Kapitel 16 - Böse Überraschung

Nachdem ich das Australien-Thema hatte abwenden können, waren unsere Gespräche unverfänglicher geworden. Als es jedoch 22 Uhr war, kam allgemeine Aufbruchstimmung auf.

"Soll ich dich wieder fahren?", erkundigte sich Pepe.

"Das ist nett, dass du fragst, aber ich wohne jetzt in der neuen Wohnung. Ich fahre mit der Bahn."

"Ich kann auch einen Umweg fahren. Das ist kein Problem. Es ist schon spät."

"Nein, ist schon gut. Wirklich. Die Anbindung ist zum Glück gar nicht so schlecht."
"Ich kann dich auch noch bis zur S-Bahn begleiten", bot Bela an, der wie so oft mit Fahrrad unterwegs war. "Du musst ja wirklich nicht in der Dunkelheit um die Uhrzeit noch alleine unterwegs sein."

Sofort schlug mein Herz schneller. Ich war für jede Minute, die ich mit Bela zusammen verbringen konnte, dankbar.

Schließlich verabschiedeten wir uns alle und Bela und ich blieben übrig. Selbst im Schein der Laternen war er wunderschön.

"Wie ist es in der neue Wohnung?", erkundigte er sich, während er lässig mit einer Hand sein Fahrrad neben sich herschob.

Ich bedauerte sehr, dass der Weg zur S-Bahn nur wenige hundert Meter waren.

"Klein", sagte ich ehrlich. Erst heute morgen hatte ich mein Zimmer eingerichtet. Eigentlich sollten wir erst nächste Wochen einziehen, doch nun hatte Papa das Haus doch schon früher verkauft. "Mein Zimmer ist winzig. Da steht ein Bett und ein Schrank drin. Das war es. Das Bad ist ebenfalls winzig und die Küche sowieso. Aber immerhin muss ich mir mit Ava kein Zimmer teilen."

Das hatte zu Beginn ernsthaft zur Debatte gestanden, doch da meine Eltern innerhalb der nächsten Wochen nicht ein Kind auf tragische Weise verlieren wollten, hatten sich doch darauf verzichtet.

"Es ist ja nicht für immer", versuchte Bela mich aufzumuntern.

Da hatte er recht. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sich meine Mutter fühlen musste, denn ihre mittelfristige Zukunft würde sich in dieser Wohnung abspielen. Das war definitiv eine Umstellung, wenn man es gewohnt war, in einem großen Haus zu leben.

"Ja, zum Glück."
"Hast du mittlerweile eigentlich deinen Vater mal wieder zu Gesicht bekommen?"

Ich schüttelte traurig den Kopf.

"Nein. Nur kurz, als wir die Kartons ins Auto getragen haben. Wir telefonieren hin und wieder, aber Mama und Papa können nicht einmal mehr in einem Raum sein, ohne sich anzuschreien. Deshalb geht er momentan auf Abstand."
Ich sah wie wir schon fast am Bahnhof angekommen waren.

"Das tut mir wirklich leid. Wenn irgendetwas ist, dann ruf jederzeit bei mir an."
Ich wusste, dass er es genau so meinte, wie er es sagte. Ich könnte ihn um 4 Uhr nachts anrufen und er wäre für mich da. Das machte ihn so besonders.

"Danke. Du natürlich auch, aber dein Leben scheint sehr unproblematisch zu sein.

Er lächelte schwach.

"Nicht alles, was glänzt ist gold", sagte er so beiläufig, dass ich die tiefere Bedeutung erst einige Sekunden später bemerkte.

Ehe ich jedoch nachhaken konnte, blieb er stehen, denn wir hatten den Bahnhof erreicht.

"Dann komm gut nach Hause und schreib mir, wenn du angekommen bist."

Bitte küss mich, Bela! Bitte!

"Du auch", erwiderte ich und wünschte, dass ich den Mut hätte, um den ersten Schritt zu machen. Doch natürlich war ich ein Schisser.

Wie immer verabschiedete er sich mit einer Umarmung. Mehr jedoch auch nicht. Er schwang sich auf sein Fahrrad und radelte in die Dunkelheit davon.

Ein wenig geknickt stieg ich die Treppen zum Bahnsteig nach oben. Abrupt blieb ich jedoch stehen, als ich sah, wer sich dort aufhielt.

Dzana, Charly und Mathilde.

Meine ehemals besten Freundinnen.

Mir blieb keine Gelegenheit um unbemerkt umzudrehen, denn sie hatten mich sofort erblickt. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war mir meine Hand in Mathildes Gesicht ausgerutscht.

"Du feiges Miststück!", schimpfte Mathilde, sobald sie realisiert hatte, wer nur wenige Meter vor ihr stand und kam auf mich zu.

"Es tut mir leid", entschuldigte ich mich sofort reumütig. "Das hätte ich nicht tun dürfen!"

Ich sah mich um und stellte mit Schrecken fest, dass der Bahnsteig komplett leer war, was um diese Uhrzeit nicht ungewöhnlich war. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus.

Mathilde stand nun nur noch eine Armlänge von mir entfernt. Dzana und Charly waren dicht hinter ihr gedrängt. Sie sahen nicht so aus, als würden sie meine Entschuldigung annehmen.

Ich sah zur Anzeigetafel. Die nächste Bahn würde erst in 12 Minuten kommen.

Mathilde stieß mit ihrer Hand gegen meine Schulter, sodass ich leicht nach hinten taumelte.

"Mathilde, bitte! Lass das!"

Ich versuchte mir meine Angst nicht anmerken zu lassen.
"Ich soll das lassen? Du hast mich vor allen gedemütigt und ins Gesicht geschlagen! Dabei bist du erbärmlich und dumm! Du hast es nicht einmal geschafft zum Abi zugelassen zu werden! Oder mal von einem Jungen geküsst zu werden! Du bist der Inbegriff von Versagen!"

Unsere Nasenspitzen berührte sich fast und mir wurde bewusst, dass ich die Flucht ergreifen sollte, solange ich es noch konnte.

Leider kam mir dieser Gedanke zu spät, denn Mathilde hatte mich plötzlich gepackt und zu Boden gedrückt. Sie trat mit ihrem Fuß auf meinen Kopf und fixierte ihn so auf dem Boden. Ich versuchte mich zu wehren, doch plötzlich trat Dzana mir in die Rippen. Ich schrie vor Schmerz auf. Die Luft blieb mir jedoch weg, sodass kein Ton mehr herauskam. Es war ein klägliches Röcheln, das meiner Kehle entwich. Tränen liefen über meine Wangen.

"Na, wie fühlst sich das an gedemütigt zu werden?", brüllte Mathilde und zog mich an meinen Haaren nach oben. Dann schlug sie mir ins Gesicht. Der Schlag war so heftig, sodass ich mich kurz benommen fühlte.

"Du bist so eine Verräterin!", brüllte sie mir aus nächste Nähe ins Gesicht.
Noch nie zuvor hatte ich sie so hasserfüllt gesehen.

Ich spürte einen Hieb in die Magengrube, sodass ich kurz das Gefühl hatte mich übergeben zu müssen.

Zunehmend fragte ich mich, wie weit sie noch gehen würden? Wie sehr hassten sie mich? So sehr, um mich todzuprügeln? Oder um mich vor den Zug zu schmeißen.

Ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob das meine letzten Sekunden in meinem erbärmlichen Leben waren.

Mein Herz schlug so heftig, sodass es in meiner Brust weh tat. Ich konnte das Blut durch meine Adern rauschen hören. Ein dumpfer Schmerz pulsierte durch meinen gesamten Körper.

"HEY!", ertönte plötzlich eine Stimme, die sehr tief war und offenbar Mathilde, Dzana und Charly dazu brachte von mir abzulassen. Mein Körper fiel kraftlos zu Boden.

Ich hörte sie wegrannten. Gleichzeitig nahm ich aber auch wahr, wie sich mir jemand näherte.

Es fiel mir schwer meine Augenlider zu heben.

"Lilly", hörte ich eine bekannte Stimme.

Starke Arme umschlossen mich und hoben mich hoch. Er trug mich zur Bank und setzte mich dort vorsichtig ab. Es war alles so schnell gegangen, sodass ich noch gar nicht verstanden hatte, was gerade eigentlich passiert war.

Pepes Gesicht schob mich in mein Blickfeld. Vor Erleichterungen kamen sofort noch mehr Tränen.

"Bist du okay?", fragte er besorgt.

Sein Blick musterte einmal meinen gesamten Körper. Offenbar auf der Suche nach möglichen Verletzungen.

"Ich glaube schon", schluchzte ich, obwohl ich alles andere als okay war.

"Tut dir nichts weh? Soll ich einen Krankenwagen rufen?"

Plötzlich überkam mich all die Panik und Todesangst. Die Tränen brachen nun überfallartig aus mir heraus. Pepe verstand sofort und nahm mich schützend in seine Arme.
"Es ist okay. Ich bin hier. Sie können dir nichts mehr tun."

Bei Pepe wusste ich, dass es wirklich so war. Auch wenn Dzana, Mathilde und Charly zu dritt waren; gegen Pepe hätten sie keine Chance.

Ich drückte mich an ihn. Je mehr Körperkontakt wir hatten, desto besser.

"Ich hatte solche Angst", wimmerte ich in seine Jacke hinein.

Er strich mir über den Hinterkopf. Es war erstaunlich wie feinfühlig seine riesigen Pranken waren.

"Ich weiß", sagte er sichtlich bewegt und sah mir nun wieder in mein Gesicht. "Lilly, tut dir etwas weh?" Sanft hatte seine Handflächen auf meine Wangen gelegt.

Ich stand so sehr unter Schock, sodass ich keinerlei körperlichen Schmerz mehr verspürte. Es war eine allumgreifende Taubheit übrig geblieben. Also schüttelte ich den Kopf.

"Dein Auge sieht geschwollen aus", bemerkte er. "Am besten fahr ich dich in die Notaufnahme."

"Nein!", entgegnete nicht sofort.

"Aber wir sollten zumindest die Polizei informieren."

"Nein!", sagte ich wieder. "Ist schon gut. So schlimm ist es nicht"

Ich hatte einen Tritt und drei Schläge abbekommen. Es hat weh getan, aber ich hatte wirklich nicht das Gefühl, dass ich ernsthaft verletzt war. Es würden sicherlich ein paar Blessuren übrig bleiben, mehr aber auch nicht.

"Du siehst aber wirklich nicht gut aus." Ich schwieg und er schien zu verstehen, dass ich wirklich keinen Arzt sehen wollte. "Kanntest du diese Mädchen?"

Beschämt nickte ich.

Pepe stellte sicher, dass er immer in irgendeiner Form Körperkontakt zu mir hatte, auch wenn es nur eine Hand auf meiner Schulter war. Einfach nur, um mir zu zeigen, dass er für mich da war.

"Ja, lange Geschichte. Ich will nicht darüber reden."

"Okay, musst du auch nicht."

"Warum warst du überhaupt hier?", fragte ich mit heiserer Stimme.

Ich wollte mir lieber gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er nicht aufgetaucht.

"Du hast dein Handy liegen lassen. Ich hatte gehofft, dich noch zu erwischen."

Erst jetzt spürte ich, wie sehr ich am ganzen Körper zitterte.

"Das war dann wohl riesiges Glück für mich."

Ich sprach so leise, sodass ich mir nicht sicher war, ob er mich überhaupt verstanden hatte. Meine Zunge wirkte schwer und kraftlos.

Dieses Mal war ich es, die die Umarmung initiierte. Ich brauchte eine starke Schulter zum Ausheulen und er konnte sie mir geben. Ich schmiegte mich an ihn und sofort umschloss er mich mit seinem riesigen Körper. Er schirmte mich vor all dem Bösen dieser Welt ab.

"Sccchhh, ist okay. Alles ist gut, Lilly. Ich bin hier und ich gehe auch nicht mehr weg."

Ja, er war hier und das war alles, was im Moment für mich zählte.

***

Lillys Instgram Account: upsanddownsoflilly

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top