Kapitel 9

"Na, hast du ein bisschen über den Durst getrunken?", erkundigte sich Basti, als er mich am Morgen im Bad vor unserer Kloschüssel vorfand. Die Duftwolke meines halbverdauten Essens von gestern Abend breitete sich im Raum aus.

Ich fühlte mich elend wie nie zuvor. Dabei hatte ich heute noch nicht einmal etwas gegessen, doch der Würgereflex wollte einfach nicht aufhören.

"Eigentlich nicht", nuschelte ich geschwächt. "Zwei Gläser Sekt und ein Hugo. Aber mehr nicht."

Normalerweise vertrug ich deutlich mehr.

"Sieht aber anders aus", sagte Basti sichtlich zweifelnd und blickte mich verurteilend an.
"Vielleicht war es das Sushi, das wir bestellt haben?"
Kritisch zog er eine Augenbraue hoch.
"Du isst doch eh nur Sushi ohne Fisch. Ich bezweifle, dass man von Reis und getrockneten Algen eine Lebensmittelvergiftung bekommt. Gib es doch wenigstens zu, dass du zu tief ins Glas geschaut hast. Wäre ja nicht das erste Mal."

Ich hatte gar keine Gelegenheit mich über seinen Kommentar aufzuregen, denn wieder würgte ich und hielt meinen Kopf über die Kloschüssel. Doch es kam nichts. Mein Kopf war ganz heiß, mein Nacken schwitzig. Ich war schlapp und so müde, als hätte ich das letzte Mal vor einem Monat geschlafen.

Ich hörte Basti seufzen. War da etwa doch ein wenig Mitleid irgendwo in ihm versteckt?

"Soll ich dir einen Tee machen? Oder eine Aspirin holen?"

Ich riss ein Stück Toilettenpapier ab und wischte mir den Mund ab. Ich war von mir selbst angewidert.

"Ich habe keine Kopfschmerzen und Tee bekomme ich im Augenblick auch nicht runter", murmelte ich und lehnte mich wieder gegen die Fliesen. "Aber danke."

"Gut, dann kann ich dir wohl auch nicht helfen. Das nächstes Mal vielleicht einfach ein bisschen weniger trinken. Soll bekanntlich helfen."

Mit diesen Worten verließ er wieder das Badezimmer und ließ mich in meiner zusammengekauerten Stellung zurück.

Ich hatte wirklich nicht viel getrunken!

Es dauerte ein wenig bis in meinen Kreislauf ein wenig Stabilität zurückkehrte. Das Aufstehen war trotzdem mühsam und mit einem drehenden Sternenhimmel um mich herum verbunden. Wankend schleppte ich mich ins Schlafzimmer, während Basti die Couch eingenommen hatte. Sicherheitshalber nahm ich mit unseren Putzeimer mit und stellte ihn mir neben das Bett.
"Ich habe dir ein Glas Wasser auf den Nachttisch hingestellt", rief er auf dem Wohnzimmer heraus. "Falls du es dir anders überlegst, liegt auch noch eine Aspirin da."

"Danke", murmelte ich und setzte mich vorsichtig auf mein Bett. Mein Blick fiel auf das Buch Die Weihnachtsgans Auguste. Ich wusste, was dort drin war. Es hätte schon im längst im Müll liegen sollen. Doch ich hatte es einfach nicht über mein Herz gebracht und ich wusste nicht einmal warum. Dieser Fotostreifen bedeutete mir mehr als er sollte.

Sicherheitshalber sah ich noch einmal ins Wohnzimmer. Basti war vollkommen auf den Fernseher fixiert.

Ich zog das Buch aus dem Regal und öffnete es. Sofort hatte ich die Seite mit dem Foto aufgeschlagen. Auf den ersten drei Bildern sah ich so glücklich aus. Man könnte wirklich meinen, wir wären ein frisch verliebtes Pärchen. Ich trug dieses wundervolle Samtkleid und meine Haare hatten noch den perfekten Halt gehabt. Selten hatte ich so gut ausgehen. Doch am besten stand mir das glückliche Lächeln auf den Lippen, welches schon viel zu lange verborgen gewesen war.

Und dann war da dieses vierte Bild, das mein Herz in Flammen aufgehen ließ. Ich konnte nicht abstreiten, dass es ein wundervoller Moment gewesen war. Finn konnt verdammt gut küssen und er hatte trotz des langen Abends noch immer wie ein Frühlingsmorgen gerochen. Ich hatte es so sehr genossen, auch wenn ich im ersten Moment geschockt gewesen war. Wenn ich ehrlich zu mir war, dann wollte ich mehr solche Momente. Ich hatte das tiefe Bedürfnis in mir drin, Finn erneut zu küssen.

Doch es war nicht nur dieser Fotostreifen in dem Buch. Schon vor 15 Jahren hatte dieses Buch als Versteck gedient. Damals noch vor meiner neugierigen Mutter.

Ich blättert ein paar Seiten weiter. Dort lag ein vergilbter Zettel. Es war schon Jahre her seitdem ich ihn das letzte Mal gelesen hatte. Auch ihn hätte ich besser weggeschmissen, doch ich hatte das nie übers Herz gebracht. Bis heute brauchte ich ihn als Beweis für das, was damals geschehen war.

Ich nahm den Brief in die Hände. So viele Erinnerungen waren an dieses Blatt Papier und die darauf gekritzelten Worte geknüpft. Sorgfältig faltete ich ihn aufeinander.

Es war die Krakelschrift des 16-jährigen Finn.

Ich konnte nicht widerstehen die Zeilen noch einmal zu lesen. Vermutlich schon zum hundertsten Mal.

Hallo Ilvi,

weißt du eigentlich wie hübsch du heute Abend aussiehst?

Wie du sicherlich gemerkt hast, habe ich heute das erste Mal richtig getrunken. Und es fühlt sich besser an, als gedacht. Und weißt du was: Betrunkene lügen doch nicht. Und deshalb schreibe ich dir jetzt auch die Wahrheit.

Ilvi, du bist die Beste. Die Hübscheste. Die Intelligenteste. Die Heißeste!

Ich bin verliebt in dich und zwar so richtig. Ich habe mich nie getraut es dir zu sagen, weil ich das Gefühl habe, einfach nicht gut genug zu sein. Du bist so perfekt und ich bin es nicht.

Aber der Alkohol gibt mir Mut diesen Brief zu schreiben und ich hoffe, dass ich ihn erfolgreich in deiner Jackentasche platzieren kann, ohne dass du es merkst. Ich will, dass du ihn erst zuhause findest, wenn du nach deinem Schlüssel greifst.

Ilvi, wenn du auch nur annähernd solche Gefühle für mich hast, wie ich für dich, dann komme noch heute Nacht um Mitternacht zur Brücke. Du weißt genau, welche ich meine. Ich will dich heute noch einmal sehen. Ich werde da sein und auf dich warten. Wenn du kein Interesse hast, ist es auch kein Problem. Dann komme einfach nicht und wir tun morgen in der Schule so, als hätte es diesen Brief nie gegeben und ich ihn nur im Rausch geschrieben. Das ist auch okay, auch wenn es mein Herz vermutlich in tausend Scherben zersplittern wird. Ich könnte dich ja verstehen. Du kannst bessere Jungs haben, als jemanden wie mich. Ich kann ja nicht mal Schlittschuhlaufen oder Skifahren oder eine zweite Sprache sprechen. Du kannst all das! Ich habe nicht die coolsten Klamotten und kann dir auch kein Liebeslied auf der Gitarre vorspielen. Aber vielleicht bin einfach ich ja genug?

Ach Ilvi, ich träume nachts sogar von dir. Mich hat es wirklich erwischt. Jede Zelle in mir betet gerade dafür, dass du heute Abend an der Brücke sein wirst. Aber ich will dich auch nicht unter Druck setzen. Ich weiß ja, dass du nach Mitternacht nicht mehr raus darfst.

Ich würde mich trotzdem wirklich freuen, denn du bist ein so besonderes Mädchen und ich kann mir nicht vorstellen, jemals in ein anderes Mädchen so verliebt zu sein.

Bis nachher!
Dein Finn

Ich war in dieser Nacht hingegangen, doch was mich dann erwartet hatte, sollte mein Leben für immer verändern. Ich hatte Finn nicht einmal gesehen. Ich wusste nicht einmal, ob er wirklich da gewesen war.

Das einzige, was ich wusste, war, dass wir danach so taten, als hätte der Brief nie existiert. Bis heute wusste ich nicht, ob er manchmal noch so fühlte oder ob er es wirklich nur im Rausch geschrieben hatte. Vielleicht wusste er nicht einmal mehr von dem Brief. Doch ich hatte ihn vergessen können. Wie auch? Ich wäre deshalb beinahe gestorben. 

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