17 - Ab in die Freiheit

Landon ist nicht der Einzige, der nachmittags am Strand auf mich wartet, denn neben ihm steht ein älterer Herr. Er hat mintgrüne Augen, die mir komischerweise total bekannt vorkommen, graue Haare und faltige Haut. Das Lächeln, das seine Lippen umspielt, lässt ihn direkt sympathisch und gutherzig erscheinen.

„Hey, Maila", begrüßt mich Landon als Erster von ihnen. Er zieht mich wie immer in eine kurze Umarmung, bevor er mir den Mann neben sich vorstellt. „Das ist Joe. Du erinnerst dich bestimmt noch an ihn, oder?"

Oh mein Gott! Bei der Erwähnung von Joes Namen rutscht mir mein Herz bis in die Unterhose hinab.

Das ist der Mann, den ich an meinem ersten Tag in Sunhaven aus dem Meer gerettet habe. Er lebt! Und es scheint ihm gut zu gehen!

Vollkommen überrumpelt strecke ich Joe meine Hand entgegen und murmele: „Hallo. Ich bin Maila."

„Ich weiß", lacht mich Joe freundlich an. „Landon hat mir schon viel von dir erzählt. Oder sollte ich lieber sagen: Er hat schon viel über dich geschwärmt?!" Sein freches Zwinkern entfacht ein loderndes Feuer in meinen Wangen und zwingt mich dazu, verlegen den Blick zu senken.

Landon hat wirklich von mir geschwärmt? Diese Vorstellung ist so schön, dass die Schmetterlinge in meinem Magen zum Leben erwachen und aufgeregt von rechts nach links flattern.

„So, jetzt aber mal Spaß beiseite." Joes Stimme nimmt einen ernsten Ton an. Er wartet, bis ich meinen Blick wieder auf ihn richte und sagt dann voller Aufrichtigkeit: „Danke, dass du so mutig warst und mir das Leben gerettet hast, Maila! Ich werde ewig in deiner Schuld stehen!"

„Ach Quatsch!", winke ich sofort ab, da ich keine Heilige bin. „Das war doch selbstverständlich!"

Zum Glück widersprechen mir Landon und Joe trotz ihrer kritischen Gesichtsausdrücke nicht, denn eine Diskussion ist gerade das Letzte, worauf ich Lust habe.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, Joe zu fragen, wie er vor einigen Tagen überhaupt so weit ins offene Meer abtreiben konnte, doch ich schlucke meine Frage schnell wieder hinunter. Es geht mich schlicht und ergreifend nichts an. Außerdem möchte ich kein Salz in seine Wunden streuen.

Die Hauptsache ist, dass Joe lebt und es ihm den Umständen entsprechend gutgeht!

„Landon hat mir übrigens erzählt, dass du hier Urlaub machst und unvergessliche Dinge erleben möchtest", reißt mich der ältere Herr mit seinem unbeschwerten Plauderton in die Realität zurück. „Als kleinen Dank für deine Rettung habe ich mir eine schöne Überraschung für euch beide überlegt."

Mein Blick schnellt wie ein Pfeil zu Landon hinüber. „Du weißt also auch nicht, was wir machen?", frage ich ihn verwirrt, woraufhin Landon den Kopf schüttelt.

„Im Gegensatz zu dir freue ich mich aber auf Überraschungen."

„Wie witzig ..."

Bevor Landon und ich uns noch weiter necken können, gibt uns Joe mit einem Handzeichen zu verstehen, dass wir ihm folgen sollen. Gemeinsam stapfen wir durch den lauwarmen Sand und werden dabei von dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen begleitet.

Da der Strand noch gut gefüllt ist, müssen wir immer wieder Touristen oder fliegenden Volleybällen ausweichen – was uns zum Glück auch mit Bravour gelingt.

Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch erreichen wir ein kleines Häuschen, das im Sand steht und von mehreren Palmen umschlossen wird. Auf dem Dach befinden sich riesige Buchstaben, die in grünen Neonfarben leuchten.

Lost Turtle Haven.

„Oh mein Gott!", entflieht es mir aufgeregt. „Ist das das, was ich denke, was es ist?"

Bei meinem komplizierten Satzbau müssen sowohl Landon als auch Joe lachen. „Was denkst du denn, was das hier ist?", fragt mich Letzterer neugierig.

„Eine Schildkrötenrettungsstation?" Hoffnung und ein Funken Vorfreude schwingen in meiner Stimme mit, denn nach den Delfinen mag ich Babyschildkröten am liebsten.

Einen kurzen Moment lässt mich Joe noch in der Ungewissheit tappen, ehe er sich zwinkernd an Landon wendet und sagt: „Ein ziemlich cleveres Mädchen, das du dir ausgesucht hast."

Kaum sind seine Worte verklungen, finden Landons und meine Augen zusammen. Wir halten uns gegenseitig mit unseren Blicken gefangen und lächeln schüchtern.

Je mehr Zeit wir miteinander verbringen, umso inniger wird unsere Bindung.

Vielleicht ist es noch zu früh, um von verliebt-sein zu sprechen, aber die ersten romantischen Gefühle machen sich definitiv bemerkbar.

„Zeit zum Flirten habt ihr später immer noch!", unterbricht Joe unseren intensiven Blickkontakt. „Kommt mit! Ich habe etwas für euch vorbereitet."

Während Joe erhobenen Hauptes vorausmarschiert, folgen Landon und ich ihm händchenhaltend. Wie auch an allen anderen Gebäuden in Sunhaven befindet sich neben der Eingangstür ein weißes Schild mit der Aufschrift You're not lost. You're here.

Sofort fühle ich mich noch wohler als ich es ohnehin schon tue.

Joe führt uns im Inneren des Hauses durch einen schmalen Gang und erklärt uns dabei: „In unserer Rettungsstation kümmern wir uns um verletzte Schildkröten. Wir pflegen sie wieder gesund, bis sie stark genug sind, um zurück ins Meer zu können."

Ein sehr schöner und wichtiger Beruf, wie ich finde.

Am Ende des Flures öffnet Joe eine Tür auf der rechten Seite und lässt Landon und mich zuerst eintreten. Direkt landen meine Augen auf einer riesigen Glasbox, die sowohl über einen Land- als auch einen Wasserbereich verfügt. Wie von selbst tragen mich meine Füße zu dem Terrarium; mein Blick ist dabei permanent auf der Suche nach einer Schildkröte.

Nach ein paar Sekunden hilft mir Landon auf die Sprünge, indem er mit seinem Zeigefinger auf eine künstliche Höhle aus Steinen deutet.

Und tatsächlich: Verborgen in den dunklen Schatten erkenne ich die Umrisse einer Meeresschildkröte.

„Wow", staune ich leise. Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass diesem Tier geholfen wurde und es bald zurück in seinen ursprünglichen Lebensraum kann.

„Hat die Schildkröte eigentlich einen Namen?", möchte ich neugierig von Joe wissen.

Sein Lächeln verwandelt sich bei meiner Frage in ein Grinsen und lässt seinen Gesichtsausdruck spitzbübisch und frech erscheinen. „Normalerweise geben wir den Schildkröten keine Namen, aber hier habe ich eine Ausnahme gemacht", erklärt er mir. „Die Schildkröte heißt Maila. Genauso wie meine Lebensretterin."

Moment mal, was?!

Erst denke ich, dass ich mich bloß verhört habe, doch Joes Zwinkern und Landons breites Strahlen verraten mir, dass mir meine Ohren keinen Streich gespielt haben.

Joe hat die Schildkröte tatsächlich nach mir benannt.

„Wow!", wiederhole ich mich überwältigt von meinen Gefühlen. „Was für eine Ehre!"

„Ehre, wem Ehre gebührt", erwidert Joe daraufhin. Sobald sich seine Worte in dem Raum verloren haben, zieht er sich Gummihandschuhe über und greift nach einem großen Eimer, der mit Wasser gefüllt ist.

Ich kann gar nicht so schnell gucken, da hat Joe auch schon die Schildkröte aus ihrer Höhle geholt und vorsichtig in den Eimer gesetzt.

Oh Gott, was passiert hier gerade?

Als könnte Joe meine Gedanken lesen oder meinen rasenden Herzschlag hören, fragt er Landon und mich: „Habt ihr Lust, Maila zurück ins Meer zu bringen? Sie war jetzt lange genug hier und ist endlich bereit, unsere Rettungsstation zu verlassen."

Ungläubig starre ich Landon an. In seinen dunkelbraunen Augen spiegelt sich vermutlich derselbe Gefühlswirbelsturm wider, wie in meinen.

Meint Joe das wirklich ernst?

Ein Blick in sein Gesicht reicht, um zu wissen, dass er keine Späße macht.

„Äh, j-ja", stammele ich überfordert. „Natürlich wollen wir Maila zurück ins Meer setzen!" Vor lauter Aufregung kann ich mir einen leisen Freudenschrei nicht verkneifen. „Oder, Landon?"

„Natürlich!"

Wir streifen uns noch schnell Gummihandschuhe über, ehe wir gemeinsam mit Joe zurück an den Strand gehen. „Für gewöhnlich werden die Schildkröten nachts ausgesetzt, aber weil die Strömungsverhältnisse gerade optimal sind, darf Maila schon eher nach Hause", erklärt er uns fachmännisch.

So wie Landon in seinem Beruf als Tauchlehrer aufgeht, genauso viel Leidenschaft strahlt Joe im Umgang mit den Schildkröten aus. Es ist schön, dass beide ihren Traum ausleben können.

Wir laufen noch ungefähr fünf Minuten durch den lauwarmen Sand, bis wir eine kleine Bucht, die von Felsen eingeschlossen wird, erreichen. Das Meer glitzert im Sonnenschein und die Wellen rauschen.

Joe stellt den Eimer mit der Schildkröte auf dem Boden ab und schaut Landon und mich abwechselnd an. „Worauf wartet ihr denn noch?", fragt er uns halb amüsiert und halb entsetzt. „Maila wartet auf ihre Freiheit!"

Hilfesuchend blicke ich zu Landon hinüber, doch er wirkt genauso unentschlossen wie ich. „Was genau müssen wir denn machen, Joe?", fragt er den Tierretter verunsichert.

„Ganz einfach: Maila aus dem Eimer nehmen und in den Sand setzen. Fertig!"

Okay, das hört sich definitiv machbar an.

Zögerlich treten Landon und ich auf den Eimer zu. Die Schildkröte liegt entspannt im Wasser und lässt sich hin und her treiben. Fast schon sieht es so aus, als würde sie zufrieden grinsen.

„Wollen wir Maila gemeinsam aus dem Eimer heben?", fragt mich Landon lächelnd. Sofort stimme ich ihm mit einem Kopfnicken zu.

Voller Vorsicht und bedacht darauf, der Schildkröte nicht wehzutun, legen wir unsere Hände unter ihren Bauch. Trotz der Handschuhe kann ich ihren harten und glitschigen Panzer mehr als nur deutlich spüren.

Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, als Landon und ich die Schildkröte gemeinsam aus dem Wassereimer heben und langsam im Sand absetzen. Obwohl es sich nur um wenige Sekunden handelt, schweißt uns dieser besondere Moment noch mehr zusammen.

Während sich Schildkröte Maila gemächlich in Bewegung setzt, schlingt Landon seinen Arm um meine Taille, sodass ich meinen Kopf gegen seine Brust fallen lassen kann.

Der Anblick, der sich uns gerade bietet, ist atemberaubend schön. Schritt für Schritt kämpft sich die Schildkröte zum Meer, das in einen goldenen Schleier aus Glitzerpartikeln gehüllt wird. Die Sonne wandert immer tiefer am Horizont entlang und taucht die Welt in ein magisches Leuchten.

„Ich glaube, so langsam kann ich mich doch mit Überraschungen arrangieren", lächele ich leise.

Landon schmunzelt und haucht mir einen federleichten Kuss auf den Haaransatz. Ich kann hören, wie er nach Luft schnappt, um etwas auf meine Aussage zu erwidern, doch Joe, der ein paar Meter hinter uns steht, kommt ihm zuvor, indem er amüsiert grölt: „Jetzt küsst euch doch mal richtig! Noch romantischer wird es nicht!"

Wie von selbst drehe ich mich zu Landon und werde sogleich von seinen dunklen Augen, die das goldene Sonnenlicht reflektieren, in Gefangenschaft genommen.

Mein Herz schlägt schneller und mein Magen kribbelt.

Erst bin ich mir unsicher, was ich jetzt tun soll, aber Landon nimmt mir die Entscheidung ab und verbindet unsere Lippen zu einem zärtlichen Kuss.

Damit ist dieser magische und besondere Moment rundum perfekt!

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