Kapitel 6
„Mademoiselle, aufwachen. Herrin!“
Benommen öffnete Melusine die Augen und sah sich um. Sie lag nicht mehr auf dem harten Parkett des Salons, sondern auf ihrem gemütlichen Himmelbett. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie in ihr Zimmer gekommen war. Vorsichtig hob sie ihren Kopf ein Stückchen an, um wenigstens zu sehen, von wo und wem die Stimme kam, die sie geweckt hatte.
Sofort durchfuhr sie ein heftiger Schmerz und keuchend ließ Melusine den Kopf wieder in das weiche Kissen sinken. Eigentlich hatte sie gut geschlafen, aber mit dem Verlassen ihres traumlosen Schlafs kehrten alle Schmerzen in ihren Körper zurück.
„Herrin?“
Endlich erkannte Melusine die Stimme ihrer treuen Hauselfe. „Laurie?“, fragte sie sicherheitshalber heiser nach.
„Ja, Mademoiselle du Saturne. Hier, trinkt das.“ Die kleine Elfe reichte ihr einen Becher mit Wasser und half ihr beim Trinken. „Laurie hat Euch hinauf gebracht und eure Wunden versorgt. Es sind nur ein paar blauen Flecken an Eurem Hals übriggeblieben. Ihr solltet euch etwas schonen, damit Ihr bis zum Silvesterball wieder gesund seid. Äußerlich mögt Ihr geheilt sein, doch Euer Körper muss sich noch von den Strapazen erholen.“
„Danke, Laurie“, sagte Melusine mit einem kleinen Lächeln.
„Gern geschehen, Mademoiselle. Aber es ist meine Aufgabe, für Euch zu sorgen.“
„W-as“, sie räusperte sich, „Was ist mit meinen Eltern?“
„Sie erwarten Euch die nächsten Tage nicht zum Essen. Ihr werdet auf Eurem Zimmer mit Mahlzeiten versorgt.“ Laurie sah ein wenig genickt aus.
Melusine nickte abwesend und machte sich keine Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Wieso lief seit ihrem Schulbeginn alles aus dem Ruder?
„Oh, oh, nicht weinen, Herrin. Es ist ein Paket für Euch gekommen. Aus Griechenland“, versuchte die Hauselfe, sie aufzumuntern.
Sofort wurde das Mädchen hellhörig. „Aus Griechenland?“, wollte sie aufgeregt wissen.
Laurie lächelte und schnipste. Im selben Moment landete ein buntes, schweres Päckchen am Fußende des Betts. Sie half Melusine, sich aufzusetzen, um das Geschenk auszupacken.
Erwartungsvoll riss diese das Geschenkpapier auf, öffnete die braune Schachtel darin und zum Vorschein kam zwischen reichlich Watte versteckt eine Keramikdose, die mit den typischem Schlangenmuster ihrer Großmutter bedruckt war. Neugierig öffnete Melusine den Deckel und stieß einen Freudenschrei aus. „Les baisers de fée!“
In der Dose befanden sich köstliche Weihnachtsplätzchen, die ihre Großmutter jedes Jahr, wenn die Familie zusammen feierte, buk. Sie waren ihre besondere Spezialität und Melusine hatte sie ‚Feenküsse‘ getauft, weil sie fantastisch schmeckten und die Feen, die in Althaias Garten lebten, jedes Mal begeistert zuschauten, wenn die alte Dame sich ans Backen machte. Außerdem bekamen sie immer ein Plätzchen ab.
Melusine kicherte bei der Erinnerung und schob sich genüsslich einen Feenkuss in den Mund. Sie liebte ihre Großmutter einfach über alles.
Als sie die Dose auf ihren Nachttisch stellte und Laurie die scheinbar leere Schachtel reichen wollte, rutschte sie ihr aus der Hand und fiel auf den Fußboden. Laurie hob die Schachtel auf, deren restlicher Inhalt sich auf dem Boden verteilt hatte, und griff plötzlich zielsicher mitten in den Watteberg, um ein kleines, grünes, in Samt gebundenes Notizbuch zu Tage zu befördern.
Melusine nahm das Notizbuch entgegen und schlug es auf. In die Innenseite des Buchdeckels war ein kurzer Text eingraviert.
Medea,
ce carnet est mon cadeau pour toi.
Il garde tes meilleures idées et tes soucis plus grands,
tes rêves plus beaux et tes pires peurs,
tes pensées plus importantes
et tes mémoires plus précieuses.
Tu me manques.
Gleich das erste Wort verriet Melusine, dass das Geschenk wirklich von ihrer Großmutter stammen musste, und sie konnte nicht anders, als glücklich zu lächeln. Großmutter Althaia war nicht nur ein wunderbarer Mensch, sondern auch die Einzige, die Melusine niemals bei ihrem richtigen Namen nannte. Stattdessen sagte sie immer nur ‚Medea‘, was so viel hieß wie: meine Göttin. Warum sie das tat, war Melusine völlig schleierhaft. Vermutlich handelte es sich lediglich um einen Kosenamen.
Tatsächlich konnte sie das Notizbuch gerade gut gebrauchen, allerdings wusste sie nicht, wie sie seinen Inhalt vor neugierigen Blicken schützen sollte. Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger die Zeilen nach. Das Wort Medea wurde durch eine goldene Umrahmung besonders hervorgehoben. Ob man es als Zauberspruch verwenden kann? Wenn sie ihren Zauberstab hätte, würde Melusine es natürlich sofort ausprobieren, aber durch ihre Aktion gestern war dies nun nicht mehr möglich.
Dann muss ich mir meinen Zauberstab eben anderweitig beschaffen.
~~~
Der Silvesterball, den der Comte und die Comtess de Dijon veranstalteten und zu dem alle Adelsfamilien des Landes eingeladen wurden, bot die perfekte Gelegenheit für Melusine, um ihrem Vater den Zauberstab zu entwenden. Laurie hatte ihr versichert, dass ihr Vater den Zauberstab stets bei sich trug.
Gemeinsam apparierte Familie du Saturne vor das Anwesen der Beaunapiers. Es herrschte reges Treiben, da die meisten Familien bereits eingetroffen waren. Staunend folgte Melusine ihren Eltern durch die Gartenanlage in Richtung Eingangstor. Viele neue Eindrücke stürzten von allen Seiten auf sie ein. Sie war noch nie auf einem traditionellen Ball aller Herrschergeschlechter gewesen. Zunächst einmal unterschied sich die Umgebung deutlich von ihrem Zuhause, das direkt am Meer lag, denn das Anwesen ihrer Familie befand sich auf einer küstennahen Halbinsel. Die südlichen Adelsfamilien trafen sich gelegentlich zu gemeinsamen Festen, um ihre Beziehung zu stärken. Doch alle Feierlichkeiten, den Melusine hatte beiwohnen dürfen, waren kein Vergleich zu den Ausmaßen dieser Veranstaltung. Warum haben meine Eltern mich von all dem abgeschottet?
Im Laufe des Abends stellte Melusine fest, dass der Silvesterball zwar gewaltig war, jedoch dem selben Schema folgte, wie alle anderen Bälle auch. Sobald alle Gäste anwesend waren, hielt der Comte eine Begrüßungsrede. Darauf folgten ein köstliches Buffet, einige Tänze und gezwungen höfliche Konversationen, die dem Zweck dienten, Bündnisse zu schmieden, sich zu profilieren oder die Schwachstellen seines Gegenübers zu erforschen.
Der Deal mit ihrem Vater galt zwar noch nicht, aber Melusines Neugier reichte aus, dass sie nach einer kurzen Unterhaltung mit Benjamin und Florence, die ihr peinlich berührt ein kleines Päckchen überreicht hatte, nicht laut schreiend wegrannte, als der Sohn des Gastgebers höchstpersönlich sie in ein Gespräch verwickeln wollte. Wahrscheinlich trug auch ihre gute Erziehung einen nicht gerade unwesentlichen Teil dazu bei.
„Mercur“, grüßte sie ihn mit übertriebener Freundlichkeit, „Wie … nett, dich hier anzutreffen.“
„Melusine“, betonte er jede Silbe einzeln, „Schön zu sehen, dass du dich mit Zauberern und Hexen deines Standes umgibst.“ Der spöttische Unterton war nicht zu überhören, doch Melusine quittierte die Anspielung auf Louis lediglich mit einer gehobenen Braue.
„Was denn, was denn? Kein schlauer Spruch?“, wollte Mercur wissen und trat provokant einen Schritt auf sie zu, sodass er den angemessen Mindestabstand unterschritt.
Nicht aufregen. Ich muss mit ihm mindestens die nächsten sechs Jahre auskommen Und ich brauche sein Vertrauen. „Nein. Ich möchte einen Neuanfang. Du hast Recht, wir sollten keine Feinde sein.“
Skeptisch runzelte Mercur die Stirn. „ Ach, auf einmal. Bist du etwa nicht mehr auf der Seite von Florence und Benjamin? Soll ich dir das einfach so glauben?“
„Ich will ehrlich zu dir sein, Mercur. Ich kann Benjamin und Florence gut leiden. Sie sind meine Freunde. Aber wir Adeligen sollten zusammen halten. Das heißt nicht, dass wir uns auf einmal alle schrecklich gern haben sollen. Merlin, bewahre, ich kann Laurent und Adrien wirklich nicht ausstehen, sie sind Hohlköpfe.“ Belustigt stellte Melusine fest, dass Mercur zustimmend nickte und gleichzeitig mit den Schultern zuckte, sie jedoch nicht unterbrach. „Aber wir beide sollten uns auf keinen Fall hassen. Unsere Eltern bekleiden wichtige Ämter. Wir stehen über dem niederen Adel.“
„Gut, dass du das auch so siehst. Also, Kameraden?“ Erwartungsvoll reichte Mercur ihr die Hand. Melusine ergriff sie. „Kameraden.“
„Entschuldigt, wenn ich störe, aber ich muss ein paar Worte mit meiner Tochter wechseln.“ Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Bernard du Saturne neben den beiden Kindern.
„Natürlich, Monsieur.“ Respektvoll sah Mercur zu Melusines Vater auf. Ohne eine Antwort zu geben, zog dieser seine Tochter hinter sich her in einen dunklen Seitengang. Dann drückte er sie gegen die Wand. Seine eiskalten Augen fixierten die ihren. „Wie ich sehe, bist du einverstanden. Der Deal steht. Aber enttäusche mich nicht.“ Grob umfasste er ihr Kinn.
„Das werde ich nicht, Vater.“
„Das rate ich dir auch. Sonst muss ich dir noch eine weitere Lektion erteilen.“
Melusine schluckte hart und hielt ängstlich die Luft an.
„Hier, nimm. Und nun lass uns das Feuerwerk ansehen.“ Mit diesen Worten drückte ihr Vater Melusine etwas in die Hand und ließ sie stehen.
Langsam atmete sie aus und starrte dann ungläubig auf ihre Hand. Darin lag ihr dunkelbrauner Zauberstab.
***
Kleine Anmerkung am Rande: Das mit den Plätzchen habe ich mir nicht ausgedacht, die gibt es wirklich. Sie sehen verdammt lecker aus, aber ich habe sie tatsächlich noch nie probiert. Aber ihr vielleicht?
Übrigens freue ich mich natürlich sehr über jeden Kommentar!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top