- Chapter 43 -

Magnus

Es war als würde ihm jeder Zentimeter seiner Haut einzeln abgezogen werden, so brutal entwickelte sich der Schmerz, mit dem Magnus konfrontiert wurde, wenn er Alec auch nur ansah.

Jedes Mal musste er seine Panik hinunter schlucken und so wirken, als wäre alles in Ordnung.

Magnus war gut im Lügen. Er hatte schon so viele Menschen in seinem Leben täuschen können, ohne dass sie es bemerkt hatten.

Damals hatte es ihn fasziniert. Jetzt brachte ihn eine einzige Lüge fast um den Verstand.

Es lag wohl daran, dass er ausgerechnet der Person etwas vorspielte, die ihm mit Abstand am meisten bedeutete.

Magnus hatte gedacht, er würde sich in den nächsten Wochen an den Schmerz und den Selbsthass gewöhnen, doch jede weitere Woche, die verging, setzte ihm nur noch mehr zu.

Sein Herz fühlte sich nur noch wie ein dunkler, schwerer Klumpen an, der sich irgendwo verzweifelt in seiner Brust festkrallte.

Das Atmen fiel ihm jeden Tag schwerer. Vor allem in Alecs Gegenwart.

Nicht, weil Alec ihm wie früher die Sprache verschlug, sondern weil das Gewicht des Verrats auf seinen Lungen lastete und sie unter der Last drohten zerquetscht zu werden.

Als würde ein tonnenschwerer Anker ihn unter Wasser drücken.

Die einzige Erleichterung, die Magnus verspürte, war, dass Alec noch immer keinerlei Verdacht zu schöpfen schien.

Magnus war ein Meister des Scheins und konnte selbst unter dem gewaltigen Druck den Schein, dass alles gut war, aufrecht erhalten.

Obwohl es ihn innerlich zerstörte.

Er hatte gewusst, auf was er sich einlassen würde, wenn er erst einmal damit anfing, Alec zu belügen.

Magnus war überzeugt, dass er sich jetzt nicht besser fühlen würde, wenn er Alec vor der drohenden "Gefahr" erzählt hätte.

Alec wäre nur noch ein Schatten seiner selbst, wenn er es ihm sofort nach der Party gesagt hätte.

Lieber hütete Magnus dieses dunkle Geheimnis in sich, als zusehen zu müssen, wie Alec litt.

Jeden Morgen durchforschte er jeden Zentimeter des Internets, um sicher zu gehen, dass die Gerüchteküche nicht schon anfing zu brodeln.

Magnus musste vorbereitet sein, wenn die Wahrheit an die Presse gelangte.

Er durfte nicht schwach wirken, wenn es so weit war. Es wäre nicht fair Alec gegenüber.

Nach all den Lügen durfte er nicht derjenige sein, der zusammen brach, wenn die Zeitungen und Klatschmagazine Wind von der ganzen Sachen bekamen.

Alec brauchte jemand, der dann für ihn da war. Er würde Magnus' Verrat nicht sofort durchschauen. Er würde sich an Magnus festklammern, in dem Glauben, dass er ihn rettete.

Erneut.

Magnus schloss für einen Moment die Augen, überwältigt von seinem Scham und Selbsthass.

Und Schmerzen - kaum in Worte zu fassende Schmerzen.

In seiner Brust. Seinem Herzen. Auf seinen Schultern. In seinem Kopf. Überall.

Jede Zelle, jedes Atem, des Molekül hatte das Verlangen sich selbst zu zerstören.

Doch Magnus war der Meister des Scheins und versteckte das Chaos, das ihn insgeheim in den Wahnsinn trieb, wenn er Nachts wach lag und nicht schlafen konnte.

Tagsüber konnte er sich ablenken, doch nachts fielen die Gedanken und Gefühle nur so über ihn her.

Wie hungrige Raubtiere, die nach stundenlanger Jagd endlich ihre Beute erlegten.

Der Schlafentzug konnte man nur an den violetten Augenringen erkennen, die Magnus jeden Morgen mit einer dicken Schicht Make-up überdeckte, wenn Alec noch schlief.

Und vielleicht an seinem mageren Körper, denn Essen war das letzte, an das Magnus in den letzten Tagen gedacht hatte.

Schon allein, wenn er daran dachte, wurde es ihm kotzübel.

Es war eine Art Selbstbestrafung. Er hatte es nicht verdient, zu essen. Er hatte es nicht verdient, irgendetwas in sich aufzunehmen, das seinem Körper gut tun würde.

Auch dies schien Alec nicht zu bemerken, obwohl er Magnus oft unbekleidet zu sehen bekam.

Oder er redete sich ein, dass alles in Ordnung war. Schließlich war Magnus der Stärkere von ihnen beiden.

Alec ließ sich überhaupt nichts anmerken. Es ging ihm praktisch so gut wie nie.

Während Magnus innerlich - und auch langsam äußerlich - kaputt ging.

Unter dem Dach der Lightwoods zu wohnen, wurde ebenfalls zu einer einzigen Qual.

Er hielt es an manchen Tagen kaum aus, an Alecs Seite zu sein.

Immer öfters erlaubte er sich selbst, sich einfach vom Grundstück zu schleichen und im angrenzenden Wald laufen zu gehen.

Er lief nicht. Er rannte. Bis ihm der Schweiß aus allen Poren rann, seine Lungen sich anfühlten, als würden sie jeden Moment explodieren und sein Blut so laut rauschte, dass ihm schlecht wurde.

Doch es reichte nicht. Es juckte jeder Zentimeter unter seiner Haut, wenn er zurück zum Haus lief, in der Hoffnung, dass es besser werden würde.

Doch es wurde nicht besser. Ganz im Gegenteil.

Der Einfall, dass es vielleicht das Beste war, für einige Tage Abstand von Alec und dem Haus, was ihre gemeinsame Geschichte praktisch symbolisierte, zu bekommen, war ihm erst sehr spät gekommen.

Er hatte sich keine Sorgen darüber gemacht, ob Alec es verletzen würde.

Alec hatte jedoch fast erleichtert gewirkt, als Magnus ihm gesagt hatte, dass er für einige Tage seine Familie besuchen wollte.

Er hatte nicht einmal mitkommen wollen, was Magnus erst verdächtig vorgekommen war.

Doch dann - als er die panische Angst, die daraufhin in ihm aufgestiegen war, abgeschüttelt hatte - hatte er sich wieder daran erinnert, dass Alec der Gedanke hasste, dass Magnus praktisch alles für ihn aufgegeben hatte.

Ebenso seine Familie.

Selbst jetzt kroch in Magnus kindlicher Trotz hoch, wenn er daran dachte, dass Alec wirklich davon überzeugt war, dass er sein altes Leben vernichtet hatte.

Alec steigerte sich einfach viel zu sehr in Dinge hinein. Vor allem, wenn es um Magnus und sein Wohlbefinden ging.

Noch ein weiterer Grund, wieso Magnus seinen Schmerz versteckte.

Er wollte Alecs Mitleid nicht. Er wollte keine besorgten Blicke auf sich spüren.

Er verdiente Alecs Fürsorge nicht.

Nicht mehr.

Nicht nachdem er alles verraten hatte, was ihnen beiden am meisten bedeutete.

Doch jetzt, gerade in diesem Moment, konnte Magnus all das tun, was er in Alecs Nähe und unter seinem Dach nicht konnte.

Er konnte frei atmen. Jeder Schritt, den er ging, fühlte sich befreiend an. Die Gedanken, die durch seinen Kopf wirbelten, waren harmloser als sonst.

Sie waren wie eine abgespeckte Version von seinem größten Albtraum.

Der Albtraum, der ihn seit seinem Entschluss - Alec die Wahrheit zu verschweigen - verfolgte.

Jeder Schritt war vertraut. Er wusste ganz genau, wo er hin laufen musste.

Magnus hätte den Weg selbst mit verbundenen Augen gefunden.

Sein Herz machte nach Wochen zum ersten Mal wieder einen richtigen Satz und ein kleines Lächeln spielte sich auf seinen Lippen, als er sein Ziel endlich vor Augen hatte.

Er steuerte auf ein kleines Haus zu. Ein kleines Haus, das so viel mehr bedeutete, als es den Anschein hatte.

Magnus' Hände fingen leicht an zu zittern, als er das kleine, verkümmerte Tor aufstieß und den sumpfigen Weg zur Eingangstür entlang ging.

Auf seiner Haut bildete sich eine dicke Schicht Gänsehaut, als ein erbarmungsloser Wind über ihn hinweg fegte.

Trotzdem lächelte er weiter in sich hinein. Wenn nicht sogar noch breiter als zuvor.

Gleichzeitig erfüllte ihn eine Wehmut, mit der er nicht gerechnet hatte.

Er hatte selbst den verdammt heimtückischen Wind vermisst, der ihn seine ganze Kindheit praktisch verfolgt hatte.

Jedes Mal, wenn er diesen Weg gegangen war, war dieser Wind aufgekommen und ihn versucht fort zu wehen.

Zumindest hatte es sich so angefühlt.

Magnus' Beine fühlten sich plötzlich unsagbar schwer an, als er seinen rechten Fuß auf die erste Treppenstufe setzte.

Doch er zwang sich weiter zu gehen und biss die Zähne fest zusammen, als seine Waden anfingen zu brennen.

Es sind nur Treppenstufen, tadelte ihn eine Stimme, doch er versuchte sie zu ignorieren.

Sein Herz hämmerte jetzt so laut, dass er dachte, die Nachbarn würden es hören können, als er die Hand hob.

Er schloss für eine Sekunde fest die Augen, versuchte sich zu sammeln, zwang sich den Schein aufzusetzen und klopfte laut gegen die alte Haustür, die etwas schief in den Angeln hing.

Um ihn herum wurde plötzlich alles seltsam still.

Die bunten Blätter die auf den Boden lagen, raschelten nicht mehr, wenn der Wind erneut zu schlug.

Die dichten Tannen gaben kein Mucks von sich.

Ein kalter Schauer erfasste Magnus, doch er zwang sich zur Konzentration, obwohl ihm das ziemlich schwer viel.

Sein Magen schmerzte vor Hunger. Das war das schlimmste.

Der Hunger.

Nicht nur nach Essen. Sondern auch nach Verständnis.

Es war kaum auszuhalten, so sehr hatte sich Magnus' leerer Magen verkrampft.

Magnus hörte plötzlich Schritte. Schlurfende Schritte.

Sein Herz machte einen erneuten Satz, obwohl es fast schon weh tat, das Gefühl von Vorfreude in sich zu spüren.

Durfte er sich freuen? Nach all dem, was er getan hatte?

Magnus wusste nicht, ob ihm Freude oder Glück oder sonst irgendein gutes Gefühl zustand.

Nein, vermutlich nicht.

Doch heute erlaubte er sich eine Ausnahme.

Das hieß aber noch lange nicht, dass er auch den Schein fallen lassen würde.

Er wollte sich nicht zerbrochen und als Schatten seines früheren Selbst seiner Familie präsentieren.

Magnus war sich aber fast sicher, dass er durchschaut werden würde.

Zum ersten Mal seit Monaten fragte er sich plötzlich, was sein Vater von ihm halten würde, wenn er ihn jetzt vor sich sehen könnte.

Schnell verdrängte Magnus diese Frage wieder und zwang sich dazu, seinen Vater aus seinem Gedächtnis zu löschen.

Zumindest für den Moment.

Als die Tür sich schließlich langsam - und knarrend, wie man es von einem alten Haus erwarten würde - öffnete, schluckte Magnus schwer und zwang sich dazu, munter und glücklich zu wirken.

"Entschuldigung, kennen wir uns?"

Vor ihm stand seine Grandma. Ihr weißes Haar wirkte noch weißer als zuvor, doch ihr Gesicht war, trotz ihres hohen Alters, noch erstauntlich glatt.

So wie früher.

Ihre grünen, trüben Augen wirkten etwas abwesend, doch funkelten misstrauisch.

Magnus schluckte erneut. Es war, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen weg ziehen.

Erkennt sie mich wirklich nicht?, fragte er sich und spürte einen stechenden Schmerz in seiner Brust.

Allerdings konnte er ihr es nicht verübeln, wenn sie ihn wirklich vergessen hatte.

Schließlich hatte Magnus selbst auch nie an seine Grandma gedacht.

Zitternd holte er Luft. Langsam, angestrengt. Als wäre es etwas Mühsames.

Es war die reinste Qual Luft zu bekommen, wenn man an das Gewicht dachte, das auf seinen Lungen lag.

"Ich bin's, Grams.", bekam er heraus. Seine eigene Stimme hörte sich fremd und gleichzeitig vertraut an. "Magnus."

Er schluckte. Wollte warten, bis sie antwortete. Doch sie tat es nicht.

"Erinnerst du dich nicht an mich?", fragte Magnus sie und spürte brennende Verzweiflung in sich.

In seiner Stimme hörte er eine Dringlichkeit, die ihn beschämte.

Es tat weh ihren ratlosen Blick zu spüren.

Noch mehr Verzweiflung und noch mehr Selbsthass breitete sich in ihm aus.

Plötzlich hörte er weitere Schritte. Energische Schritte.

Kurze Hoffnung flackerte in ihm auf, doch er erstickte sie sofort wieder.

Er verdiente keine Hoffnung.

Seine Knie zitterten, genauso wie seine Hände und sein Atem.

Er fühlte sich krank und schutzlos.

Wie hatte er glauben können, dass er ausgerechnet hier für einen Moment durchatmen konnte?

Wie hatte er glauben können, dass seine Familie noch immer hinter im stand?

Übelkeit stieg ihm die Speiseröhre hinauf und er konnte Galle in seiner Mundhöhle schmecken.

Als seine Augen dann plötzlich zwei braune Augenpaare trafen, begann für einen Moment alles zu schwanken.

Schwindel erfasste ihn.

Er blinzelte heftig, versuchte sich zu fassen und es gelang ihm sogar, wenn auch sehr mühsam.

Es kostete ihn fast seine ganze Energie.

"Magnus?!", hörte er zwei Stimmen völlig synchron ausrufen und er presste die Lippen fest zusammen.

Seine Augen brannten verdächtig, doch er zwang sich dazu, den Blick zu halten.

In seinem Inneren herrschte ein verworrenes Chaos aus Gefühlen, Erinnerungen und Gedanken.

Magnus schluckte schwer und versuchte es mit einem kleinen Lächeln.

Es verrutschte leicht. Ihm war schon längst bewusst, dass er den Schein vor diesen beiden Personen nicht halten konnte.

Nicht vor den Personen, die ihn am besten und längsten kannten.

"Geht es dir gut? Ist etwas mit Alec?"

Izzy.

Das Brennen in seinen Augen wurde schlimmer und sein Herz zog sich so heftig zusammen, dass ihm kurz Schwarz vor Augen wurde.

Er wich ihrem Blick aus.

Allein Alecs Namen zu hören, fühlte sich an wie Folter.

Allein die Erinnerung, was er dieser besonderen Person mit diesem Namen an tat...

Magnus blinzelte wieder heftig.

Sein Blick begegnete dem anderen braunen Augenpaar.

Mom.

Ein noch heißerer Schmerz durchströmte seinen Körper.

Die Sorge und Enttäuschung in ihren Augen zu sehen, war wie Säure, die sein Inneres langsam zerfraß.

Magnus schnappte nach Luft. Versuchte einen zusammen hängenden Satz zu bilden.

Er spürte plötzlich eine leichte Berührung .

Magnus senkte den Blick auf die Finger, die über den Stoff seiner dünnen Jacke strichen.

Er war so kurz davor zusammen zu brechen. Er war so kurz davor sich selbst aufzugeben.

"Magnus, was hast du getan?", fragte ihn Izzy. In ihrer Stimme hörte er erschrockene Furcht.

Magnus befeuchtete nervös seine trockenen Lippen. Noch immer lag sein Blick auf den Fingern, die sich jetzt um sein Handgelenk legten.

Es waren die Finger seiner Mutter.

Sie strahlten eine vertraute Wärme aus, die Magnus' Knie noch weicher werden ließen.

Er fühlte sich schwach. Und müde - so unbeschreiblich müde.

"Lass ihn doch erst einmal ankommen, Isabelle.", hörte er dann die mahnende Stimme seiner Mutter.

Izzy senkte beschämt den Blick.

Sie hatte schon immer unheimlich Respekt vor Magnus' Mom gehabt.

Mrs Bane sah Magnus jetzt direkt in die Augen. In ihrem Blick lag leichter Argwohn, aber auch Hoffnung.

Magnus schluckte schwer. Er hatte sie enttäuscht. Im Stich gelassen, obwohl er ihre jeden Monat über die Hälfte seines Einkommens gegeben hatte.

Er konnte trotzdem nicht glauben, dass sie ihn einfach wieder weg schickte.

Obwohl er das eigentlich verdient hätte.

"Möchtest du rein kommen?", hörte er ihre Stimme wie aus weiter Ferne.

Magnus' Blickfeld verschwamm für einen Moment, doch er zwang sich zur Konzentration und sein Blick klärte sich wieder.

Er wollte antworten, wollte seine Stimme erheben, doch es gelang ihm nicht.

Also nickte er einfach und wich ihren Blicken aus, als sie bei Seite traten, um ihn ins Haus zu lassen.

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