als wäre sie eine böse Hexe.

"Keine Sorge. Wenn ich ein Zalt brauche, dann gehe ich in den Fachhandel und und nicht an deine Kleidersammlung."

Mit offenem Mund starrte ich sie ein. Wie konnte sie es wagen?

"Was schreit ihr denn hier so rum?", ertönte plötzlich die erschöpfte Stimme unserer Mutter.

"Ava findet mich fett", beschwerte ich mich sofort und sie widersprach nicht einmal.

Mama seufzte.

"Schatz, ein bisschen Sport würde dir vielleicht wirklich ganz gut tun." Sie hätte mir auch ein Schwert ins Herz stoßen können. Der Schmerz wäre der gleiche gewesen. "Jetzt wein doch nicht gleich! Wir meinen es doch nur gut", schob sie noch hinterher.

Ich brodelte innerlich. Wie konnte sie als Mutter nur so gemein sein. Sollte sie nicht diejenige sein, die für mich da war, wenn ich Probleme hatte? Stattdessen sorgte sie dafür, dass mein Leben nie sorgenlos blieb.

"Ihr meint es gut?", äffte ich sie nach. "Und warum behandelt ich mich dann wie ein Stück Dreck?"

Ava verdrehte die Augen.

"Oh mein Gott, werd doch nicht gleich so dramatisch. Das hält ja keiner aus!", ließ sie mich schnippisch wissen und verschwand dann in ihr Zimmer. Enttäuscht sah ich zu Mama. Ich hätte ihre Unterstützung gut gebrauchen können. Warum kam Ava immer mit all ihren Gemeinheiten durch? Schon immer hatte sie diesen Prinzessinnenstatus, während ich das doofe Aschenputtel war.

"Ava hat Recht", sagte Mama zu meinem Entsetzen. "Hört bitte auf ständig aus allem ein Drama zu machen. Wir haben zur Zeit wirklich andere Probleme."

Dann schlich sich Mama an mir vorbei und verschwand im Badezimmer. In mir quoll der Hass hoch. Hass auf meine eigene Familie. Und gleichzeitig war da so viel Traurigkeit, weil keiner mich und meine Gefühle zu sehen schien. Ich litt und niemanden interessierte es. Niemand bemerkte, wie schlecht ich mich fühlte. Es war ihnen einfach egal. Ich war ihnen egal.

Ich biss mir auf meine Unterlippe, um nicht laut schluchzen zu müssen und verschanzte mich in meinem Zimmer. So konnte es doch nicht weitergehen. Das war kein Leben mehr.

Ich musste hier einfach nur noch raus.

Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann ich das letzte Mal gelacht hatte.

Ich holte den Zettel aus meiner Hosentasche. Vielleicht war das ein Schritt in die richtige Richtung. So kam ich wenigsten mal raus aus diesem dunklen Loch, das sich mein Leben nannte.

Ja, ich würde morgen zu diesem Kirschbaum gehen. Vielleicht war Bela auch gar nicht da, doch dann hatte ich es wenigstens versucht. Ich müsste mich nicht ewig fragen, was gewesen wäre, wenn ich doch hingegangen wäre.

Ich spürte, wie ich jetzt schon ganz aufgeregt wurde. Unsicherheit war mein ständiger Begleiter und alles Fremde machte mir Angst. Leider war Bela innerhalb des letzten Jahre auch zu einem Fremden geworden. Ich fragte mich, ob ihm auch sofort auffallen würde, wie fett ich geworden war.

***

Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top