Kapitel 7

Triggerwarnung: Gewalt

„Mimie! Ich hoffe, du hast den Kamin im Salon bereits entzündet. Mach mir einen Tee!“, befahl Bastiane du Saturne ihrer Hauselfe und warf ihr ihren Mantel zu. Dann stolzierte sie geradeaus in den Salon und ließ die Flügeltür geräuschvoll hinter sich zufallen. Das bedeutete, sie wollte mit ihrem Ehemann sprechen.

Melusine hatte sich ihres Mantels bereits erledigt und steuerte die Treppe an, die hinauf in den ersten Stock führte. Sie wollte so schnell wie möglich ihr neues Tagebuch ausprobieren und hatte nicht die geringste Lust, in eine Auseinandersetzung ihrer Eltern zu geraten.

„Wo glaubst du, dass du hingehst?“

Bei der strengen Stimme ihrer Vaters erstarrte Melusine in ihrer Bewegung und drehte sich mit einem bemüht unbekümmerten Gesichtsausdruck zu ihm um. Nicht sicher, ob ihr Vater noch etwas hinzufügen wollte, blieb sie stumm und nahm sich die Zeit, ihn zu betrachten. Obwohl er noch gar nicht alt war, durchzogen silberne Strähnen sein mattbraunes Haar, das wie immer perfekt toupiert war. Auf seiner Stirn deutet sich eine senkrechte Falte an und sein Mund wirkte verkniffen. Wenn sie so darüber nachdachte, konnte sie sich nicht daran erinnern, wann sie ihn das letzte Mal hatte lachen sehen.

„Melusine!“

Diesmal konnte sie ein Zusammenzucken nicht verhindern. „Ich wollte auf mein Zimmer gehen, Vater“, presste sie hastig hervor. Er hasste es, wenn man ihn warten ließ, das wusste sie nur zu gut.

„Komm her!“, befahl er und überging ihre Antwort.

Zögerlich trat Melusine auf ihren Vater zu. Sie konnte gar nicht so schnell reagieren, wie seine flache Hand ihre Wange traf. Ein Wimmern entfloh ihr und sie wich zurück. Was hatte sie bloß falsch gemacht?

„Vergiss nicht, wo dein Platz ist“, war alles, was er zu ihr sagte, bevor er sich abwandte und den Salon auf der gegenüberliegenden Seite des Raums ansteuerte. Kurz vor der Tür hielt er inne und drehte sich nachdenklich zu Melusine um, deren Körper sich augenblicklich verkrampfte.

Bernard du Saturne näherte sich seiner Tochter langsam, beinah vorsichtig. Diese starrte ihn wie ein verschrecktes Reh mit weit aufgerissenen Augen an. Mit irritierender Sanftheit legte er eine Hand an ihre Wange, auf der sich bereits ein roter Handabdruck andeutete. Melusine hielt den Atem an. Der Ausdruck in den Augen ihres Vaters wirkte liebevoll, während er ihr über die Wange strich. „Du bist ein hübsches Kind. Du hast sogar ein wenig Charakter. Vermutlich bist recht klug. Und auch ein wenig hinterlistig, nicht wahr?“ Seine Mundwinkel zuckten. „Du hast so viel, was andere sich nur wünschen können. So viel, auf das du stolz sein kannst. So viel, auf das ich stolz sein könnte. Aber weißt du, was dir fehlt?“

Abwartend sah er sie an. Melusine schüttelte wortlos den Kopf, nicht in der Lage, auch nur einen Ton von sich zu geben. Zu ihrer Erleichterung sprach ihr Vater einfach weiter. „Ein Bruder. Dir fehlt ein Bruder. Dein Leben könnte so leicht sein, wenn du einen Bruder hättest. Nicht nur, weil du dann nicht mehr allein wärst. Er würde dir auch alle Last nehmen, die auf deinen Schultern liegt. Die Bürde, als Mädchen die Erbin der Familie zu sein. Er könnte all die Dinge tun, die heute dir obliegen, bei denen du keine Wahl hast und für die ein Mädchen nun mal nicht gemacht ist. Wenn du einen Bruder hättest, könntest du dein Leben genießen. Und ich wäre stolz auf das, was du bist. Deine Mutter wäre stolz.“

Melusine konnte gar nicht fassen, was sie da gerade hörte.

„Aber du hast keinen Bruder. Du bist allein. Du musst diese Verantwortung tragen. Du musst lernen, was es heißt, eine du Saturne zu sein. Hast du das verstanden?“

Sie antwortete nicht. Sie starrte ihn einfach nur an. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Was soll das heißen?

Urplötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck ihres Vaters. Er schnaubte verächtlich, als hätten die vorherigen Worte nie seinen Mund verlassen.

„Warum bist du nur ein lächerliches Mädchen? Warum bist du kein Junge? Mit einem Sohn könnte ich so viel mehr anfangen. Aber nein, ich werde mit einem schwächlichem Weib gestraft! Enttäusche mich nicht!“ Grob drehte er ihren Kopf zur Seite, nur um sich gleich wieder von sich zu stoßen.

„Du wirst lernen, Schmerzen auszuhalten, wenn du nicht versagen willst.“ Mit diesen Worten zog er seinen Zauberstab und schleuderte Melusine gegen das Treppengeländer. Sofort schoss ihr Blut aus der Nase und Tränen brannten in ihren Augen.

„Reiß dich gefälligst zusammen!“ Eine unsichtbare Peitsche knallte und Melusine schrie schmerzerfüllt auf.

„Bitte, Vater“, wimmerte sie.

„Hör auf zu jammern!“

Wutentbrannt stampfte ihr Vater auf sie zu, zerriss ihr neues Kleid am Rücken und bohrte seinen Zauberstab in ihre Schulterblatt. Melusines Schreie hallten durch die kalte Eingangshalle, als schwarze Linien sich glühend wie flüssiges Feuer auf ihrer Haut ausbreiteten.

Nach einigen Minuten des Leidens, die sich wie Stunden anfühlten, ließ ihr Vater endlich von ihr ab, griff gewaltsam in ihr Haar und stieß sie auf die erste Treppenstufe. „Geh auf dein Zimmer, ich muss mit deiner Mutter sprechen. Abendessen hast du dir nicht verdient. Wir setzten unser Training ein andermal fort.“

~~~

Hastig schloss Melusine ihre Zimmertür und verriegelte sie mit Alohomora. Das taube Gefühl im Bereich ihres linken Schulterblatts ignorierend ging sie zielstrebig auf ihr Bücherregal zu und zog ein besonders dickes Buch heraus. Sie beachtete es jedoch nicht weiter, sondern strich mit ihren Fingerkuppen an der massiven Wand entlang, bis sie eine Kerbe ertastete. Vorsichtig schob sie ihre Fingernägel hinein und öffnete ein hölzernes Fach, das in die Steinwand eingelassen war. Sie langte mit ihrem Arm hinein und holte das Tagebuch hervor, dass sie zu Weihnachten von ihrer Großmutter erhalten hatte.

Mit dem Tagebuch in der Hand setzte sie sich auf ihr Bett. Sie schlug die erste Seite auf und schrieb mit einer Feder ihren Namen darauf. Dann geschah etwas Unerwartetes. Das Papier sog die Tinte ein und stattdessen erschien mit grüner Tinte geschrieben und in der geschwungenen Handschrift ihrer Großmutter das Wort Bienvenue.

Melusine lächelte und begann eifrig, die nächste Seite zu beschreiben. Zufrieden klappte sie das Tagebuch wieder zu, hielt ihren Zauberstab auf das grüne Samt und flüsterte: „Medea.“ Nun sollte es verschlossen sein oder zumindest unlesbar.

Probehalber schlug sie das Tagebuch wieder auf und zu ihrer Enttäuschung war die Schrift nicht verschwunden. Ärgerlich pfefferte sie es auf ihren Schreibtisch.

Erschöpft schälte Melusine sich aus ihrem zerrissenen Kleid und verschwand für eine Katzenwäsche im angrenzenden Badezimmer. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Spiegel und betrachtete die feinen schwarzen Linien, die ein verschnörkeltes S bildeten. Vorsichtig befühlte sie das seltsame Tattoo. „Zut!“, fluchte sie im selben Moment und zog blitzschnell ihre Hand zurück. Es brannte höllisch. Melusine seufzte tief und ging wieder zurück in ihr Zimmer.

Langsam stieg sie in ihr Nachtgewand und ließ sich mit dem Bauch voran auf ihr Bett fallen. Sie vergrub das Gesicht in ihrem himmlisch weichen Kopfkissen und weinte leise vor sich hin. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von ihrer Großmutter in den Arm genommen zu werden.

Melusine erlaubte es sich noch ein paar Minuten, sich ihrer Angst und Enttäuschung hinzugeben, bevor sie sich schon fast trotzig wieder aufrichtete und mit der Hand über ihr Gesicht wischte, um alle verräterischen Transen loszuwerden. Ich darf nicht weinen. Ich muss stark sein, wie Vater es sich wünscht.

Sie nahm ihr Tagebuch wieder zur Hand, öffnete es, riss das beschriebene Blatt heraus, zerknüllte es in ihrer Hand und ließ es dann in Flammen aufgehen. Eine einzelne Träne rann ihr noch die Wange hinab und tropfte auf das Papier. Im selben Augenblick wurde am oberen Rand der Seite in derselben Schrift und Tinte wie zuvor das Datum des vergangenen Tages sichtbar.

Le vendredi 31 décembre 1989 (la Saint-Sylvestre)

***

Halleluja, mein Laptop läuft wieder und es wurden auch keine Dateien gelöscht.

Was sagt ihr zum Verhalten von Bernard?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top