Magnus
Die Nacht hinterließ deutliche Spuren. Mit weniger als zwei Stunden Schlaf stand Magnus' um fünf Uhr morgens am Bahnsteig.
Unter seinen Augen färbten sich dunkle Schatten, die er selbst mit seinem neuen und auch teuren Concealer nicht richtig überdecken hatte können.
Er war selbst Schuld. Er hätte nicht immer wieder über den Anruf, Izzy, Alecs Schwester, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, und vor allem über Alec nachdenken sollen.
Erneute Unruhe erfasste ihn. Sein Magen grummelte.
Verärgert schaute er auf die große Uhr. Er hasste warten. Er hasste es abhängig zu sein.
Am liebsten würde er sich zu seinen gewünschten Zielen beamen können.
Als er schließlich zehn Minuten später im Zug saß, döste er sofort weg.
-
Pünktlich um sieben Uhr stand er zwei Stunden später vor dem großen Tor des Lightwood Anwesens.
Seine Hand zitterte stark als er den Arm nach der Klingel ausstreckte.
Sein Herz klopfte ihm vor Nervosität bis zum Hals.
Er hatte sich für diesen Tag weder vorbereitet, noch darüber nachgedacht, wie er sich gegenüber Alec verhalten sollte.
Sollte er so tun, als wäre nichts gewesen?
Schon als er darüber nachdachte, versetzte es ihn einen schmerzhaften Stich.
Gleichzeitig wusste er, dass es Alec gerade sowieso nichts bedeutete, da er sich ja wieder in seinem alten Zustand befand.
Diese Erkenntnis traf Magnus noch viel mehr. Er fühlte sich plötzlich so unendlich leer.
Er hatte gar keine andere Wahl. Er musste so tun, als hätte es diese Nacht und das Gespräch davor nicht gegeben.
Jedoch fasste er sich so gut es ging, straffte die Schultern, hob das Kinn und drückte, ohne noch weiter über die nächsten Stunden nachzudenken, auf die Klingel.
Nach wenigen Sekunden schob sich das Tor wie durch Geisterhand auf und Magnus trat unbeeindruckt auf das Grundstück.
Mit federnden Schritten lief er so gut gelaunt wie möglich über den Weg zum Haus und versuchte sich gleichzeitig innerlich von dem stechenden Schmerz, die Leere und all seinen Gefühlen abzukapseln.
Es gelang ihm besser als gedacht. Besser, als es in den letzten Tagen funktioniert hatte.
Erleichterung strömte durch seinen Körper und hob seine Laune.
Als er schließlich vor der beeindruckenden Haustür ankam und Beth ihn mit einen freundschaftlichen Lächeln begrüßte, fühlte er sich ausgesprochen bereit.
"Beth.", begrüßte er sie überschwänglich und drückte sie fest an sich. "Wie geht es dir?"
Beth errötete leicht und schluckte. "Alles in Ordnung."
Magnus lächelte.
"Wusstest du, dass Alec eine Schwester hat?", fragte er dann mit gesenkter Stimme.
Sein Herz machte wie gewohnt einen riesigen Satz in die Luft als er Alec erwähnte.
Innerlich rollte er genervt mit den Augen, von außen ließ er sich nichts anmerken.
Beths Gesichtszüge wurden sofort ernst und sie sah sich vorsichtig um.
Dann nickte sie kaum merklich. "Sie ist seit gestern aus New York zurück."
So weit war ich auch schon, dachte Magnus etwas sarkastisch.
"Wieso ist sie hier her gekommen?"
Beth zog eine Augenbraue hoch und sah Magnus an, als hätte er die offensichtlichste Frage der Welt gestellt.
Magnus befiel das Gefühl, dass er genau das getan hatte.
Er ließ sich nichts anmerken.
"Was würdest du denn tun, wenn du wüsstest, dass dein kleiner Bruder in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde?"
Magnus seufzte. Er hatte verstanden, auf was Beth hinaus wollte. "Okay, aber wieso ruft sie ausgerechnet mich an?"
Beth zuckte mit den Schultern. "Julia ist schon immer eine Frau gewesen, die alles selbst in die Hand nimmt. Sie ist mit 18 nach Amerika ausgewandert und besitzt jetzt dort eine Firma, die im Jahr Millionen verdient. Sie ist mittlerweile 25."
Überrascht aber auch etwas ungläubig zog er eine Augenbraue nach oben. "Wow. Ich hätte zu gerne Maryse und Roberts Gesichter gesehen."
Beth schmunzelte. "Du wirst Julia mögen. Sie ist toll."
Magnus zuckte unbeholfen mit den Schultern und machte einen weiteren federnden Schritt auf die Haustür zu.
"Ich glaube, Maryse und Robert warten da drin auf mich. Bis später."
Beth nickte und machte ihm wie gewöhnlich die Tür auf.
Sofort pochte ihm das Herz bis zum Hals. Seine Finger zitterten als er seine Hände leicht zu Fäusten ballte.
Immer wieder sagte er zu sich selbst, dass er ruhig bleiben sollte.
Bis er schließlich von Beth ins Wohnzimmer geführt wurde und er direkt mit sechs erwartungsvollen Augenpaaren konfrontiert wurde.
Als er den Professor sah, kam Magnus die Galle hoch.
Maryse und Robert dagegen schenkte er ein strahlendes Lächeln und ließ sich in einen Sessel fallen, wo er die elegant Beine überschlug.
Alecs Eltern starrten ihn für einen Moment fasziniert an.
Fast hätte Magnus gelacht, wenn er nicht dem Blick des Professors begegnet wäre.
Dessen Augen strahlte eine so offensichtliche Feindseligkeit aus, dass Magnus nur die Augenbrauen heben konnte.
Letztendlich drehte er den Kopf und sah Maryse und Robert an. "Wie geht es Ihnen? Wir haben uns ja ein Ewigkeit nicht mehr gesehen."
Robert lächelte belustig, während Maryse leicht errötete.
"Wir sind so erleichtert, dass es Alec besser geht.", meinte Alecs Mutter schließlich und sah ihren Mann in die Augen.
Dieser fing zustimmend an zu nicken.
Magnus dagegen hatte das Gefühl jeden Moment sich übergeben zu müssen.
Nie im Leben ging es Alec besser.
Das würden sie sehen, wenn sie sich für ihren Sohn endlich mal interessieren würden.
Dennoch zwang er sich zu einem aufrichtigen Lächeln. Seine Unterlippe zuckte leicht.
"Das freut mich.", setzte er hinzu, aber eigentlich tat er das genaue Gegenteil.
Plötzlich räusperte sich der Professor und richtete sich etwas auf.
Magnus' Körper spannte sich augenblicklich an. Seine Hände, die auf seinem Schoß lagen, presste sich fester an seine Oberschenkel.
"Ich möchte über Ihre zukünftige Arbeit hier sprechen."
Maryse und Roberts freundliche Miene verschwand augenblicklich.
Leichte Angst und Panik kroch Magnus die Kehle hinauf.
Er wüsste nicht, was er tun würde, wenn der Professor entschied, ihn von diesem Fall abzuziehen.
Er konnte sich nicht einmal vorstellen, nicht mehr hier zu arbeiten, obwohl ihm einige Dinge gehörig gegen den Strich gingen.
Allerdings ging es aber auch um Alec. Magnus war sich sicher, dass sich Alec mittlerweile so an ihn gewöhnt hatte, dass er sich es auch traute, sich gegenüber ihn etwas mehr zu öffnen.
Magnus schob es auf die Art, wie er Alec behandelte, wieso dieser ausgerechnet bei ihm alle Erwartungen sprengte.
Magnus konnte nicht sagen, dass ihn das nicht irgendwie stolz machte, denn es machte ihn um ehrlich zu sein wahnsinnig stolz!
Aber es berührte ihn auch auf eine Weise, die in ihm all diese flattrigen Gefühle hervor rief, die er noch immer nicht genau deuten konnte.
Ihm war durchaus bewusst, was es bedeutete, wenn man solche Gefühle in sich hatte, jedoch war es hier etwas völlig anderes.
Magnus wollte Alec richtig kennen lernen. Und das konnte er erst, wenn sich dessen Zustand gebessert hatte.
So, dass Alec nicht mehr so leicht in seine andere Persönlichkeiten zurück fallen konnte.
"Ich halte es für das Beste, wenn Sie für eine Weile hier einziehen. Alec braucht nun wirklich rund um die Uhr jemanden, an den er sich wenden kann."
Magnus' Herz blieb für mindestens eine Sekunde lang stehen.
Überrascht starrte er seinen Boss an. Damit hatte er ganz sicher nicht gerechnet.
"Magnus, Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Ich weiß, Ihre Familie..."
"Nein.", unterbrach Magnus Maryse entschlossen. "Ich mach's."
Erstaunt sahen sich die Lightwoods an, während der Professor keinerlei Reaktion zeigte.
Magnus wüsste zu gern, was im Kopf seines Bosses gerade los war.
"Maryse und Robert haben ein kleines Apartment für Gäste im dritten Stock. Dort können Sie wohnen."
Maryse nickte. "Beth hat für Sie alles vorbereitet. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wie zu Hause fühlen."
Magnus nickte dankbar.
Allerdings ging ihm eine Sache nicht aus dem Kopf. Etwas, das Alec betraf.
"Die Überwachungskameras in Alecs Wohnung sind unnötig. Sie sollten ausgebaut werden."
Die Lightwoods sahen den Professor fragend an.
"Die Überwachungskameras sind für Alecs Sicherheit da, Magnus. Wenn wir nicht gesehen hätten, was Alec im Badezimmer tun wollte, dann wäre er jetzt tot."
Magnus zuckte heftig zusammen. Sofort sah er wieder Alecs verbundene Handgelenke vor sich.
Ein heftiger Schmerz pochte in seiner Brust.
Nur mit Mühe konnte er seine Gedanken davon abwenden. Der Schmerz jedoch blieb und erinnerte ihn jede Sekunde daran, was er Alec zugemutet hatte.
Nie wieder würde er auf Izzys Ideen hören.
"Wie soll sich Alecs Zustand jemals bessern, wenn er weiß, dass er Rund um die Uhr gefilmt wird? Er ist auch ein Mensch. Er braucht genauso Privatsphäre wie jeder andere auch. Man kann nicht gesund werden, wenn man sich in seiner eigenen Wohnung nicht wohl fühlen kann, weil man weiß, dass jeder einzelne Schritt überwacht wird. Mich würde es nur noch verrückter machen."
Die Miene des Professor bekam eine nachdenkliche Note, was Magnus wirklich überraschte.
"Ich schalte die Kameras aus."
Magnus schüttelte den Kopf. "Er darf sie nicht mehr sehen. Sie müssen abgebaut werden."
Maryse sah den Professor besorgt an "Ist das eine gute Idee, Dr. Bruce?"
Der Professor sah Magnus mit einem stechenden Blick an. Magnus hob herausfordernd das Kinn.
"Wenn Alec etwas passieren sollte und wir es nicht sehen können, weil es keine Kameras mehr gibt, liegt die Verantwortung ganz allein bei ihm." Sein Boss sah Magnus in die Augen.
Magnus presste seine Kiefer fest zusammen. Er hatte verstanden, auf was der Professor hinaus wollte.
Er wandte sich an Alecs Eltern und sah dabei Maryse direkt in die Augen.
"Ich trage Alecs Verantwortung. Falls ihm etwas passieren sollte, werde ich die Folgen vollständig dafür tragen. Ich bin für ihn verantwortlich und ich werde alles dafür tun, dass Sie Ihren Sohn wieder zurück bekommen. Das verspreche ich Ihnen."
Er meinte es genauso wie er es sagte.
Zu viel hatte er Alec zugemutet, um sich jetzt nicht für ihn einzusetzen.
In Maryse Augen spiegelten sich Tränen wider, als sie sich zu ihm vor beugte und seine Hand nahm.
"Danke. Sie haben keine Ahnung, wie viel es mir - uns - bedeutet, dass Sie hier sind, Magnus. Alec hat sich jetzt schon so sehr verändert. Die Ärzte sagen, dass es ihm besser geht. Es ist möglich, Magnus. Sie müssen nur an ihn glauben."
Magnus hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie eigentlich diejenige sein sollte, die an Alec am meisten glauben sollte. Schließlich war sie seine Mutter.
Und auf das, was die Ärzte sagen, gab er sowieso keinen Pfennig. Er wollte es mit eigenen Augen sehen.
"Julia ist gerade bei Alec. Sie können zu ihm, wenn Sie wollen. Außerdem will meine Tochter Sie kennen lernen."
Magnus lächelte Robert betont freundlich an und nickte.
Sein Herz schlug schneller als es sollte und erneute Nervosität ergriff ihn.
Vor allem, weil er Julia persönlich kennen lernen würde.
Also stand er auf und nickte allen noch einmal kurz zu und machte sich auf den Weg zu Alec.
-
Als er im Fahrstuhl stand, fühlte er wie er sich etwas beruhigte.
Immer, wenn er in diesem Fahrstuhl stand, befiel in eine Ruhe, die er jedes Mal erleichtert in Empfang nahm und in sich speicherte.
Mit leichten Schritten schritt er über die Schwelle als sich die Türen öffnete.
Das erste, was seine Augen aufnahmen, war eine junge Frau, die auf seinem Stuhl saß.
Schon allein beim Anblick ihres Profils, sah Magnus, wie schön sie war.
Jedoch wandte er den Blick recht schnell von ihr ab und sah sich in der Wohnung hinter der Plexiglasscheibe suchend nach einer gewissen Person um.
Alec saß auf der Couch, wie immer.
Sofort stahl sich ein Lächeln auf Magnus' Lippen als Alecs Blick auf ihn fiel.
Magnus sah, dass sich etwas ganz, ganz Kleines in Alec regte, als dieser ihn stumm musterte.
Seine Augen waren zwar nicht klar, jedoch ähnelten sie keinem aggressiven Wirbelsturm, so wie sonst.
Und er sah verdammt gut aus.
Seine dunklen, fast schwarzen Haare waren wie immer etwas verwuschelt und einzelne Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn.
Magnus schluckte schwer und versuchte sein wild klopfendes Herz zu ignorieren.
Alecs Gesicht war schmal, seine Wangen leicht eingefallen, doch seine Augen leuchteten so sehr, dass in Magnus Dinge ausgelöst wurden, die so überwältigend waren, dass er sie nicht beschreiben konnte.
Jedoch musste er sich von diesem Anblick los reißen, denn die junge Frau, die zuvor Alec angesehen hatte, starrte jetzt zu ihm rüber.
Magnus blieb fast der Mund offen stehen, als er in das strahlende blau ihrer Augen sah.
Das dunkelbraune, leicht rötliche Haar ging ihr bis zur Brust und glänzte im Licht.
Ihre Augen bildete einen atemberaubenden Kontrast zu ihrem Haar und der leicht blassen makellosen Haut, die Alecs ähnelte.
Magnus versuchte sich seine Faszination nicht zu sehr anmerken zu lassen und straffte die Schultern.
Mit eleganten Schritten näherte er sich ihr und blieb schließlich neben ihr stehen.
"Sie sind Magnus Bane." Ihre Stimme hatte einen erdigen und warmen Ton, der Magnus sehr gefiel.
Magnus lachte. "Der einzig wahre."
Julia lächelte verschmitzt. "Ich bin Julia, Alecs Schwester."
Magnus nickte und beobachtete Alec. "Ich weiß."
Julia musterte ihn von der Seite.
Obwohl er so müde war, hatte er alles dafür getan, dass er gut aussah.
Trotz der Schatten unter seinen Augen saß sein Make-up perfekt, genauso wie seine Kleidung.
Er wusste, dass er gut aussah, selbst wenn jemand das Gegenteil behaupten würde.
"Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er hat sich so sehr verändert."
Magnus sah sie überrascht an. "Inwiefern?"
Er war überrascht, dass Julia so normal klang. Beth hatte ihm doch erzählt, dass sie eine Frau war, die wusste, was sie wollte.
Magnus hatte mehr erwartet, um ehrlich zu sein.
"Er wirkt viel älter. Er ist 19, aber sieht aus wie Mitte 20. Das, was er durchmacht, hat ihn so sehr gezeichnet. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mit ihm tauschen."
Magnus befiel eine seltsame Art von Traurigkeit. Er wusste ganz genau, wie sich Julia fühlte.
"Ich weiß, was Sie meinen. Er hat es nicht verdient. Niemand verdient so etwas." Er zeigte auf das Plexiglas.
Julia seufzte. "Ich habe ihnen damals gesagt, dass es keine gute Idee ist. Sie haben natürlich nicht auf mich gehört."
Magnus schüttelte tadelnd den Kopf. "Manchmal würde ich ihn so gerne aus diesem Haus heraus holen. Er verpasst sein ganzes Leben."
Julia nickte nachdenklich. "Ich bin froh, dass ich nicht die Einzige bin, die so denkt."
Magnus lächelte sie an. "Ich verspreche Ihnen, dass es ihm besser gehen wird. Ich werde alles dafür tun, dass es ihm besser geht."
Julia lächelte traurig zurück und sah wieder zu ihrem Bruder.
Seine Hände spielten mit seinem Pullover. Er wirkte wieder so abwesend.
Magnus' Herz füllte sich mit Wehmut und Traurigkeit.
Er versprach dieser ganzen Familie, dass er Alec helfen würde, doch eigentlich hatte er keinen richtigen Plan, wie er das schaffen sollte.
Er wusste nur, dass Alec Gesellschaft und Zuwendung brauchte und sich ihm gegenüber am schnellsten öffnete, egal in welchem Zustand er sich befand.
Darauf würde er letztendlich aufbauen müssen.
Plötzlich kam ihm eine Idee.
"Können Sie mir dabei helfen?"
Julia sah ihn überrascht an. "Bei was?"
"Alec vor sich selbst zu retten."
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