Kapitel 5
Triggerwarnung: Gewalt
„Mademoiselle? Mademoiselle du Saturne? Mademoiselle, Ihr müsst aufstehen!“
„Flo, was redest du wieder? Lass mich schlafen, es ist Sonntag!“, keifte Melusine verärgert, da man sie nicht in Ruhe weiterschlafen ließ, und schleuderte mehr schlecht als recht eins ihrer Kissen in die Richtung, aus der sie die Stimme vermutete.
Ein Quieken bestätigte ihr, dass sie überraschenderweise getroffen hatte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und zwischen halbgeöffneten Augenlidern erkannte Melusine die Silhouette ihrer Mutter auf der Türschwelle. „Steh auf, du unnützes Balg!“, fauchte sie und knallte die Tür wieder hinter sich zu.
Auf einmal war Melusine hellwach. Das lag nicht nur an der liebevollen Weckmethode ihrer Mutter; es war schon verwunderlich genug, dass sie sich überhaupt dazu herabließ; sondern auch daran, dass Melusine siedend heiß etwas Wichtiges einfiel: Weihnachten!
Euphorisch schlug sie ihre Decke zurück, setzte sich schwungvoll auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und marschierte ins angrenzende Badezimmer, die kleine Hauselfe neben ihrem Bett völlig ignorierend.
Kurz überlegte sie, sich ein Bad zu gönnen, entschied sich jedoch dagegen und schlüpfte unter die Dusche. So wie es aussah, war ihre Mutter heute nicht bester Laune, da sollte sie sich lieber etwas beeilen.
Melusine stieg kurze Zeit später aus der Duschkabine, wickelte sich ein cremefarbenes Handtuch und rief nach Laurie. Zu ihrer Verwunderung öffnete sich sofort die Tür und ihre Hauselfe betrat das Bad. War sie bereits in ihrem Zimmer gewesen? Melusine konnte sich nicht daran erinnern, sie bemerkt zu haben. Ist ja auch völlig egal. Es ist gerade nur wichtig, dass ich heute perfekt aussehe, wenn wir nach Griechenland reisen.
„Trockne mein Haar und suche mir ein passendes Kleid, Laurie“, befahl sie ihr und stellte sich vor den Spiegel. Ein Schnipsen genügte und schon flossen sanfte Wellen braunen Haares an ihr hinab.
„Laurie hat ihrer Herrin bereits ein Kleid herausgelegt. Soll sie auch noch Schuhe und den passenden Schmuck zurechtlegen?“, fragte die Hauselfe, während sie sich verbeugte.
„S’il te plaît.“
Augenblicklich verschwand Laurie aus dem Bad. Melusine griff nach einer schwarzen Haarklammer, um sich locker die Haare hochzustecken, und nahm ihre Zahnbürste zur Hand. Während sie die Zähne schrubbte und sich im Spiegel betrachtete, dachte sie über das Angebot nach, dass ihr Vater ihr gestern Abend unterbreitet hatte. Verlockend klang es, das musste sie sich eingestehen. Aber was konnte es so Wichtiges geben, dass ihr Vater sich auf einen Deal einließ? Und warum wusste ihre Familie nicht Bescheid über diese mysteriösen Vorgänge? Schließlich waren sie doch eine hochangesehene Adelsfamilie. Ob es etwas damit zu tun hat, dass ich ständig von der Außenwelt isoliert wurde?
Auf einem Bein hüpfend, um das Gleichgewicht zu halten, während sie ihre Unterwäsche anzog, kam Melusine endlich zu einem Entschluss. Was auch immer hinter allem steckte, sie musste es unbedingt herausfinden. Also hatte sie gar keine Wahl. Falls sie das Angebot ablehnen sollte, würde ihr Vater sie sowieso dazu zwingen, Informationen zu beschaffen. Das wollte sie nicht wieder erleben. Seit feststand, dass sie nach Beauxbatons gehen würde, war ihr Vater ihr gegenüber immer mal wieder handgreiflich geworden. Zugegeben, er war auch vorher kein Papa zum Kuscheln gewesen, aber Melusine hatte den Eindruck, er würde sie ständig einschüchtern wollen. Dabei war sie nur selten ungehorsam.
Immer noch in Gedanken versunken verließ sie aus dem geräumigen Badezimmer hinaus und schlüpfte vorsichtig in das lange Kleid, das auf ihrem Bett lag. Erst als sie sich samt Schmuck und Schuhen vor den Spiegel trat, um sich zu begutachten, fiel ihr etwas Entscheidendes auf. Sie trug ein langes Kleid. Mit Ärmeln. Aber in Griechenland ist es zu dieser Zeit doch gar nicht so kalt.
„Laurie?“, rief sie zögerlich nach ihrer Hauselfe und zuckte etwas zusammen, als diese sogleich ploppend hinter ihr auftauchte.
„Ja, Mademoiselle du Saturne? Soll Laurie Euch eine hübsche Frisur machen?“
„Euh, oui, mais -“ Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn Laurie begann sofort eifrig, ihr Haar zu bürsten und zu flechten. Im Handumdrehen entstand so eine elegante Frisur, nicht zu vornehm für ein zwölfjähriges Mädchen, aber auch nicht zu lässig für das bevorstehende Fest.
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„Sitz gerade, Melusine! Sonst bekommst du einen krummen Rücken wie ein dreckiger Muggel!“, wies ihre Mutter sie zu recht und kniff ihr dabei schmerzhaft in die Wange.
Automatisch richtete sich Melusine bei den harschen Worten ihrer Mutter auf. „Ja, Mutter.“
„Wir fahren diese Jahr nicht nach Griechenland“, bemerkte ihr Vater, als wäre es etwas Nebensächliches, dass die Familie zum ersten Mal seit Jahren an Weihnachten nicht Großmutter Althaia Ophisis besuchen würde.
Klirrend fiel Melusine das Messer aus der Hand. „Was?“, hauchte sie entsetzt und blickte abwechselnd zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Sie hatte sich schon sehr auf das gemeinsame Weihnachtsfest gefreut. „Kommt Großmutter etwa zu uns?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein, wir werden diese Jahr nicht gemeinsam feiern.“ Damit schien das Thema für den Hausherrn beendet.
Melusine war da jedoch ganz anderer Meinung. „Aber wieso denn? Das machen wir doch immer so!“, protestierte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ab diesem Jahr ist Schluss damit!“, schimpfte ihre Mutter, „Meine Mutter wird dir nur wieder irgendwelche Flausen in den Kopf setzten und sich in unsere Erziehung einmischen. Außerdem sollten wir uns lieber auf das konzentrieren, was hier passiert. Und jetzt Ende der Diskussion oder du kannst auf deine Geschenke verzichten!“
Trotzig funkelte Melusine ihre Mutter an. Sie war eigentlich eine gehorsame Tochter, aber das ging eindeutig zu weit. Ihre Eltern konnten doch nicht mir nichts dir nichts den Kontakt zu ihrer Mamie abbrechen!
„Wer sagt das?“, provozierte sie ihre Mutter spöttisch, „Ihr oder die anderen Adelsfamilien? Seit wann lassen wir uns von denen vorschreiben, was wir zu tun haben?“
Ruckartig schob ihr Vater seinen Stuhl zurück und stand auf. „Das reicht“, sagte er kalt, „Keine Geschenke für dich und von deinem Zauberstab kannst du dich auch verabschieden.“ Mit einem wortlosen Aufrufezauber gelangte er an den Zauberstab seiner Tochter und steckte ihn in die Innentasche seiner Robe.
Melusine stockte kurz. Alle minderjährigen Hexen und Zauberer bekamen am letzten Schultag ihre Zauberstäbe abgenommen, nur die Kinder der Adelsfamilien nicht. Die Eltern hatten die Aufgabe, die Zauberstäbe ihrer Kinder an sich zu nehmen. Dass sie dies in der Regel nicht taten, war ein offenes Geheimnis. Dadurch, dass ihre Eltern Melusine den Zauberstab wegnahmen, degradierten sie sie im übertragenen Sinne zu einer minderwertigen Hexe.
„Das ist mir gleich! Ich will nicht, dass ich meine Großmutter nicht mehr sehen darf!“ Entschlossen stand sie auf und stemmte die Hände in die Hüften. Doch sie hätte es besser wissen sollen.
Wütend fuhr ihre Mutter zu Melusine herum und gab ihr eine saftige Ohrfeige. „Du sollst deinem Vater nicht widersprechen!“
Geschockt starrte sie ihre Mutter an und befühlte ihre glühende Wange. Ihre Mutter hatte sie noch nie geschlagen. Immer noch in ihrer Schockstarre gefangen bekam sie nicht mit, dass ihr Mutter weiter mit ihr schimpfte, und so antwortete sie auch nicht, als diese nach einer Entschuldigung verlangte. Erst ihr Vater, der zornig mit der Faust auf den Tisch schlug, riss sie aus dem tranceartigen Zustand.
Ängstlich schrie sie auf, als ihr Vater schnellen Schrittes um den Tisch herumging, sie grob am Oberarm packte und hinter sich her in den Salon schleifte. Aus dem Augenwinkel sah Melusine noch, wie ihre Mutter die Treppe hinauf verschwand.
Unsanft schubste ihr Vater Melusine zu Boden und sie schlug sich dabei schmerzhaft das Knie auf. „Du hast uns zu gehorchen!“, schrie er und zerrte sie wieder hoch, um sie ein weiteres Mal zu ohrfeigen. Melusine versuchte krampfhaft, nicht zu weinen, und biss sich dabei so fest auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte.
„Niemanden interessiert es, was du willst!“ Er griff in ihre Haare und zog ihren Kopf zurück. Melusine schrie laut auf und die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg an ihrer Wange hinab.
„Benimm dich und heul nicht wie ein ekelhaftes Schlammblut! Hast du mich verstanden?!“
Sie brachte nur ein Nicken zustande.
„Du sollst antworten!“, brüllte er und würgte sie. „Ihr Weiber seid doch alle gleich, schwach, unfähig und sentimental! Aber ich werde schon dafür sorgen, dass du dich besser zu benehmen weißt! Ich werde dich Gehorsam lehren!“
Er ließ sie los und Melusine sackte kraftlos in sich zusammen. Sie wollte aufstehen und sich behaupten, doch sie schaffte es nicht.
Ihr Vater holte mit seinem Zauberstab aus und peitschte ihn durch die Luft. Melusine schrie. Sie fühlte, wie aus einem langen Schnitt, der sich quer über ihren Bauch zog, Blut quoll. Immer wieder peitschte der Zauberstab ihres Vaters durch die Luft und Melusine brachte nur noch ein heiseres Wimmern heraus.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ihr Vater plötzlich auf. „Du hast Zimmerarrest“, war das Letzte, was er sagte, bevor er seine Tochter blutend und zitternd auf dem dunkelbraunen Parkettboden liegend zurückließ.
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