Kapitel 1 - Wenn aus einem Salzkorn ein Elefant wird

"Lilly, gibst du mir mal bitte das Salz?", fragte mich mein Vater, während wir am Essenstisch in der Küche saßen. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, was das letzte Mal gewesen war, dass wir als Familie zusammen Abendbrot gegessen hatten.

Die Stimmung war eh schon angespannt, doch ich spürte, dass dieser Satz nicht zur Lockerung beitragen würde.

"Schmeckt es dir nicht?", fragte meine Mutter und sah dabei aus, wie eine Löwin, die nur darauf wartete sich auf ihre Beute zu stürzen.

Mein Vater hätte gut daran getan, die Opferrolle anzunehmen und die Flucht zu ergreifen. Doch er tat es nicht. Er war eben der stolze Löwe.

"Doch es schmeckt gut. Es fehlt nur etwas Salz", entgegnete er bestimmt.
Ich griff nach dem Salzstreuer, um ihn meinem Vater zu geben. Doch das Reaktionsvermögen meiner Mutter war besser ausgeprägt als mein eigenes. Blitzschnell hatte sie das Objekt der Begierde in ihre Fittiche genommen.

"Ich habe es extra nicht stark gesalzen", zischte sie in die Richtung meines Vaters. "Dein Blutdruck ist jenseits von Gut und Böse. Salz ist da pures Gift für dich."

Die beiden tauschten Blicke aus, als hätten sie ihren Erzfeind vor sich. Vielleicht war es sogar tatsächlich so. Wie so oft begann ich mich unwohl zu fühlen. Meiner Schwester, die mir gegenüber saß, schien ähnliches durch den Kopf zu gehen. Schon seit Monaten war es kaum zu ertragen mit meinen Eltern in einem Raum zu sein. Es würde vermutlich friedlicher verlaufen, ein Schalke- und Dortmund-Fan in einen Raum zu sperren.

"Ich werde ja wohl noch selbst entscheiden dürfen, was ich esse", brummte mein Vater. "Also gib den verdammten Salzstreuer her."

Mama schüttelte den Kopf, stand dann auf und ließ den Salzstreuer vor den Augen unser allen in den Mülleimer fallen. Das Scheppern hallte durch den Raum.

"Du bist doch verrückt", rief mein Vater nun und wurde deutlich lauter. "Warum musst du denn jetzt so einen Aufriss machen wegen ein bisschen Salz? Können wir nicht einmal harmonisch als Familie am Tisch sitzen?"

"Ich?", fragte meine Mutter entsetzt. "Jetzt bin ich die Böse? Ich glaube, du spinnst wohl! Du hast mich doch provoziert! Ich sorge mich nur um deine Gesundheit!"

"Als ob! Dann würdest du nicht ständig so einen Stress machen. Denn der setzt meinem Blutdruck zu und nicht die eine Prise Salz!"

Papa brüllte mittlerweile so laut, sodass die Katze schon den Raum verlassen hatte. Auch sie hatte mittlerweile gelernt, dass man Konflikten zwischen Mama und Papa besser aus dem Weg ging.

Meine Schwester Ava und ich entschieden uns ihr zu folgen. Das war nicht mehr auszuhalten.

"Ich ess in meinem Zimmer", entschuldigte ich mich, obwohl mir eh schon keiner mehr zuhörte.

"SIEHST DU, WAS DU GETAN HAST?", schrie meine Mutter mit heiserer Stimme. "DU TREIBST DIESE FAMILIE INS ABSOLUTE VERDERBEN!"

"ICH?", erwiderte mein Vater. "DU PROVOZIERST DOCH DIE GANZE ZEIT!"

Ava und ich tauschten noch einmal kurz Blicke aus, ehe wir in unseren Zimmer verschwanden und die Stimme unserer Eltern zumindest ein wenig abgedämpft wurden.

Ich hatte es so satt. Es war jeden Tag das gleiche. Immer dieses Rumgeschreie. Was sollte das denn bringen?
Ich ließ scheppernd den Teller mit meinem Essen auf meinen Schreibtisch fallen. Mir war ausnahmsweise mal der Appetit vergangen.

Weder Ava noch ich wussten, warum es in den letzten Monaten so zwischen Mama und Papa eskaliert war. Würde man die Zwei zu Gladiatorenkämpfen zulassen, wäre es das Gemetzel des Jahrhunderts. Ich fragte mich, wie aus Liebe so ein Hass entstehen konnte.

Ich griff nach meinem Handy. Eine Träne tropfte auf das Display.

Es war nicht leicht, wenn man jeden Tag mitansehen musste, wie die eigene Familie ein Stück mehr zerbrach.

Ich öffnete den Gruppenchat "Girls Gossip". In dieser Gruppe mit dem wenig kreativen Namen waren meine drei besten Freundinnen: Dzana, Mathilde, Charly

Hey Mädels, meine Eltern streiten schon wieder. Ich muss hier einfach raus. Hat einer von euch Zeit für ein bisschen Ablenkung?

Ich legte das Handy für einen Moment beiseite und wischte meine Tränen weg. Ich hasste es, dass ich mich so sehr von etwas herunterziehen ließ, auf das ich nicht einmal Einfluss hatte. Man würde von vernünftigen Eltern doch erwarten, dass sie ihre Kinder aus den eigenen Streitigkeiten herausließen. Doch meine Eltern schienen in ihren Töchter das ideale Publikum für ihre Revierkämpfe gefunden zu haben. Sie waren so fokussiert darauf, den anderen eins auszuwischen, sodass sie nicht einmal mitbekamen, das Ava schon längst kein gesundes Essverhalten mehr hatte.

Ich richtete mich auf und stellte mich vor den Spiegel. Langsam drehte ich mich in alle Richtungen und begutachtete meine Speckrollen. Ein gesundes Verhältnis zum Essen hatte ich leider auch nicht. Seitdem Mama und Papa angefangen hatten zu streiten, hatte ich es mit allem kompensiert, wovon Ernährungswissenschaftler abraten würde: Zucker, einfache Kohlenhydrate und gesättigte Fettsäuren waren mein Trostpflaster geworden.

Und leider war dieses Trostpflaster mittlerweile gut sichtbar.

Ich hasste mein Spiegelbild. Schon viel zu lange traute ich mich nicht mehr auf die Waage zu steigen, denn ich hatte Angst vor dem, was ich sehen würde. Auch ohne Zahl wusste ich, dass ich mittlerweile ins Übergewicht gerutscht war. Vermutlich nicht adipös, aber schlimm genug, um mich unwohl zu fühlen.

Während ich mir meine Orangenhaut an den Beinen ansah, fragte ich mich, warum ich es so weit hatten kommen lassen. Wieso ließ ich zu, dass die Probleme meiner Eltern sich auf meinen Körper niederschlugen? Oder hatte ich es vielleicht nur als Vorwand genommen?

Gab ich meinen Eltern für meine eigene Faulheit die Schuld?

Ich ertrug mein Spiegelbild nicht länger und hüllte mich in einen dicken Bademantel. Das konnte jedoch nicht verhindern, dass ich mich plötzlich furchtbar hässlich fühlte.

Ich griff wieder zu meinem Handy.

Alle drei hatten meine Nachricht gelesen.

Keine hatte geantwortet.

Nun kamen noch mehr Tränen.

Schon länger hatte ich das Gefühl, dass sie nicht mehr wollten, dass ich Teil ihrer Gruppe war. Ich wusste nicht warum. Vielleicht, weil ich zugenommen hatte? Weil ich hässlich war? Weil mein Leben kaputt war?

Wütend schmiss ich das Handy auf mein Bett. Ich schmiss mich hinterher und schrie in mein Kissen. Selbst wenn ich das Kissen nicht zum Dämpfen des Schreis genutzt hätte, wäre es wohl trotzdem niemanden aufgefallen. In dieser Familie war jeder viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Für mich bedeutete das, dass ich weder Familie, noch richtige Freunde hatte, die für mich da waren.

Ich fühlte mich auf dieser Welt so allein.

Wie so oft fragte ich mich, was ich falsch machte. Ich versuchte zu allen nett zu sein und es allen recht zu machen, doch im Endeffekt machte ich doch alles falsch.

Ich hatte mein Leben satt und das schon viel zu lange.

Ich war 18 Jahre alt. Ich sollte feiern gehen, verrückte Dinge tun, lachen und Spaß haben. Ich sollte die erste Liebe erfahren - oder wahrscheinlich sogar schon die zweite oder dritte. Doch das war nicht mein Leben. Mein Leben war traurig, einsam und frustrierend.

Mein Handy vibrierte.

Hatte doch jemand Mitleid gehabt und sich dazu überwinden können, sich mit mir zu treffen? Ich sah auf das Display. Keine meiner Freundinnen hatte geschrieben. Dafür hatte ich eine E-Mail erhalten.

Von Bela Liszt.

Ungläubig starrte ich auf dem Absender. Ich hatte schon seit 6 Jahren nichts mehr von Bela gehört. Wir waren beste Freunde in der Grundschule gewesen, doch als wir auf verschiedene Schule gewechselt waren, hatten sich unsere Wege getrennt.

Ich weiß noch, wie wir uns am letzten Tag in der Grundschule geschworen hatten: Wir bleiben Freunde für immer!
Und dann war das Leben dazwischen gekommen und nach den Sommerferien haben wir uns nur noch gegrüßt, wenn wir uns mal über den Weg gelaufen sind. Und auch das ist schon Jahre her. Ich hatte Bela aus den Augen verloren noch bevor er wirklich in die Pubertät gekommen war.

Neugierig öffnete ich die E-Mail:

Hallo Lilly,

hier ist Bela. Ich bin 8 Jahre alt. Wir haben heute den Nachmittag zusammen verbracht. Und wir hatten die Idee, dass wir uns in genau 10 Jahren wieder treffen. Mein großer Bruder hat die E-Mail so eingestellt, sodass du sie erst in 10 Jahren erhältst. Falls du nicht mehr weißt, wann und wo wir uns treffen wollten, schau in deinem Buch "Der glückliche Prinz" von Oscar Wilde nach. Da ist ein Zettel, auf dem alles steht.


Bis dann

Bela

Tatsächlich brachten mich diese Worte zum Schmunzeln. Ich hatte diese E-Mail ganz vergessen. Doch jetzt, wo ich sie vor mir hatte, erinnerte mich wieder daran. Ich war dem 8-jährigen Bela dankbar, dass wenigstens er für mich da war und mich für einen Moment meine Probleme vergessen ließ.

Eigentlich war es ziemlich schade, dass diese Freundschaft nicht gehalten hatte. Wir waren wirklich gute Freunde gewesen.

Ich fragte mich, wie Bela gerade reagierte, der eine sehr ähnliche E-Mail an seinen Account bekommen hatte - von meinem 8-jährigen Ich.

Leider kam es mir nicht mehr in den Sinn, wo wir uns verabredet hatten. Und blöderweise wusste ich auf Anhieb auch nicht, wo "Der glückliche Prinz" war. Das Buch hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr gelesen, obwohl es immer mein Lieblingsmärchen gewesen war. Doch ich wusste zumindest, wo ich anfangen konnte zu suchen: Auf dem Dachboden, auf dem Papa all seine Bücher lagerte.

Und wenn ich es gefunden hatte, dann konnte ich mir immer noch überlegen, ob ich zu dem Treffen gehen würde. 

***

Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

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