- Chapter 9 -

Magnus


Es war schon seltsam.

Gestern noch hatte Magnus diesen Ort als abstoßend empfunden, heute dagegen fühlte er nur Mitleid und auch etwas Kummer.

Er wollte nicht zusehen, wie Alexander und seine Familie ihr Leben leben mussten.

Magnus fragte sich, was in Alexanders Kopf wohl vorging.

Noch immer konnte sich Magnus nicht vorstellen, dass es Menschen geben sollte, die keine Gefühle hatten.

Selbst der kaltblütigste Mörder hatte doch irgendeine Schwachstelle.

Plötzlich wurde Magnus etwas bewusst. Etwas, über das er zuvor noch gar nicht nachgedacht hatte.

Keiner hier hatte je behauptet, dass Alexander nichts empfinden konnte.

Magnus schüttelte tadelnd den Kopf. Seine Phantasie kontrollierte ihn einfach zu sehr.

Das war schon immer so gewesen.

Er hatte sich schon immer Dinge ausgemalt, von denen er gar nicht wusste, ob sie wirklich so stimmten.

"Magnus, wie schön, dass Sie hier sind.", begrüßte ihn eine vertraute Stimme.

Automatisch straffte er etwas die Schultern als Maryse auf ihn zu kam.

Genau wie gestern schritt sie die große, breite Treppe mit den hohen Stufen hinunter.

Magnus bewunderte ihre positive Ausstrahlung.

Er lächelte ihr charmant zu als sie ihn zur Begrüßung leicht am Oberarm berührte.

Eine Geste, die deutlich zeigte, dass er nicht unwillkommen war.

Magnus wusste, wie sehr Maryse auf ihn zählte, obwohl sie wusste, dass er keinerlei Erfahrungen in der Betreuung eines psychisch labilen Menschen hatte.

Da der erste Schock verklungen war, konnte Magnus sich jetzt viel besser mit der Situation auseinandersetzen und folgte Maryse bereitwillig als sie auf eine Tür, die von der Eingangshalle abwich, zusteuerte.

Es stellte sich heraus, dass der Raum hinter der neumodischen weißen Tür ein genauso neumodisch eingerichtetes Arbeitszimmer war.

Magnus sah sich interessiert um und spürte einen kleinen Stich der Eifersucht als er die teuren Möbel sah.

Schnell versuchte er das alles auszublenden und nahm gegenüber des edlen, gläsernen Schreibtisches Platz.

Maryse setzte sich auf den großen, schwarzen Lederstuhl hinter dem Schreibtisch und legte ihre Unterarme auf die Glasplatte.

Magnus spürte wie sich eine unangenehme Gänsehaut auf seinem Körper ausbreitete und ihn für einen Moment kalt werden ließ.

Er fühlte sich aus irgendeinem Grund plötzlich doch wieder unbehaglich.

Maryse hatte jetzt auch einen eher ernsteren Gesichtsausdruck aufgesetzt.

"Wir war die Fahrt, Magnus?", wollte Alexanders Mutter dann plötzlich wissen.

Magnus legte den Kopf leicht schräg.

Er war verwirrt.

Maryse' Miene deutete ganz eindeutig nicht auf Small Tak hin und doch hatte sie ihm diese Frage gestellt.

Diese Frau war für ihn ein Rätsel.

Genauso wie ihr Sohn.

Fast hätte Magnus geschmunzelt.

Was für eine Ironie das hier doch ist, dachte er sich spöttisch.

"Lange.", erwiderte er müde lächelnd.

Wieso sollte er lügen?

Die Fahrt war wirklich lange gewesen, was größtenteils Izzys Schuld war!

"Zum Glück haben Sie einen Führerschein. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es als Dorfkind sein muss, nicht vom Fleck zu kommen.", sagte Maryse fast schon mitleidig.

Magnus' Körper verkrampfte sich bei diesen Worten schmerzhaft.

Diese Frau hatte ja keine Ahnung.

Ja, er war 22, jedoch bedeutete das nicht gleich, dass er Autofahren konnte.

Bei einer Sache hatte Maryse jedoch recht; es war verdammt ätzend sich auf die öffentlichen Verkehrsmittel oder Izzy verlassen zu müssen, wenn man so weit entfernt von der Stadt oder selbst dem nächsten Dorf wohnte.

Das musste Maryse ja aber nicht wissen.

Magnus glaubte nämlich, dass er deutlich an Anerkennung und Respekt verlieren würde, wenn er Maryse auf die Nase bindete, dass er ein waschechtes Dorfkind war und bis gestern noch zu arm war, sich seinen Führerschein zu finanzieren.

Es verwunderte ihn, dass Maryse keine Nachforschungen über ihn angestellt hatte.

Und auch wenn sich diese Nachforschungen nur darauf beschränkt hätten den Professor auszuquetschen.

Magnus war plötzlich heilfroh, dass der Professor die letzten Jahre sich fast nie nach seinem Privatleben erkundigt hatte.

Allerdings wusste der Professor trotzdem, dass es seiner Familie nicht gut ging.

Magnus konnte nicht einschätzen, was Maryse von ihm halten würde, wenn sie herausfand, dass der Betreuer ihres Sohnes ein armer Schlucker war.

Zwar hasste Magnus dieses Wort abgrundtief, doch es stimmte ja doch im Endeffekt.

Deswegen nickte er auch nur und sagte nichts, obwohl er echt gern seine Meinung gesagt hätte.

"Alec ist noch nicht wach, deswegen schlage ich vor, dass wir die Einzelheit durchgehen, damit Sie wissen, was Sie zu tun haben und wie Sie im Notfall reagieren sollten.", sagte Maryse und sah kurz zur Decke hoch als sie den Namen ihres Sohns erwähnte.

Magnus nickte. Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. "Okay."

Maryse lächelte grimmig. "Vielleicht sollte ich damit anfangen zu erklären, wieso Dr. Bruce uns vorgeschlagen hat, für Alec einen Betreuer einzustellen. Dabei ist laut Dr. Bruce eher jemand gemeint, der auf Alec aufpassen kann und sich rund um die Uhr ebenso um ihn kümmert. Ich kenne meinen Sohn. Er mag keine Menschen, die er nicht kennt. Er vertraut ihnen nicht. Er hasst sie regelrecht. Aber er ist mein Sohn und ich glaube, dass sich das ändern kann. Genauso wie Dr. Bruce das glaubt."

"Dr. Bruce glaubt also, dass er durch mich Alexan...äh, Alec dazu bringen kann, sich zu ändern?", fragte Magnus zweifelnd.

Er konnte nicht glauben, dass sein Boss wirklich so naiv war.

Selbst Magnus hatte durch Izzys Warnungen und ellenlange Vorträge verstanden, dass man einen Menschen wie Alec nicht ändern konnte.

Er traute sich diese offensichtliche Tatsache jedoch nicht laut auszusprechen.

Er hatte das Gefühl, dass er Maryse dadurch kränken würde und das wollte er nicht.

"Ja, er meinte, dass Sie eine große Hilfe wären. Sie scheinen etwas an sich zu haben, dass Dr. Bruce so überzeugt hat, dass er sich für Sie entschieden hat."

Magnus fühlte sich alles andere als geschmeichelt, auch wenn Maryse' Worte das eindeutig bewirken sollten.

"Wie kann ich helfen?", fragte er dennoch so aufrichtig wie möglich.

Die Wahrheit jedoch war, dass ihm dieses Gespräch sehr viel Kraft und Geduld entzog.

Maryse lächelte jetzt fast schon glücklich und er versuchte so ebenso überzeugend wie möglich zurück zu lächeln.

"Alecs Zimmer ist mit Videokameras ausgestattet, die jeden Winkel seiner Wohnung aufzeichnen. Diese Maßnahme dient ganz allein zu Alecs Sicherheit.", Maryse hielt kurz inne.

Magnus lief einen kalten Schauer über den Rücken.

Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste rund um die Uhr beobachtet und überwacht zu werden.

"Dr. Bruce kennt Alecs Verhaltensmuster und ich habe Alecs Akte auch hier. Ich gehe sie jetzt mit Ihnen durch, machen Sie sich selbst ein Bild von meinem Sohn. Dr. Bruce meinte, dass Sie selbst erkennen würden, was sie tun müssten, um Alec zu helfen."

Magnus hätte am liebsten ungläubig den Kopf geschüttelt.

Wieso setzte der Professor plötzlich so ein großes Vertrauen in ihn?

Das ergab keinen Sinn. Nicht einmal im entferntesten.

Allerdings spürte er auch leichte Vorfreude durch seinen Körper strömen.

Endlich würde er mehr über Alexander lernen und ihn auch anfangen verstehen zu können.

Jedoch war es Magnus eigentlich lieber, wenn er sich selbst erst einmal ein eigenes Bild von Alexander machen könnte.

Er wollte nachher nicht voreingenommen sein und sich von den Fakten leiten lassen.

Magnus hatte aber keine andere Wahl. Schließlich konnte er Maryse schlecht sagen, dass er von Alexanders Akte erst einmal nichts wissen wollte.

Maryse holte schließlich einen erstaunlich dünnen Ordner aus einer verschlossenen Schublade und legte ihn auf die Glasplatte.

Magnus war erstaunt, dass Alexanders Akte so dünn war.

Der Professor arbeitete doch seit Jahren als Alexanders Psychiater.

Magnus kannte Akten von Klienten, die so schwer waren, dass man sie mit zwei Händen stemmen musste, damit sie einem nicht auf die Füße fiel.

Und diese Akten waren meistens nicht einmal vor einem Jahr angelegt worden.

Magnus beugte sich etwas vor als Maryse die Akte schließlich aufschlug und sich eine elegante Brille auf die Nase setzte.

Er musterte Alexanders Mutter für einen Moment.

Schon immer bewunderte er Frauen, die trotz Brille blendend aussehen konnten. Vor allem in diesem Alter.

Zwar war Maryse kaum älter als 45, aber dennoch faszinierte es ihn.

Magnus selbst trug oft Brillen, vor allem Sonnenbrillen, doch er könnte sich nie vorstellen, mit einer echten Brille irgendwo herum zu laufen.

Er schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf.

Ihm war sehr wohl bewusst, dass er echt schräg drauf war.

"Alexander "Alec" Gideon Lightwood. 19 Jahre alt. Geboren am 13. September 1997 - das sind die Grundfakten.", las Maryse knapp vor und sah zu Magnus hoch.

"Möchten Sie vielleicht etwas zum Mitschreiben?"

Magnus schüttelte den Kopf und nahm allen Mit zusammen.
"Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich würde mir die Akte gerne alleine anschauen. Vielleicht erzählen Sie mir einfach, wie sich Alexander verhält und wie sein Tag so abläuft."

Maryse nickte und seufzte, dann klappte sie die Akte zu und reichte sie Magnus.

Er nahm sie dankend an und legte sie sich auf die Oberschenkel.

Ein Gefühl der Erleichterung strömte durch seinen Körper.

Manchmal war die Wahrheit doch nicht so schlimm.

Ohne die Augen von Maryse abzuwenden, beobachtete er wie Maryse müde ihre Brille wieder absetzte und sich über das geschminkte Gesicht fuhr.

Das erinnerte ihn selbst an sein ungeschminktes Gesicht. Sofort fühlte er sich nackt und musste sich dazu zwingen nicht verlegen den Kopf zu senken.

"Sie können ihn ruhig Alec nennen.", meinte Maryse plötzlich.

Magnus hob überrascht eine Augenbraue. "Was?"

Maryse lächelte leise. "Er mag es nicht, wenn man ihn Alexander nennt. Zumindest war das früher so..."

Magnus spürte wie Mitleid durch seinen Körper strömte, als er Maryse' Stimme kraftlos zittern hörte.

Er wollte nicht in ihrer Haut stecken.

Da war ihm das Leben als "Dorfkind" doch lieber.

"Okay.", sagte Magnus.

Er mochte den Namen Alexander.

Für ihn war es ungewohnt Alexanders Spitznamen auszusprechen.

Doch das war vermutlich gerade sein geringstes Problem.

"Alec leidet an Aussetzern. Wir wissen nicht wieso das so ist und was diese Aussetzer auslöst. Doch sie verändern ihn. Es ist schrecklich zuzusehen, wie er dann zu dieser anderen Person wird. Diesem anderen Alec.", fing Maryse an zu erzählen.

Magnus spürte wie ein Schauder durch seinen Körper strömte. Ihm wurde heiß und kalt zugleich.

Gänsehaut hatte sich auf seinen Unterarmen gebildet und er hatte das Bedürfnis Maryse in den Arm zu nehmen.

Ihre Schilderung berührte ihn in einer Weise, die er nicht beschreiben konnte.

"Wie erkenne ich, ob er gerade einen Aussetzer hat oder nicht?", fragte Magnus vorsichtig und mit ruhiger Stimme.

Er sah sehr deutlich, wie sehr sich diese Frau quälte.

"Er ist unruhig. Sie werden es nicht übersehen. Ganz selten fängt er an zu reden. Er redet normalerweise nie. Früher dachte ich, dass eine Art Dämon von ihm Besitz ergreifen würde. Heute weiß ich nicht mehr was ich davon halten soll. Ich frage Dr. Bruce auch nicht, was sich da in Alec abspielt."

In Magnus' Kehle hatte sich ein dicker Kloß gebildet.

Er musste sich stark darauf konzentrieren professionell zu bleiben.

"In welchen Abständen hat er diese Aussetzer?"

Maryse zuckte mit den Schultern und verzog gequält das Gesicht. "Ich weiß es nicht. Ich frage Dr. Bruce nicht mehr danach. Es ist schon schlimm genug, dass Alec hinter einer Scheibe leben muss, damit er seine eigene Familie nicht verletzt."

Aber wer schützt ihn vor sich selbst?, schoss es Magnus durch den Kopf.

Etwas überrascht über seinen eigenen Gedanken versuchte er sich nun etwas zu sammeln.

"Ich glaube nicht dass Alec geholfen wird, in dem man ihn nur auf Videoband beobachtet, um daraus dann irgendwelche Schlüsse zu ziehen, die ihm vielleicht helfen könnten.", gestand Magnus nach einigen Momenten der Stille.

Maryse zuckte etwas hilflos mit den Schultern. "Dr. Bruce meinte, es wäre ein Anfang. Damit Sie Alecs Verhaltensmuster besser kennen lernen."

Magnus runzelte die Stirn.

Wieso erklärte Maryse ihm nicht einfach, wie sich Alec verhielt?

Er war ihr Sohn. Sie sollte doch wissen, wie ihr Sohn war und was für Charakterzüge er in sich trug.

Aber wenn Magnus genau nachdachte, fiel ihm auf, dass Maryse auf eine Art und Weise über Alec sprach, die Magnus selbst sehr bekannt vorkam.

Es schien fast so als würde jemand ihn über Izzys Bruder, Jace, ausfragen.

Er konnte sich zwar an Jace erinnern und wie er vor dem ganzen Psychiatrie-Mist gewesen war, doch persönlich hatte er Jace seit Monaten nicht mehr gesehen oder gesprochen.

In so einer Zeitspanne konnte sich sehr viel ändern.

Es schien in diesem Fall so, als hätte Maryse ihren Sohn seit Wochen oder gar Monaten nicht mehr besucht.

Magnus fand diesen Gedanken unvorstellbar. Wie konnte man sein eigenes Kind hinter einer Glasscheibe einfach so vor sich hin leben lassen?

"Ich denke, es wäre das Beste, wenn ich mit Dr. Bruce selbst rede."

Maryse nickte und atmete sogar etwas erleichtert aus.

Wortlos holte sie nun einen kleineren Ordner aus einer weiteren Schublade, die ebenfalls verschlossen war, und parallel mindestens fünf verschiedene Arten von Medikamenten.

Magnus runzelte die Stirn und versuchte aus den komplizierten Bezeichnungen irgendwelche Schlüsse zu ziehen.

Für ihn waren Medikamente als Lösung keine Option.
Deswegen befasste er sich auch nicht mit ihnen.

Er übersprang die Seite mit der Medikamentenliste jedes Mal, wenn er eine Akte durchstöberte.

Für ihn waren diese Medikamente ein Zeichen dafür, dass der Professor versuchte etwas bei Alec zu unterdrücken.

Magnus wusste nicht wieso sein Boss diese Entscheidung getroffen hatte und deswegen versuchte er auch nicht gleich zu urteilen.

Vielleicht gab es wirklich logische Gründe von denen Magnus einfach noch nichts wusste, da er Alec einfach nicht kannte.

Magnus beobachtete Maryse wie sie die Verpackungen der Reihe nach aufstellte.

Parallel klappte sie den Ordner auf und drehte ihn so, dass er mitlesen konnte.

Auf dem Din-A-4-Blatt war eine Tabelle abgebildet.

Diese war in zwei Spalten aufgeteilt.

In der ersten Spalte stand die Uhrzeit in der das Medikament eingenommen werden sollten.
In der zweiten Spalte war der Name des dazugehörigen Medikaments aufgeschrieben.

Der Grund für die Einnahme war nicht aufgelistet worden.

"Wer hat in den letzten Jahren nach Alec gesehen?", wollte Magnus wissen.

Es war ihm ein Rätsel, wie Alec über all die Jahre die nötige Aufmerksamkeit bekommen hatte, die ein Mensch sowieso brauchte, um nicht elendig einzugehen.

Schließlich war der Professor nicht rund um die Uhr hier und Maryse schien ihrem Sohn ja offensichtlich auch aus dem Weg zu gehen.

Maryse atmete schwer aus und reichte Magnus den Medikamenten-Ordner.

"Machen Sie sich die nötigen Notizen, Mr. Bane. Ich bringe Ihnen Stift und Papier."

Sie hatte seine Frage einfach ignoriert! Eingeschnappt schüttelte er den Kopf.

"Ich werde mir das zu Hause in Ruhe ansehen, Maryse. ", widersprach er ohne mit der Wimper zu zucken.

Magnus ließ sich nicht so leicht einschüchtern und außerdem hasste er es, wenn ihm jemand Vorschriften machte.

Zwar konnte Maryse ihn jetzt hochkant aus dem Haus werfen, doch dann hätte sie ja keinen 'Betreuer' mehr für ihren Sohn.

Und Magnus bezweifelte irgendwie, dass der Professor jemand anderes finden würde, der diese Aufgabe freiwillig machte und außerdem noch dazu ins Schema passte...

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