Kapitel 15 - Popcorn aus Müllsäcken

Ich konnte es kaum glauben. Ich stand hier in einer schwarzen Anzugshose und einem hässlichen Polohemd und scannte Kino-Tickets.

Ich hatte den Job im Kino tatsächlich bekommen und das sogar ohne Bewerbungsgespräch und innerhalb von zwei Tagen. Pepe musste wirklich ein gutes Wort für mich eingelegt haben und ich würde mein Bestes geben, um niemanden zu enttäuschen. Dieser Job bedeutete mir alles, denn es könnte mein Weg in die Unabhängigkeit sein.

Meine Eltern dachten währenddessen, dass ich gerade meine Abi-Prüfung in Mathe schrieb. Noch immer hatte ich mich nicht dazu überwinden können ihnen die Wahrheit zu sagen.

Für meine erste Schicht war ich für einen Kindergeburtstag eingeteilt worden und wie es der Zufall wollte, hatte ich die Schicht mit Pepe zusammen. Im Prinzip hatte man mir noch keine Aufgabe gegeben, außer die Karten der sieben Kinder zu scannen und sie freundlich zu begrüßen. Ich sollte mir erst einmal den Ablauf anschauen und eben da aushelfen, wo ich konnte.

Ich hatte befürchtet, dass die Kinder aufgrund von Pepes imposanter Erscheinung und seiner tiefen Stimme eingeschüchtert sein würden. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Er hatte eine so witzige und liebenswürdige Art mit den Kindern umzugehen, sodass sie ihn von Anfang an in sein Herz geschlossen hatten. Sie fanden ihn richtig witzig und lachten über seine platten Witze.

Weil ich mit kleinen Kindern noch nie zuvor Kontakt gehabt hatte, stand ich derweil Fehl am Platz in der Gegend herum. Schließlich zog eins der Kinder jedoch an meinem T-Shirt. Es war die kleine Schwester vom Geburtstagskind und somit die kleinste von allen.

"Duuu. Ich muss mal auf Toilette. Ganz dringend."

Die kleine starrte mich mit ihren großen braunen Augen an.

"Ähm", sagte ich unsicher, weil ich keine Ahnung hatte, wie man mit Kindern in diesem Alter sprach. Ich konnte nicht einmal ihr Alter einschätzen. War sie vier? Oder acht? Ich hatte keine Ahnung, da es in meinem bisherigen Leben nie Berührungspunkte mit kleinen Kindern gegeben hatte. "Die sind dort hinten!" Ich zeigte zu dem Schild, auf dem groß "WC" stand.

Skeptisch sah sie mich an.

"Ich trau mich nicht allein. Kannst du mitkommen?"

Sofort sah ich verunsichert zu Pepe, der das Gespräch aufgegriffen hatte.
"Geh ruhig. Wir warten hier auf euch", sagte er beiläufig und begann dann den Kinder zu erklären, wie man Filme synchronisierte und gab dabei seine beste Imitation des Schneemann Olaf. Die Kinder lachten daraufhin laut und herzlich.

Das Mädchen nahm wie selbstverständlich meine Hand.

"Na dann komm mit!", sprach ich verkrampft und dachte insgeheim, dass ich wohl doch nicht für diesen Job geeignet war. Kinder sollte ich wohl besser auch nicht in die Welt setzen.

Ich führte sie schweigend zu den Toiletten. Worüber unterhält man sich mit einem Kind?

"Soll ich mit in die Kabine kommen?", fragte ich unsicher. "Brauchst du dabei HIlfe?"

Entsetzt sah sie mich an.

"Ich bin sechs! Das kann ich schon längst allein!"

Okay, dann eben nicht!

"Hände waschen nicht vergessen!", erinnerte ich sie, als sie aus der Kabine kam und schnurstraks den Ausgang anpeilte. Sie verdrehte kurz die Augen, wusch sich dann jedoch ohne Diskussion die kleinen Finger.

Pepe lächelte mich an, als ich mit dem kleinen Mädchen zurückkam. Ich war mir sicher, dass er bemerkt hatte, wie unwohl ich mich fühlte.

Schließlich hatte die Tour durch das Kino jedoch ein Ende und wir konnten sie an die Eltern abgegeben, damit sie sich gemeinsam zur Krönung des Tages einen 3D-FIlm anschauen konnten.

"Du warst gut", lobte mich Pepe, als wir die Popcorn-Vorräte aus dem Lager holten. Ich war ein wenig desillusioniert, als ich den Raum mit kiloweise Popcorn in Müllsäcken sah. Genau genommen, war es wahrscheinlich keine Müllsäcke, aber sie sahen genauso aus. Und dafür bezahlte man 5 Euro?

"Lüg nicht", erwiderte ich. "Ich habe einfach keinerlei Erfahrung mit kleinen Kindern."
"Ist doch nicht schlimm. Das lernt man schnell."
"Du kannst das auch total gut!"

Bei ihm wirkte es vollkommen natürlich.
"Ja, aber ich habe auch vier jüngere Geschwister. Ich bin damit aufgewachsen immer ein kleines Kind in meiner Nähe zu haben. Hast du keine Geschwister?"

Er warf sich einen Sack Popcorn über die Schulter.

"Doch schon. Eine Schwester, aber wir verstehen uns nicht wirklich gut."

Er sah mich mitfühlend an.
"Schade. Ist sie jünger oder älter?"
"Gleichalt."

"Zwillinge?", kombinierte er schnell. Er machte dieses freudige Gesicht, dass alle machten, wenn sie hörten, dass ich eine Zwillingsschwester hatte. Die Gesellschaft hatte von Zwillingen eindeutig ein sehr unrealistische Vorstellung. Alle dachten, wir wären beste Freundinnen. "Und trotzdem versteht ihr euch nicht?"
Ich schüttelte den Kopf.

"Wir sind sehr verschieden. Sowohl vom Aussehen, als auch vom Charakter. Du würdest niemals denken, dass wir Zwillinge sind."

"Manchmal kommt sowas erst im Alter", versuchte er mich aufzumuntern.

Doch das Ava und ich uns mal gut verstehen würden, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Auch nicht in 80 Jahren. Wir schafften es ja kaum 20 Minuten in einem Raum zu sein, ohne uns gegenseitig zu nerven. Zudem war sie schon immer das Lieblingskind unserer Eltern gewesen. Sie war dünner, schöner, schlauer und sportlicher. Es war, als hätte sie all die guten Gene abbekommen und ich nur den nicht brauchbaren Rest. Und ich würde mich selbst belügen, wenn ich sagen würde, dass ich deshalb nicht manchmal ein bisschen neidisch auf sie gewesen war.

Nachdem wir unsere Schicht beendet hatten, hatten wir noch genug Kraft für ein Crossfit-Training aufbringen können. Ich freute mich, dass dieses Mal auch Bela mit dabei war. Mein Herz machte jedes Mal einen kleinen Freudensprung, wenn Bela in der Nähe war.

"Ich hoffe, es geht dir wieder besser", hatte er mir ins Ohr geflüstert, als er mich zur Umarmung fest an sich gedrückt hatte. Für einen kurzen Moment hatte ich meine Augen geschlossen, um den Moment zu genießen.

"Ja, ich habe wieder neuen Mut geschöpft und einen Job" verkündete ich stolz, auch wenn ich dafür nicht viel getan hatte.

Er grinste breit.
"Davon habe ich schon gehört", ließ er mich wissen. "Das ist doch großartig!"

Man sah ihm richtig an, wie sehr er sich von Herzen für mich freute. Ich konnte mich nicht erinnern, dass jemals jemand anderes so sehr mit mir mitgefühlt hatte.

"Ja, ich muss noch viel lernen, aber für den ersten Tag war es ganz okay. Es fühlt sich auf jeden Fall sehr gut an sein eigenes Geld zu verdienen. Ich kann es jetzt schon kaum erwarten, meine erste Zahlung zu erhalten."

"Für was wirst du es ausgeben?", fragte Amirah, die gerade aus den Umkleiden kam und sich neben mich setzte. Ihre Sporttasche ließ unter den Tisch fallen.

"Für meinen Führerschein."
Sie verzog das Gesicht.

"Ja, der kostet leider viel zu viel. Aber wenn der abbezahlt ist, dann hast du doch bestimmt ein spannenderes Sparziel, oder?"

Ich schüttelte den Kopf. Abgesehen vom Führerschein hatte ich mir keine Ziele ersetzt. Dieses Ziel war für mich schon Herausforderung genug.

"Nein, nicht wirklich."
"Echt? Keine aufregenden Reisen?"

Ich wüsste nicht einmal, mit wem ich reisen sollte und alleine durch die Welt zu tingeln war schon gar nicht meins.

"Lilly, weißt du noch, wie wir früher immer von Australien geschwärmt haben?", warf Bela ein.
Natürlich!

"Ich hatte sogar eine Australien-Flagge über meinem Bett hängen."

"Du hast doch jetzt Zeit. Warum nutzt du nicht Gelegenheit und machst Work and Travel in Australien? Das ist doch die perfekte Gelegenheit!"

Würde er es nicht so ernst meinen, hätte ich vermutlich laut losgelacht. Als ob ich der Typ Mensch war, der alleine in ein Flugzeug stieg, um die halbe Welt zu fliegen. Und das, um dann vollkommen allein in einem Land zu sein, in dem mich jedes zweite Tier umbringen möchte.

"Schön wär's", tat ich es beiläufig ab, doch Belas Gesichtsausdruck sah ich an, dass ich ihn so nicht von der Idee abbringen könnte.

"Ich meine es ernst! Du hast die Zeit und bist eh gerade in der Findungsphase. Das ist doch die Gelegenheit. Du kannst dich ein bisschen ausprobieren und siehst was von der Welt!"

"Ich finde auch, dass sich das nach einem tollen Abenteuer anhört", stimmte Amirah zu und fiel mir somit in den Rücken.

Pepe lauschte schweigend und drehte ein wenig gedankenverloren sein Glas in den Händen.

"Ich habe doch gar kein Geld", versuchte ich zu rechtfertigen.
"Deshalb gehst du doch jetzt arbeiten und da kannst du auch arbeiten gehen. Deshalb heißt es doch WORK and travel", warf Bela ein, der mich ganz offensichtlich nach Australien abschieben wollte. "Das würde dir so viel bringen! Auch bezüglich deiner persönlichen Entwicklung."

Ich begann heftig den Kopf zu schütteln. Keine hundert Taranteln würde mich in ein Flugzeug ans andere Ende der Welt bekommen.

"Nein, lasst mal gut sein."

Nie im Leben würde ich das alleine wagen.

"Also ich finde es schön dich hier zu habe und auch hier zu behalten" brachte Pepe nun doch ein paar Worte über die Lippen.

***

Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

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